Lesedauer: 8 Minuten
Das Jahr ist noch nicht einmal halb zu Ende und doch hat sich die Welt so rasch verändert wie lange nicht. Ein aggressives Virus hält weite Teile der Erde weiter in Atem. In mehreren Ländern drohen die Gesundheitssysteme zusammenzubrechen, es herrscht Not, Armut, Hunger. Deutschland ist im Vergleich zu anderen Nationen bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Auch hierzulande liegt die Zahl der Todesopfer erschreckend hoch, vor einem generellen Kollaps stand unser Land aber nicht. Die getroffenen Maßnahmen kamen zwar spät, aber sie kamen. Zwischenzeitlich finden sie die Zustimmung von weit mehr als der Hälfte der Bürgerinnen und Bürger im Land. Doch Umfragen sind leider nur Umfragen. Reden und Handeln der Leute sind in dieser Angelegenheit nicht kongruent.
Ein Jahr, zwei Realitäten
Deutschland im Juni 2020: Das Land ist weiterhin im Ausnahmezustand. Maskenpflicht, Abstandsgebote und eine eingeschränkte Infrastruktur bestimmen trotz deutlicher Lockerungen das öffentliche Leben. Die Gastronomie erholt sich nur schleppend von dem generellen Lock-down ihrer Geschäfte, Solo-Selbstständige bangen um ihre Existenz, viele andere Beschäftigte weilen weiter in Kurzarbeit. Bei anderen haben die drastischen Maßnahmen trotz aller Bemühungen nicht gewirkt: sie sind am Coronavirus erkrankt, müssen ins Krankenhaus, manche ringen mit dem Tode.
Auch Deutschland im Juni 2020: Menschen drängen sich dicht an dicht auf öffentlichen Plätzen, sie führen im Zug nur zu Alibizwecken eine Maske mit sich, manche feiern wilde Corona-Partys. Das warme, sommerliche Wetter kann seine Wirkung auf das Virus so nicht voll entfalten. Ein Einbruch bei den Neuinfektionszahlen steht weiterhin aus. An so etwas wie einen Normalzustand ist im Gesundheitswesen weiter nicht zu denken.
Beide Bilder passen so gar nicht zueinander. Es ist, als würde man zwei unterschiedliche Welten betrachten. Der Unterschied geht weiter auseinander als es sonst zwischen Theorie und Praxis üblich ist. Denn die weiterhin viel zu hohen Infektionszahlen, die Selbstständigen mit krassen finanziellen Einbußen und die Oma, die ihre Enkel vor Gezeiten das letzte Mal gesehen hat – das ist viel mehr als reine Theorie. Es ist die Wirklichkeit.
Allein gegen alle
Angesichts dessen, dass zwei Drittel der Deutschen die Maßnahmen gegen das Coronavirus als genau richtig bewerten, ist es schon verwunderlich, dass im Juni, also im dritten Monat in Folge, weiterhin relativ strenge Maßnahmen gelten. Und das obwohl sich doch zwei Drittel der Menschen so brav an die Verordnungen und Vorschriften halten. Aber Moment! Wieder gibt es einen himmelweiten Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Viele Menschen behaupten einfach nur, dass sie die Maßnahmen richtig finden. Ihr Handeln entspricht dem leider nicht immer.
Denn wenn zwei Drittel die Maßnahmen tatsächlich aus voller Überzeugung mittragen, dann bleibt noch ein Drittel übrig, welches die Maßnahmen entweder total doof findet oder als viel zu lasch einschätzt. Jene, die die Vorkehrungen als übertrieben ansehen, dürften also nicht mal ganz ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Trotzdem gehört der typische Falschträger zum Bild, wenn man heute einkaufen geht, mit der Bahn fährt oder einen Brief bei der Post aufgibt.
Es ist beinahe zum Verzweifeln. Man hat das Gefühl, man sei der einzige, der die Maßnahmen korrekt einhält. Und genau das denken die notorischen Falschträger auch: dass sie die einzigen sind. Was macht es denn, wenn ich die Maske heute ausnahmsweise mal nicht über die Nase ziehe? Als ob ich dann jemanden anstecken würde. In China fällt ein Sack Reis um (und vermutlich gleich noch ein Corona-Kranker hinterher). Diese Menschen sind unfähig dazu, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Sie verlassen sich einzig auf die anderen. Ist doch nicht mein Kampf, sollen andere den doch führen. Und genau das tun sie. Die Richtigträger kämpfen gegen Corona. Die Hygienedemonstranten und Totalverweigerer kämpfen gegen die massiven Einschränkungen. Falschträger allerdings kämpfen gar nicht. Sie haben schlicht keinen Arsch in der Hose.
