Sigmar Gabriel wechselt zur Deutschen Bank. Diese fragwürdige Personalentscheidung sorgt für reichlich Wirbel und Kontroverse. Während Gabriel selbst seinen Schritt verteidigt, werfen ihm Kritiker reines Machtkalkül vor. Sie sehen in ihm ein fleischgewordenes Opfer von gelebtem Lobbyismus. Und tatsächlich verwundert Gabriels Entscheidung. Wie tief ist der Lobbyismus also in Deutschland verwurzelt? Und kommt eine Demokratie ohne ihn überhaupt aus?
Seit wenigen Tagen ist es offiziell: Der ehemalige Vizekanzler Sigmar Gabriel wird Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Während er in diesem Wechsel von Politik ins Finanzwesen keinen Interessenskonflikt sieht, werfen ihm andere gar einen Bruch mit der Sozialdemokratie vor. Viele befremdet: Gabriel war bis Anfang 2018 offiziell Angela Merkels Stellvertreter als Regierungschef. Bis Ende 2019 war er Mitglied im Deutschen Bundestag. Das vergangene Jahr liegt gerade einmal einige Wochen zurück. Und nun der Wechsel in die oberste Riege des Finanzmarktes. Alles Zufall?
Auf den Spuren von Gerhard Schröder
Ob Gabriel seine Ideale verrät und was man von seiner Berufung in Reihe 1 der Deutschen Bank hält, ist erst einmal zweitrangig. Fakt ist, dass er mit dem Wechsel kein Novum geschaffen hat. Viel eher eifert er weiter seinem großen Vorbild Gerhard Schröder nach. Genau wie der einstige Kanzler war auch Sigmar Gabriel über Jahre Ministerpräsident von Niedersachsen. Beinahe wäre er auch selbst Kanzler geworden. Aber nicht nur Angela Merkel hielt ihn davon ab. Er musste sich mit Rang 2 zufriedengeben. Um diesen Fehler wieder wettzumachen, legt er nach Ende seiner politischen Karriere nun den Turbo in Richtung Wirtschaft ein. Auch Gerhard Schröder wurde fast unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus der Bundespolitik Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG.
Von etwaigem Verrat will Gabriel nichts wissen. Er beschwört, dass er allen Kritiken zum Trotz durch und durch Sozialdemokrat bliebe und sich an seinem Verhalten nichts ändern würde. Außerdem verbietet er sich jedwede Unterstellung, er sei ein leichtes Fressen für Lobbyisten. Er beruft sich darauf, dass er in seiner gesamten politischen Laufbahn niemals die Deutsche Bank bevorzugt behandelt hätte. Alles in allem seien seine politischen Berührungspunkte mit dem krisengeschüttelten Finanzhaus äußerst gering gewesen.
Immerhin in diesem Punkt ist er seinem Vorbild Schröder voraus. Während Schröder die Vorhaben der Nord Stream AG immer gefördert hatte, kann man Gabriel tatsächlich keine auffallende Nähe zur Deutschen Bank vorwerfen. Seine Argumentation hinkt aber trotzdem aus zwei Gründen.
Ein Wirtschaftsminister ohne Alibi
Erstens ist es schlicht unglaubwürdig, dass er als Wirtschaftsminister und Vizekanzler keine Nähe zu großen Banken zugelassen haben soll. Unsere Wirtschaft würde ohne Banken überhaupt nicht funktionieren. Natürlich hängt der Wirtschaftsminister einer Nation da mit drin.
Zweitens sind seine Ausreden leicht umkehrbar. Er beteuert, dass er niemals etwas mit Banken am Hut hatte. Das stimmt sogar. Und genau darum mutet es auch so seltsam an, dass gerade er den Aufsichtsratsposten bekommen hat. Die wenigsten studierten Germanisten verirren sich in die vorderen Reihen einer der größten Banken des Landes. Und selbst hartgesottenen Bankern bleibt der Weg dorthin oftmals versperrt. Aber Siggi schafft’s von 0 auf 100 – ganz ohne Gegenleistung. Ist klar.
