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Stammwähler haben ausgedient. Die Wahl einer bestimmten Partei ist für viele Wähler heute kein politisches Bekenntnis mehr. Die Wählerwanderung steht voll im Trend. Besonders deutlich wird das durch die sprunghaften Gewinne und Verluste von Parteien – Verdopplungen und Halbierungen innerhalb kurzer Zeit sind keine Seltenheit mehr. Was zunächst nach lebendiger Demokratie aussieht, zeugt von zunehmendem Vertrauensverlust der Wähler in die Parteien. Für die Demokratie wird das zunehmend zum Problem.
Unverhofft kommt oft
Totgesagte leben länger. Der Linken ist gelungen, was bis vor wenigen Monaten noch völlig ausgeschlossen schien: der Wiedereinzug in den Bundestag. Mit Heidi Reichinnek an der Spitze blieb es nicht bei einem lauwarmen Revival linker Ideen. Die Partei legte stattdessen ein kometenhaftes Comeback hin. Mit 8,8 Prozent hat sie sich im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 sogar fast verdoppelt.
Profitiert hat die Partei auf den letzten Metern von einer überaus charismatischen Frontfrau und einer medienträchtigen Kampagne gegen Rechtsaußen. Ohne die Empörung über die Migrationspolitik der Union und die Abstimmungen vom 29. und 31. Januar im Bundestag wäre die Linke mitsamt ihren Silberlocken nach der Bundestagswahl untergegangen.
Dabei sind stimmungsabhängige Erfolge von Parteien gar keine Ausnahme. Schon häufig verhalfen kontroverse Debatten oder Bewegungen Parteien zu ungeahnten Wahlerfolgen. Die Klimabewegung von vor rund sechs Jahren befreite die Grünen von der Einstelligkeit, während die Pegida-Demonstrationen und die Flüchtlingskrise das rechte Gedankenschlecht der AfD entfesselten.
Und auch für die Linke ist es das zweite Mal in ihrer Parteigeschichte, dass ihr ein Trend zugutekommt: Kurz nach Einführung der Hartz-Gesetze stieg auch schon vor zwanzig Jahren das Interesse an linker Politik. Das ist trotzdem kein Vergleich zu 2025: Der Wiederaufstieg in dieser Dimension ist bislang einzigartig. In so kurzer Zeit haben sich die Zustimmungswerte keiner Partei je verdoppelt.
Wahlkampf auf Augenhöhe
Seit Jahren bleibt es nicht bei einer Zurschaustellung von Umfragewerten oder Wahlergebnissen einzelner Parteien. Viel interessanter ist die Frage: Wo kommen die Wähler her und wo gehen sie hin? Das Modell der Wählerwanderung fußt darauf, dass immer mehr aussichtsreiche Parteien miteinander konkurrieren.
Währenddessen gleichen sich die Werte großer und kleiner Parteien bei Wahlen immer weiter an. Echte dominante Volkparteien gibt es schon lange nicht mehr. Die einst Starken haben deutlich an Rückhalt verloren und müssen sich heute mit Werten um die 25 Prozent zufriedengeben. Kleinparteien sehen währenddessen ihre Chance und erreichen Traumwerte von 15 Prozent und mehr. Das schlägt sich auch im Wahlkampf nieder: Zweikämpfe gehören der Vergangenheit an. Im Studio fachsimpeln heute mindestens fünf Personen um die Wette.
Stimmungsschwankungen
Der Trend verläuft aber mitnichten linear und auf keinen Fall ausgeglichen. Vor allem die mittelgroßen und kleinen Parteien unterliegen teils heftigen Schwankungen. Das Ausscheiden aus dem Bundestag ist heute nicht mehr zwingend der Todesstoß für eine Partei. Die FDP hat dabei besondere Freude am Rein-Raus – Spiel entdeckt. Während Christian Lindner seine Partei 2017 vor der Bedeutungslosigkeit rettete und zweistellig wieder in den Bundestag führte, hat er auch ihren erneuten Rauswurf acht Jahre später zu verantworten.
Andere Parteien folgen diesem Beispiel. Verdoppelungen und Halbierungen zwischen zwei Wahlen sind keine Seltenheit mehr. Den Grünen liefen bei der letzten EU-Wahl fast die Hälfte ihrer Wähler davon. Die AfD hat sich zwischen 2013 und 2017 dafür nahezu verdreifacht.
Eine Partei geht steil
Das Partei-Hopping liegt also voll im Trend – und das wird zunehmend zum Problem. Auch wenn Wählerwanderungen grundsätzlich ein Signal für eine lebendige und gesunde Demokratie sind, haben die Schwankungen mittlerweile Ausmaße erreicht, die von einem immer größer werdenden Vertrauensverlust in die Parteien zeugen. Das wird besonders dadurch deutlich, wenn Wähler in ideologisch völlig konträre Lager wechseln. Die SPD hat in den letzten Jahren massiv an die AfD verloren und selbst von den Grünen wandern immer wieder Wähler nach Rechtsaußen ab. Dahinter steckt keine politische Verwirrtheit, sondern maßlose Enttäuschung.
Wie hoffnungsvoll viele Wähler auf neue Impulse reagieren, hat in den letzten Monaten das BSW gezeigt. Wie keine Partei zuvor hat sie es geschafft, eine beträchtliche Zahl an Menschen zu mobilisieren und von der AfD zurückzugewinnen. Spätestens mit der Bundestagswahl im Februar endete dieser Traum allerdings. Von der AfD gewann die Wagenknechtpartei nur noch mickrige 60.000 Stimmen – der kleinste Batzen der in den Bundestag eingezogenen Parteien.
Besonders deutlich wird dieses Schwächeln in Thüringen, wo das BSW bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr seinen bislang größten Erfolg feierte. Eine zähe Regierungsbildung, interner Streit und faule Kompromisse verscheuchten viele Wähler sogleich wieder. Von den fast 16 Prozent im September sind bei der Bundestagswahl nur noch 9,4 Prozent übriggeblieben. Das Phänomen BSW steht exemplarisch dafür, wie kurz die Geduld der Wähler mittlerweile ist und wie oft sie schon enttäuscht wurden.
Argumente zweitrangig
Sie haben schlicht genug vom inhaltlichen Einheitsbrei der Parteien. Immer öfter erleben sie, dass sie wählen können, was sie wollen, ohne dass sich nachhaltig etwas für sie verändert. Immer mehr Wähler wenden sich daher Kräften zu, die für einen grundsätzlich anderen Politikstil stehen. Inhalte und Argumente treten dabei in den Hintergrund. In erster Linie wollen die Menschen angesprochen und mitgenommen werden. Dass eine solche Meta-Partei unter Umständen rechtsextrem ist, spielt für viele keine Rolle mehr.
Die etablierten Parteien haben das bis heute nicht verstanden. Sie inszenieren sich nur zu gern als die ärgsten Verfechter der Demokratie, die sie durch ihr eigenes Handeln jedoch abbauen. Durch ihr Wahlverhalten haben die Bürgerinnen und Bürger längst gezeigt, dass sie sich mehr Mitsprache und Verständnis wünschen – und eben das bei den Etablierten nicht mehr finden können. Auch zwanzig weitere Demokratiefördergesetze werden daran nichts ändern.