Ordnungsfeind Mensch
Gerade jetzt hört man einen Satz besonders oft: „Bitte achten Sie auf sich und andere!“ Die gute Nachricht: Der Satz ist total lieb gemeint. Die schlechte Nachricht: Aufeinander Acht geben hat schon zu Normalzeiten nicht geklappt. Die einfache Regel „Zuerst aussteigen lassen, dann einsteigen“ wird auch während Corona munter weiter gebrochen. Als hätten die Menschen panische Angst davor, der besonders gehässige Zugfahrer lässt die Zugtüren genau in dem Moment zuschlagen, wenn der letzte Fahrgast ausgestiegen ist. Wie Mäuse auf der Flucht quetschen sich viele auch in der derzeitigen Situation unter den triefend nassen Achselhöhlen ihrer Mitmenschen ins Zugabteil hinein. In einer ungesunden Mischung aus Grenzdebilität und aufgestautem Sexmangel verdrängen sie, dass die Welt seit Monaten von einem aggressiven Virus heimgesucht wird.
Dabei macht es der Staat seinen Bürgen doch spielend einfach. Die geltenden Maßnahmen sind doch wirklich kein Hexenwerk. Niemand muss studiert haben, um in geschlossenen, nicht-privaten Räumen eine Maske zu tragen. Es bedarf keiner geistigen Glanzleistung, die rechte Tür als Eingang und die linke als Ausgang zu benutzen. Anscheinend ist der Mensch aber doch nicht so ordnungsliebend wie ihm immer nachgesagt wird. Denn bereits vor Corona kamen die Menschen regelmäßig auf der falschen Seite die viel zu breite Treppe heruntergerauscht. Anscheinend fahren sie so aber zum Glück nicht Auto, sonst wären sie heute ja gar nicht mehr da. Immer deutlicher wird: Wo sich der Ellbogen etabliert hat, da hat Rücksicht keine Chance.
Kopflosigkeit mit Folgen
Doch zurück zu den Zahlen und Fakten: Die meisten werden vermuten, dass aktuell von den Hygienedemonstranten die größte Gefahr ausgeht. Tatsächlich versuchen Verschwörungstheoretiker sämtlicher Couleur nach Kräften, das Vertrauen in Regierung und Rechtsstaat auszuhöhlen. Sie zeichnen eine Rechtlosigkeit und Willkür, die es so nicht gibt. Doch die eigentliche Gefahr geht von all den Menschen aus, die die Gesundheit anderer fahrlässig auf’s Spiel setzen. Die konsequent nicht verstehen wollen, warum der Stofffetzen Mund-Nase – Schutz heißt.
Es ist doch überhaupt kein Wunder, dass die Zahl der ablehnenden so gering ist, wenn die übergroße Zahl derer, die die Maßnahmen tatsächlich ablehnen, nicht dazu steht. Man soll ja fair bleiben: vielen der chronischen Falschträgern geht es gar nicht um ein Statement. Sie sind sich einfach der Konsequenzen ihres Handelns überhaupt nicht bewusst. Sie begreifen nicht, dass sie durch ihr konsequentes Verweigern zum Stellungbeziehen den wirklichen Gegnern enormen Vorschub leisten. Denn wer die Maßnahmen zu lax handhabt, der sorgt indirekt zu steigenden Infektionszahlen und damit zu stärkeren Eingriffen. Letztendlich ist das Wasser auf die Mühlen derer, die auch noch das letzte bisschen Vertrauen in die Menschlichkeit auslöschen wollen.
Ja aber nein
Viel zu lange hat man es sich in einer Gesellschaft des Wegsehens und des Aussitzens bequem gemacht. Gegen Dinge ankämpfen oder für etwas einstehen – das ist schon lange aus der Mode. Wie in Trance sagen viel zu viele lieber Ja und Amen. Rechte Kräfte machen sich das perfide zunutze, indem sie behaupten, gewisse Dinge dürften heute nicht mehr bedenklos gesagt werden. Und es stimmt: viele Äußerungen sind mit enormem Widerspruch verbunden. Das wären sie vor zehn oder zwanzig Jahren aber auch schon gewesen, hätte jemand gewagt, sie auszusprechen.
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Wer alles immer nur abnickt, der hat nicht nur verlernt, abzulehnen, sondern auch Dinge gutzuheißen. Die angebliche Zustimmung verliert an Wert. Und deshalb behaupten so viele, die Maßnahmen gegen Corona wären genau richtig. Sie können ja gar nicht zu hart oder zu lasch sein, sonst müsste man ja Stellung beziehen. Lieber nickt man gehorsam ab…und zieht die Maske runter, sobald der Kontrolleur weiterzieht.