Zweierlei Maas
Von jeher hatte die Sozialdemokratie zwei natürliche Fressfeinde: den Rechtspopulismus und die Korruption. Beide gehören sie zur Gattung der Demokratieschädlinge. Während die deutsche SPD für Rechtsaußen allerdings nur schwer verdaulich ist, verspeist die Korruption sie zum Frühstück. Ganz deutlich wird das am aktuellen Fall Thilo Sarrazin. Der ehemalige SPD-Politiker hat sich mit seinen kritischen Äußerungen zur Einwanderung muslimischer Bürger unter den Genossen ins Aus manövriert. Erst vor kurzem schloss ihn seine ehemalige Partei aus.
Ganz offensichtlich sehen es die Sozen überhaupt nicht gerne, wenn man in den Kanon der Rechtspopulisten einsteigt. Und mit dem Parteiausschluss haben sie auch recht. Wer solche Ansichten vertritt, der ist in einer sozialdemokratischen Partei schlicht fehl am Platz. Aber sollte das nicht auch für Leute gelten, die sich der Wirtschaft beinahe andienen? Warum zweifelt die SPD nicht an den Idealen des ehemaligen Vizekanzlers? Gerade die Sozialdemokraten sollten doch ein gewaltiges Interesse daran haben, nicht einmal in die Nähe eines Korruptionsverdachts zu geraten. Trotzdem werden Mitglieder wie Sigmar Gabriel geradezu hofiert.
Endstation Politiker?
Irgendwo habe ich die süffisante Frage gelesen, was scheidende Politiker denn sonst machen sollten. Ob es irgendeine Beschäftigung gäbe, für die sie nicht kritisiert werden würden. Schwierig. Ich kann aber nur noch einmal wiederholen, wie merkwürdig es erscheint, wenn ein Mensch wie Sigmar Gabriel so mir nichts dir nichts in die Chefetage einer Bank wechselt, ohne Vorkenntnisse.
Angeblich will er seine sozialdemokratischen Ideale behalten. Wie schön für ihn. Als Abgeordneter könnte er sie allerdings viel besser einbringen als von der Spitze der Deutschen Bank. Sein Verhalten ist durchschaubar: Auf Bundesebene kommt er nicht höher. Kanzler wurde er nie und wird er auch nie werden. Erst recht nicht in der SPD. Der Wechsel zur Deutschen Bank entspringt seinem Machtkalkül.
Wenn Konzerne Gesetze schreiben
Bevor ich jetzt noch unfair werde und Sigmar Gabriel total in Grund und Boden wuchte, vielleicht einmal ein Blick hinter die Kulissen. Gabriel will sich unter gar keinen Umständen als Lobbyist verstanden wissen. Er beruft sich darauf, in seiner politischen Laufbahn die Deutsche Bank zu keinem Zeitpunkt bevorzugt behandelt zu haben. Glauben wir ihm das für den Moment. Das gemeine an Lobbyismus ist allerdings, dass er äußert subtil und verborgen sein kann. Nicht jeder macht’s wie Schröder und lässt sich ganz offensichtlich für seine wohlwollende Politik belohnen.
Dass Lobbyismus die Politik stärker beeinflusst als vielen lieb ist, ist ein unbestreitbarer Fakt. Trotzdem ist Lobbyismus nicht gleich Lobbyismus. Es gibt ihn in verschiedenen Gewändern. Er kann produktiv sein, aber auch eine Blockadehaltung einnehmen. Die deutschen Waffenexporte beispielsweise sind ein gutes Beispiel für produktiven Lobbyismus. Die Waffenschmieden profitieren ganz erheblich und sehr offensichtlich davon, dass Deutschland die Konflikte in Nahost militärisch aufheizt.
Chamäleon Lobbyismus
Die Lebensmittelbranche ist schon ein anderes Kaliber. Gegen die Widerstände großer Konzerne und Lebensmittelhersteller hat die Ernährungsministerin Julia Klöckner keinen größeren Wurf hinbekommen als eine freiwillige Lebensmittelampel. Eine echte Lenkungswirkung lässt sich so nur schwer entfalten. Viele Hersteller müssen also gar nichts tun. Ziel erreicht.
In diesem Fall ist es aber schon schwieriger, einzelnen Konzernen den Vorwurf von Lobbyarbeit zu machen. Solange die Angabe auf Lebensmitteln freiwillig bleibt, können Verweigerer nicht zu Buhmännern gemacht werden. Aber genau so funktioniert Lobbyismus: Einerseits können Gesetze diktiert werden, die eindeutig dem eigenen Vorteil gereichen. Andererseits können nachteilige Gesetze abgewehrt werden. Verantwortliche auszumachen ist besonders in letzterem Fall schwierig. Und das ist auch der Sinn von Lobbyismus. Er operiert vornehmlich verdeckt und ist eben nicht immer durchschaubar. So durchsichtig Sigmar Gabriels neuestes Manöver auch sein mag – aktiven Lobbyismus kann man ihm tatsächlich nicht vorwerfen.
