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Der Skandal des Fleischproduzenten Tönnies hat viele Menschen wachgerüttelt: Fleisch ist in Deutschland und anderswo viel zu billig. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) möchte diese Erkenntnis nutzen, um die Zustände in den Betrieben deutlich zu verbessern. Von Verbraucherinnen und Verbrauchern erhält sie dabei durchweg positive Signale. Auch andere Branchen sind bereit nachzuziehen.
Viel zu oft braucht es einen tragischen Unfall, ein Verbrechen oder eine ausgewachsene Krise, damit Missstände ans Licht kommen. So ist es jüngst auch in verschiedenen deutschen Fleischereibetrieben gewesen. Die dortigen Arbeitsverhältnisse und die Unterbringung der Arbeitskräfte waren ein sperrangelweit geöffnetes Tor für das Corona-Virus. Die bisherige Bilanz: Tausende Mitarbeiter aus mehreren Fleischereibetrieben haben sich mit dem gefährlichen Virus infiziert. Von Todesfällen in diesem Zusammenhang war bisher zum Glück nichts zu hören. Gleichwohl waren viele von den Zuständen in den Schlachtbetrieben schockiert. Immer lauter wird der Ruf nach drastischen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter, die oft aus Ungarn oder Rumänien kommen.
Skandal mit Folgen
Der Tönnies-Skandal ist inzwischen seit mehreren Wochen publik. Viele sind nach dem ersten Entsetzen wieder zur Ruhe gekommen. Nun ist die Zeit, das Problem rational anzupacken. Und genau das soll jetzt geschehen: Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) kündigte an, dass der Fleischmarkt von Grund auf reformiert werden müsste. Der erste und vielleicht wichtigste Ansatzpunkt dabei ist der Fleischpreis. Die Ministerin ist sich sicher, dass sich an den unhaltbaren Zuständen in den Betrieben niemals etwas ändern wird, wenn Fleisch weiter zu lachhaften Discounterpreisen verscherbelt wird.
Weil sie als volksnahe Regierungsvertreterin immer auch die Sicht der Verbraucher im Blick hat, präsentierte sie erst kürzlich eine Idee, die Arbeiterwohl und Verbraucherbedürfnisse unter einen Hut bringt. Stolz verkündete sie am Montagabend die Einführung eines Mindestpreises für Fleisch. Dieser Preis wird für verschiedene Tiere pro Kilogramm Fleisch festgelegt. Die Verbraucher haben dann allerdings die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis mehr Geld für das gekaufte Fleisch auszugeben. Die Ministerin verwies dabei auf das von ihr geplante Tierwohllabel, das ebenso auf Freiwilligkeit beruhte, allerdings schon heute erhebliche Verbesserungen in deutschen Ställen herbeigeführt hätte.
Die CDU-Politikerin nutzt bei ihrem Vorhaben die derzeitige Stimmung in der Bevölkerung. So sprachen sich seit Bekanntwerden des Skandals bei Tönnies immer wieder Bürgerinnen und Bürger dafür aus, dass sie bereit wären, deutlich mehr für Fleisch zu bezahlen. In den letzten Wochen fanden sich sogar zahlreiche Verbraucherverbände zusammen, die die Pläne der Ministerin vorantreiben. Die Allianz für Verbraucher mit Gewissen (AVG) erklärte, es wäre an der Zeit, dass alle Verbraucher ihr Konsum- und Einkaufverhalten dringend überdenken. Es könnte nicht sein, dass tumultartige Szenen entstünden, wenn die Packung Paprikalyoner für 89 Cent im Angebot wäre. Man sähe definitiv den Verbraucher in der Pflicht, damit staatliche Bemühungen nicht gegen die Wand führen wie seinerzeit mit den Milchpreisen.
