Lesedauer: 7 Minuten
Ein Like hier, ein Emoji dort – nirgendwo ist Mitmachen leichter als im Internet. Nur ein Klick und die neuen Schuhe sind unterwegs. Zehn Sekunden auf Google und das Alltagsproblem ist gelöst. Lästige Wahlen waren gestern – im Netz ist jeder ein gefragter Politiker. Doch viel zu häufig wird das bunte Treiben im Netz für bare Münze genommen. Krampfhaft soll eine virtuelle Realität erzeugt werden, die an den einfachsten Konventionen scheitert. Das Internet ist Freiheit. Aber Freiheit gibt’s nicht für lau.
Kein Anschluss unter dieser Nummer
Pascal ist zehn Jahre alt und besucht die vierte Klasse einer Grundschule irgendwo in Deutschland. Er sitzt gerade am Wohnzimmertisch und brütet über seinen Mathe-Hausaufgaben. Seine Mutter betritt den Raum. Sie bewundert die Treppen, die er bei der schriftlichen Division gezeichnet hat. Er ist schon im Begriff alles wegzupacken und nach draußen zu gehen, da fragt ihn seine Mutter: „Hast du Tante Sandra schon angerufen und dich für das Geschenk bedankt?“ Während er sein Mathebuch in die Tasche zwängt, entgegnet er: „Nein, geht nicht. Papa ist gerade im Internet.“
Die Ü25er werden diese Szene zu gut aus ihrer Kindheit kennen. Schließlich galt bis vor ungefähr fünfzehn Jahren die goldene Regel: Ist jemand im Internet, dann geht das Telefon nicht. Diese Zeiten sind lange vorbei. Einwahlverbindungen, die die Telefonleitung belegen, waren ihrerzeit schon lästig und out. Heute wird mit gleich mehreren Endgeräten im Internet gesurft und gleichzeitig telefoniert. Seit den 90er Jahren hat das Internet eine Privatisierungswelle erlebt, die jedes kaputtgesparte Krankenhaus blass aussehen lässt.
Do It Yourself
Noch vor etwa zwanzig Jahren war das Internet im großen und ganzen kommerziellen Zwecken vorbehalten. Firmen, Konzerne und Behörden hatten einen stabilen Zugang zum Internet, ohne dabei auf wichtige Telefonate verzichten zu müssen. Wer sich daheim den Luxus Internet gönnen wollte, der war zumindest zeitweise telefonisch nicht erreichbar. Erst im Laufe der 00er-Jahre wandelte sich das Internet zum Allgemeingut. Im Vordergrund standen seitdem nicht mehr Geschäftsaktivitäten und Mailverkehr, sondern Einzelhandel und Selbstdarstellung.
Innerhalb weniger Jahre war das Internet von einem virtuellen Marktplatz zu einer regelrechten Parallelgesellschaft angewachsen. Neue Seiten und Plattformen schnitten das Internet immer mehr auf das Individuum zu. Mithilfe sozialer Netzwerke konnte man zunächst alte Freunde wiederfinden, dann selbst Internetfreundschaften knüpfen und schließlich jedem sein Mittagessen aufzwingen. Selbst in den sozialen Netzwerken stand immer weniger die Gemeinschaft im Mittelpunkt, wie beispielsweise bei wer-kennt-wen, sondern immer mehr der einzelne Nutzer selbst. Bei Instagram geht es nicht darum, der Internetgemeinschaft zu nutzen. Die Community muss dem User nutzen.
Kein Face-to-face
Das Internet bietet oft die Möglichkeit, weitgehend anonym zu bleiben. Auf vielen Websites und in vielen Foren und Portalen muss niemand sein Gesicht zeigen, wenn er es nicht will. Mithilfe von Avatars und Pseudonymen erschaffen sich viele Menschen eine Art Parallelcharakter, mit dem sie an der virtuellen Gesellschaft teilhaben. Einige übersehen dabei aber, dass sich diese virtuelle Community in manchen Punkten gar nicht so sehr von der realen Community vor dem Bildschirm unterscheidet. Hinter jedem Internetprofil und hinter jedem Fantasienamen steckt nämlich ein Mensch mit total normalen menschlichen Bedürfnissen und Ansprüchen. Die meisten davon stellen an die Internetgesellschaft die gleichen Anforderungen wie an die reale Gesellschaft.
Und hier wird’s knifflig. Obwohl sich alle einig sind, dass ein respektvoller Umgangston und das Einhalten einfachster Verhaltensregeln das A und O sind, kommt es gerade im virtuellen Raum immer wieder zu verbalen Entgleisungen. Die Anonymität des Internet eröffnet den Menschen fast unbegrenzte Möglichkeiten der Beteiligung und Mitsprache. Sie verhindert aber gleichzeitig, dass sich bestimmte soziale Konventionen durchsetzen können.