Vielleicht wäre es da leichter gewesen, wäre er ein Politiker auf EU-Ebene. Nur zurecht ist diese politische Instanz als Hotspot des Lobbyismus verschrien. Fälle wie die zweifelhaften Vorhaben von Bayer-Monsanto machen das Parlament der Europäischen Union zum Gespött in der demokratischen Tradition Europas. Gerade erst hat Österreich ein Verbot des Unkrautvernichters Glyphosat in allerletzter Sekunde gekippt. Selbstredend hat der Mega-Konzern, der das Mittel vertreibt, nichts damit zu tun. Es lag an Formfehlern. Für ganz Europa ist ein solches Verbot erst recht nicht in Sicht, obwohl ein erheblicher Teil der Bürger dafür wäre. Die ehemalige EU-Abgeordnete Sarah Wagenknecht beschreibt den Einfluss von Lobbyismus in der EU gar als monströs.
Halb so wild?
So stark ist der Einfluss von Lobbyismus auf Bundesebene zum Glück nicht. Trotzdem gibt es auch dort massive Probleme. Manche werden sich fragen, was denn so schlimm daran sei, wenn auch Unternehmen und juristische Personen ein politisches Mitspracherecht haben. Dazu sei zum einen gesagt, dass hinter jedem Konzern und jeder juristischen Person immer mindestens eine natürliche Person steht. Dieser Mensch kann bereits jetzt schon auf herkömmlichem Wege demokratisch gestalten und mitwirken. Ganz ohne Hinterzimmertreffen.
Es bedarf also keiner lobbyistischen Instrumente, um demokratisch aktiv zu werden. Denn eines ist völlig klar: Lobbyismus ist das Gegenteil von Demokratie. Demokratie ist fair, sie ist transparent und sie ist inklusiv. Lobbyismus hingegen ist von Natur aus eigennützig und egoistisch, er zeichnet sich durch eine hohe Intransparenz aus und ist exklusiv. Einer zieht bei erfolgreichem Lobbyismus also immer den schwarzen Peter.
Lobbykratie vs. Demokratie
Die Macht da oben haben sowieso andere. Alle korrupt. Politiker sind Lügner. Solche Sprüche hat bestimmt jeder schon einmal gehört. Sie sind Zeugnisse einer funktionierenden Lobbykratie. Wenn politische Entscheidungen im verborgenen getroffen werden, braucht sich niemand darüber zu wundern, wenn immer mehr Menschen den Glauben an eine funktionierende Demokratie verlieren. Es sind Personalien wie Sigmar Gabriel, die die Glaubwürdigkeit von Politikern, angeblichen Volksvertretern, weiter untergraben. Gäbe es allerdings verpflichtende Lobbyregister und wirksame Karenzzeiten für scheidende Politiker, hätten sie es erheblich schwerer, ihrem Ruf als notorische Lügner gerecht zu werden.
Doch manche Menschen kriegen den Hals nicht voll. Als gut getarnter Soze wird Sigmar Gabriel die Deutsche Bank mit Sicherheit künftig von innen heraus revolutionieren. Eine zwangsläufige Erscheinung? Zeichnet es einen guten Opportunisten und einen guten Lobbyisten nicht gerade aus, dass sie sich auch in einer Demokratie über Wasser halten können? Ganz bestimmt nicht. Solche Charaktere sind in einer guten Demokratie gar nicht möglich. Ein guter Lobbyist versteht es nur meisterlich, die Defizite einzelner Demokratien zu nutzen, um das System als solches zu unterwandern.
Lobbyismus ist kein Fehler in der Demokratie. Er ist in einer funktionierenden Demokratie überhaupt nicht vorgesehen. Er fußt auf Geheimhaltung und Verschleierung. Er nimmt dort Einfluss, wo Bürger es nicht können. Er verschafft sich auf fragwürdige Art und Weise einen Vorteil vor den Wählern. Echte Demokratie geht nur ohne ihn.