Zeit zum Umdenken
Das Vorhaben der Landwirtschaftsministerin und der Verbraucherverbände stößt auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Viele Verbraucher sind ebenfalls der Meinung, es müsse sich dringend etwas ändern. Die anstehende Absenkung der Mehrwertsteuer ermutigt besonders viele Bürgerinnen und Bürger dazu, für Fleisch in Zukunft tiefer in die Tasche zu greifen. Doch trotz dieser steuerlichen Begünstigung müssen die meisten Kundinnen und Kunden Abstriche machen. Die alleinerziehende Friseurmeisterin und Kassiererin Fabienne R. stört das wenig. Sie erklärt: „Es ist mir unglaublich wichtig, meinen beiden Kindern die Werte zu vermitteln, auf die es im Leben ankommt. Ich möchte ihnen nichts auftischen, wofür andere auf unmenschliche Art geknechtet wurden. Deswegen zahle ich gerne etwas mehr, auch wenn das bedeutet, dass ich künftig ein bisschen länger arbeiten muss. Ich bin sehr froh, dass ich gerade die Zusage von der Wäscherei erhalten habe.“
Auch der pensionierte Kfz-Mechaniker Werner S. ist bereit, für einen höheren Fleischpreis stärker auf die Tube zu drücken. Erst neulich hat er seinen persönlichen Rekord von 65 Pfandflaschen an einem Nachmittag gebrochen. Ebenso viel Solidarität zeigt der 53-jährige Jürgen K. Der Hartz-IV – Empfänger hat sich dazu bereit erklärt, ab sofort auf sein Mittagessen zu verzichten, um sich abends ein schönes Kotelett zu fairen Bedingungen leisten zu können. Die Mittagszeit will er stattdessen dazu nutzen, noch mehr Bewerbungen zu schreiben.
Solidarität mit Wirkung
Die Fleischereibetriebe freuen sich über das Engagement ihrer Kundschaft. „Als Familienbetrieb wissen wir das Entgegenkommen der Verbraucher sehr zu schätzen. Durch die Mehreinnahmen können wir endlich unsere Mitarbeiter angemessen entlohnen“, erklärte am Nachmittag eine Sprecherin von Tönnies. Der Betrieb kündigte weitreichende Verbesserungen bei der Unterbringung seiner Arbeitskräfte an. So sollen die jetzigen Anlagen kernsaniert werden. Eine dauerhafte Versorgung mit Strom und Internet ist ebenso geplant. Außerdem soll den Arbeitern künftig den ganzen Tag Warmwasser zur Verfügung stehen, und nicht nur morgens und abends. „Wenn die gestiegenen Einnahmen das jetzige Level halten, dann können wir für die Zukunft sogar über Einzelunterbringungen der Arbeitskräfte nachdenken,“ fährt die Unternehmenssprecherin fort.
Den vielversprechenden Ankündigungen schlossen sich weitere Betriebe der Branche an. In einem knappen Pressestatement von Wiesenhof hieß es demnach: „Von den höheren Ausgaben für Fleisch profitiert nicht nur der Verbraucher. Auch wir als Produzent können für bessere Haltungsbedingungen sorgen. Wir reden hier immerhin von ganzen zwei DINA4-Blättern mehr Platz – für Vieh und Mitarbeiter wohlgemerkt.“
Geben und Nehmen
An den bemerkenswerten Entwicklungen in der Fleischbranche nehmen sich indes auch andere Bereiche ein Beispiel. Die bisher als Billigfluglinie verschriene Gesellschaft ryanair möchte es ihren Passagieren ab sofort ebenfalls ermöglichen, durch einen freiwilligen Aufpreis die Situation des Kabinenpersonals erheblich zu verbessern. ryanair verlangte bisher teilweise weniger als 30 Euro pro Ticket. Eine angemessene Entlohnung für Mitarbeiter war der Gesellschaft daher nicht zumutbar. „Hätten wir gewusst, wie zahlungswillig unsere Kundschaft ist, hätten wir unseren Mitarbeitern vieles erspart“, heißt es aus einer offiziellen Erklärung der Fluglinie.
Auch Paketzustelldienste und Pflegeheimbetreiber hoffen auf den neuen Effekt. Es sei nicht mehr mit anzusehen, wie manche Heimbewohner vor sich hinvegetierten, nur weil die Angehörigen bisher den Gürtel so eng schnallten. Paketzusteller Mahmut F. sieht gleichermaßen einer rosigen Zukunft entgegen. Er ist sich sicher: „Wenn die Empfänger meiner Pakete in Zukunft ein saftiges Trinkgeld dazugeben, kann ich bald schon nach zwölf Stunden Feierabend machen und mehr Zeit mit meiner Familie verbringen.“