Entfremdung auf Raten

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Der Parlamentarismus wird mehr und mehr zu einem Geschäftsmodell, einem attraktiven Arbeitsplatz. Der Fall Christian Lindner zeigt einmal mehr, dass sich viele Abgeordnete und Minister in der exklusiven Politblase einrichten und dabei völlig vergessen, wem sie eigentlich verpflichtet sind. Das setzt eine toxische Spirale in Kraft und Politiker und Wähler entfernen sich immer weiter voneinander. Ein Mehr an direkter Demokratie kann hier nachhaltig Abhilfe schaffen.

Ein verräterisches Dokument

Jetzt also doch: Das Aus der Ampel geht eindeutig auf das Konto von Christian Lindner. Mit einem sauber austarierten Schlachtplan wollten die Liberalen in selten revolutionärer Entschlossenheit die Ampelregierung überwinden. Der Plan scheiterte letztlich daran, dass ihnen sogar die Schnarchnasen von der SPD zuvorkamen. Irgendwie muss Kanzler Scholz von den Plänen Wind bekommen haben – oder er hat einfach nur eingesehen, dass die Fortsetzung der Ampel ein heilloses Desaster für’s Land wäre – und schmiss seinen Finanzminister hochkant aus dem Kabinett.

Allen Unschuldbeteuerungen zum Trotz belegt jetzt das sogenannte D-Day – Papier, wie sich die FDP den Ausstieg aus der allseits verhassten Regierung vorgestellt hat. Mit militärischen Begriffen wie „Überraschungseffekt“ und „offene Feldschlacht“ wollte die FDP dem von den Grünen als „Übergangsregierung“ titulierten Elend endgültig den Garaus machen. Von all dem will der standhafte FDP-Chef nichts gewusst haben. Neuerdings behauptet er sogar, das Ausstiegspapier sei ein Erzeugnis von Praktikanten gewesen.

Ob aus der Feder übereifriger Praktikanten oder auf Anweisung der Parteispitze – noch nie in der Geschichte der Bundesregierung wurde von einer regierungstragenden Partei so abfällig über die eigene Arbeit gesprochen wie mit diesem Papier. Damit tragen die Autoren zweifellos zu einer Unterwanderung einer demokratischen Institution bei – und blasen dabei in das gleiche Horn wie die immer stärker werdenden Extremisten auf der rechten Seite.

Falsches Spiel

Mit seiner strikten Weigerung, politische Verantwortung für diesen beispiellosen Vorgang zu übernehmen, spielt auch Christian Lindner mit dem Feuer. Anstatt sich der Ernsthaftigkeit der Situation zu stellen, beteiligt er sich daran, die Demokratie noch ein Stück lächerlicher zu machen. Die FDP sieht Regieren wohl eher als Spiel, bei dem man sich beleidigt zurückziehen kann, wenn nicht alles nach den eigenen Vorstellungen abläuft.

Es ist bei einer solchen Herangehensweise ausgesprochen ungünstig, wenn man nicht weiß, wann ein Spiel verloren ist. Christian Lindner auf der einen Seite hat vom Exit-Papier nichts gewusst, es nie gelesen und nie in Auftrag gegeben. Sein Ex-Parteifreund Volker Wissing auf der anderen Seite klammert sich mit letzter Kraft an die Macht und darf seit Neuestem gleich zwei Ministerien auf einmal vergeigen. Diese machtpolitische Skrupellosigkeit verpasst dem würdelosen Schauspiel der FDP den letzten Schliff.

Korruption mit Tradition

Wieder einmal zeigen sich zwei Spitzenpolitiker von ihrer schlechtesten Seite. Im Moment der politischen Niederlage interessiert sie nur eines: Wer ist schuld am Zusammenbruch der Regierungskoalition? Sie beweisen damit ein weiteres Mal, wie fremd ihnen die Menschen im Land geworden sind. Denn die meisten von ihnen haben diesen Meta-Streit gehörig satt. Sie sehen in Politikern einen korrupten Haufen, dem Macht und Posten über alles geht.

Die noch amtierende Bundesregierung tut alles, um diesen Eindruck weiter zu verfestigen. Das schlecht inszenierte Ampel-Aus ist dabei nur das vorläufige Ende einer Reihe schwerer persönlicher Verfehlungen. Aber was will man auch von einer Regierung erwarten, deren Chef von leicht durchschaubaren Erinnerungslücken heimgesucht wird? Transparenz wurde bei der Ampel nie großgeschrieben. Die RKI-Files und die Verstrickungen von Herrn Lauterbach in diesen Skandal sprechen eindeutig für sich.

Doch Politiker gelten nicht erst seit Ampel-Tagen als korrupt und unehrlich. Mit ominösen Geldkoffern und Schmiergeldern haben auch schon andere politische Generationen ihre Erfahrungen gemacht. Immer wieder wird davon geredet, solche Fehltritte erschütterten das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. Das ist nicht ganz richtig. Sie zerstören den Glauben an sie.

Systemfehler

Politiker werden nicht zufällig korrupt und machtbesessen. Es liegt viel weniger an ihnen als Einzelpersonen; der Fehler ist vielmehr ins System eingewoben. Die meisten Minister, und teilweise selbst Abgeordnete, verfügen über viel zu große Spielräume, die förmlich zu Machtmissbrauch und ungehemmtem Lobbyismus einladen. Die gute Nachricht ist daher: Weil es sich um ein systemisches Problem handelt, lässt es sich ebenso systemisch beheben.

Es fehlt ein klares Gegengewicht zu dieser überwältigenden Machtkonzentration. Wenn die Bürgerinnen und Bürger stärker an den Entscheidungen beteiligt wären, dann fiele es Demokratie-Nestbeschmutzern wie Lindner, Wissing und Lauterbach deutlich schwerer, ihre egoistische Agenda durchzusetzen. Sie wären gezwungen, tatsächlich um ihre Anliegen zu kämpfen und sie vor der Bevölkerung zu rechtfertigen. In erster Linie müssten sie sich dazu aber mit der Lebenswirklichkeit ihrer Wähler auseinandersetzen und könnten dadurch bessere und klügere Entscheidungen treffen.

Die Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite hätten viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Sie würden dafür Sorge tragen, dass die beschlossenen Gesetze eher dem Mehrheitswillen entspricht als das jetzt der Fall ist. Durch direktdemokratische Elemente wie Volksabstimmungen oder -befragungen fühlten sich die Menschen im Land viel stärker mit den getroffenen Entscheidungen verbunden und übernähmen teilweise Verantwortung dafür. Denn auch das ist ein wichtiger Aspekt in einer Demokratie.

Das viel beklagte schwindende Vertrauen in die Demokratie könnte so zumindest gebremst werden. Weil die Wählerinnen und Wähler die Sicherheit hätten, an den Entscheidungen mitgewirkt zu haben, könnten extremistische Kräfte ihnen viel schwerer einreden, sie würden grundsätzlich übergangen werden. Und weil dennoch unterschiedliche Meinungen zum Tragen kämen, wäre aktives Engagement für viele attraktiver.


Seit Monaten gilt es unter Politikern als chic, seine Politik besser zu erklären. Das ist eine sehr einseitige Sichtweise. Es fehlt der Wille, der Gegenseite zuzuhören und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Es findet kein Entgegenkommen mehr statt. Dauert dieser Zustand zu lange an, hören auch die Wähler immer weniger zu und wenden sich schließlich ab. In der Folge richten sich beide Seiten in voneinander abgeschotteten Parallelwelten ein, die echte Demokratie immer schwerer möglich machen.

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