In den seltensten Fällen sitzen sich zwei Internetnutzer direkt gegenüber, wenn sie im Netz kommunizieren. Selbst bei der Videotelefonie steht das verpixelte Abbild einem echten Face-to-face – Erlebnis entgegen. Solche Faktoren senken die Hemmschwelle, bestimmte Dinge zu sagen. Wenn ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe, wenn ich nicht sehe, wie der andere reagiert, dann fällt es mir leichter, ihm das ein oder andere an den Kopf zu werfen. Diese virtuellen Ergüsse reichen von emotionalen Ausbrüchen, über Cybermobbing bis hin zur Androhung von Gewalt.
Kein Internet ohne Selbstdarstellung
In den letzten Monaten versuchte der Gesetzgeber verstärkt, gegen diese Art der Cyberkriminalität vorzugehen. Weil es aber versäumt wurde, frühzeitig Kontrollmechanismen in sozialen Netzwerken zu etablieren, eindeutige Grenzen des im Internet sagbaren zu ziehen und bestimmte Normen zu definieren, erleiden viele dieser Bemühungen traurigen Schiffbruch.
Die Durchsetzung solcher Richtlinien ist vor allem deshalb schwierig, weil das Internet eine globale Angelegenheit ist und sich die virtuelle Gesellschaft nur dann optimal ausbreitet, wenn sie an möglichst wenige starre Regeln gebunden ist. Denn die Ausweitung des Internets in den privaten Raum und die wachsenden Möglichkeiten, sich selbst darzustellen, bedingen sich gegenseitig.
Eingebildet beliebt
Kein Mensch mag Regeln. Regeln sind langweilig und Regeln verderben den Spaß. Das Internet eröffnet eine Vielzahl an Möglichkeiten. Zwar gelten bestimmte Regeln auch da – es gehört sich einfach nicht, ein Produkt zum Kauf anzubieten, das in Wirklichkeit nicht existiert – aber viele dieser Regeln lassen sich viel leichter unterwandern als im echten Leben. Besonders wenn es um die Darstellung des eigenen Ichs geht, bietet das Internet eine beinahe anarchische Alternative zur durchreglementierten Realität. Ungehemmt wird ein Selfie nach dem anderen rausgehauen. Eine Stopp-Taste gibt es nicht, die Likes sprechen eben eine deutliche Sprache. Wenn einem doch mal was nicht passt, folgt prompt der Kommentar der Vernichtung. Das Leben in der Blase kennt weder Gut noch Böse. Plattformen wie Instagram gaukeln den Nutzern vor, ein Star zu sein. Ablehnung und Widerstand gibt es in diesem Kosmos nicht.
Das kann dann durchaus so weit gehen, dass viele dieses Leben in der Blase dem Leben im Hier und Jetzt vorziehen. Verwöhnt von zig Liebesbekundungen und abertausenden von Likes stieg vor kurzem die 22-jährige Jana aus Kassel die Bühne hinauf. Gleich ihr erster Satz bewies, dass sie das Denken lange verlernt hatte. Ein pflichtbewusster Ordner wies sie bestimmt darauf hin. Anstatt sich vom Gesagten zu distanzieren oder dem Gegenredner mit Argumenten zu begegnen, pfefferte die gute Jana das Mikro auf den Boden. Sie begann zu weinen und stürmte von der Bühne. Auf Widerstand war sie nicht vorbereitet.
Solche Janas gibt es viele. Sie sind von den Verhaltensweisen im Internet und in sozialen Netzwerken derart geprägt, dass sie vergessen haben, dass die eigene Meinung nicht zwangsläufig deckungsgleich mit den Vorstellungen anderer Menschen ist. Im Netz können sie solche Querschießer leicht ausblenden oder blockieren. Haben sie diese Möglichkeit nicht, dann fließen die Tränen. Die automatische Schlussfolgerung: Die Meinungsfreiheit ist bedroht. Das Internet kann uns nicht auf die Realität vorbereiten, weil ihm dazu noch wichtige Komponenten fehlen. Die Wirklichkeit hingegen ist eine gute Vorbereitung auf das Internet. Sie ist eine gute Vorbereitung auf die Möglichkeiten und Freiheiten, die uns dort erwarten. Leichter als sonstwo wird im Internet geshoppt, gezockt und die eigene Meinung gesagt. Doch auf Freiheit muss man vorbereitet sein.