Endangered Species – oder: Ein einsamer Blondie-Fan

Vorschaubild: Stig Nygaard from Copenhagen, Denmark, RamonesCBGB, Ausschnitt von Sven Rottner, CC-BY 2.0

Lesedauer: 10 Minuten

Vor wenigen Wochen erschien die deutsche Ausgabe von Debbie Harrys Memoiren. Zugegeben richtig schnell, die englische Ausgabe kam am 1. Oktober in die book stores. Auf dem Harbourfront-Literaturfestival in Hamburg stellte die inzwischen 74-jährige ihr neues Werk vor. Bis heute begeistert sie Jung und Alt, und mich. Doch wieso eigentlich? Das fragte mich bei der Gelegenheit ein Fan der ersten Stunde. Ein Denkprozess begann.

Schuld daran ist ein Computerspiel. Eins mit Gewalt. Und mit Waffen. Nein, es geht nicht um einen x-beliebigen Amoklauf jüngerer Zeit. Manchmal können Computerspiele auch die Fantasie anregen. Oder als kultureller Katalysator fungieren. So erging es zumindest mir.

Back to the 80s

Es war ungefähr 2006 oder 2007. Ich steckte mitten in der Pubertät. Ich spielte das Spiel GTA: Vice City von Rockstar Games. Wohlgemerkt auf dem Computer; mit Play Stations stand ich immer schon auf Kriegsfuß. Wer das Spiel nicht kennt: Im Grunde rast man in einem zufällig geklauten Auto durch die fiktive Inselstadt Vice City von einem Mafia-Auftrag zum nächsten. Nebenher fährt man über wehrlose Passanten oder rammt unliebsamen Gegenverkehr. Das ganze wird musikalisch mit Rock und Pop der späten 1970er und frühen 1980er untermalt – das Spiel handelt schließlich im Jahre 1986.

Bis zu diesem Zeitpunkt war solche Musik für mich alte, unhippe Mucke von vorgestern. Ich konnte ihr nichts abgewinnen. Ich habe mich vorher nie mit ihr beschäftigt. In penetranter Kontinuität wurde ich nun mit dieser Musik konfrontiert, während ich die Aggressionen eines schwulen ungeouteten Jugendlichen zumindest auf dem Bildschirm auslebte. Ich erwischte mich dabei, wie ich manche dieser Songs mehr oder minder heimlich selbst wiedergab: beim Aufräumen, beim Fahrradfahren, unter der Dusche.

Ich nutze also die Errungenschaft Internet, um mir auch visuell ein Bild von diesen Künstlern zu machen. Auf YouTube und myvideo (gibt’s das eigentlich noch?!) wurde ich auch schnell fündig. Bei Songs wie „Kids in America“ von Kim Wilde war das auch nicht weiter schwer, der Titel des Songs war recht offensichtlich. An einem besonders guten Stück verzweifelte ich allerdings beinahe. Immer wieder sang diese kräftige und mysteriös anmutende Stimme TONIGHT, TONIGHT, MAKE IT RIGHT. Anstandshalber suchte ich auf den erwähnten Seiten nach dem Musikvideo zu „Tonight“. Erwartungsgemäß war die Fülle an Suchergebnissen bei einem solch vagen Titel schier unbestreitbar.

Nicht verzagen, Mutti fragen

Doch der Song ließ mich nicht los. Ich summte ihn, ich fing an, ihn zu singen. Nachts träumte ich von ihm. Ich träumte von dieser engelsgleichen Stimme, die trotzdem viel zu kraftvoll und energisch war, um zu einem Engel zu gehören. Dann kam der Geistesblitz. Ich brauchte die Unterstützung eines Fachmenschen. Von jemanden, der diese Musik miterlebt hatte. Zufällig war meine Mutter mit im Raum, als der Song wieder aus dem virtuellen Autoradio schallte. Das war meine Chance. Meine Mutter überlegte kurz, ihre Stirn legte sich in Falten. Sie kenne den Song tatsächlich. Aber sie wisse nicht mehr, von wem der sei. „Vielleicht Blondie? Ne, das ist nicht Blondie. Oder doch? Nee.“

Doch plötzlich hatte ich einen Namen: Blondie. Der Rest war kinderleicht. YouTube belehrte mich, dass der Song nicht „Tonight“ sondern „Atomic“ hieße. Zunächst hatte ich keine Ahnung, warum. Erst später fand ich heraus, dass dieses Wort ruhmreiche zweimal in der Version von Vice City vorkam.

Der Moment, als ich zum ersten Mal das Musikvideo zu diesem Nummer-1 – Hit sah? Magnificent. Ein YouTuber hatte mal unter dem Video kommentiert: „Nobody else has ever looked that hot in a garbage bag.“ Er/Sie hat vollkommen recht. Da stand die Sängerin, Debbie Harry, anmutig mit Sonnenbrille und in einen Müllbeutel gewickelt in der Mitte einer Bühne. In starkem Kontrast zu dem wilden Gezappel um sie herum, bewegte sie sich kaum. Das musste sie auch nicht. Um mich war es geschehen, als sie die Sonnenbrille abnahm. Etwas cooleres und anziehenderes habe ich danach nie mehr gesehen.

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Keep on Going

Ich wollte mehr. Schnell interessierte mich, was diese Frau heute macht. Und siehe da: Die Band um Debbie Harry war sogar für mir geläufige Hits wie den Radio-Ohrwurm „Maria“ verantwortlich. Stück für Stück zog mich die Gruppe in ihren Bann. Ich erfuhr, dass die Dame kürzlich ein neues Solo-Album veröffentlicht hatte. Auf Necessary Evil klang Debbies Stimme wesentlich tiefer, rauchiger, aber nicht minder sexy. Ich wünschte mir die Platte zu Weihnachten. Während also mein kleiner Bruder hochentzückt vor seinem neuen Eye Toys herumwirbelte, saß ich im Hintergrund und versank in Songs wie „School for Scandal“ und „Deep End“.

Das war 2007. Debbie war bereits über 60. Zugegeben, mich ergriff bald eine Angst, dass die Band samt Frontfrau bald den Laden dicht machen würden. Ich befürchtete, dass ich meiner neugewonnenen Leidenschaft bald schon hinterhertrauern müsste, so wie es sonst nur ABBA-Fans taten. Doch ich musste bald feststellen, dass die Blondies eben durch und durch Punk sind. Aufgeben ist keine Option. Bereits 2008 kündigte Debbie ein neues Album ihrer Band an. Ich war wie elektrisiert. Das erste Album meiner exklusiven Lieblingsband seitdem ich mit im Boot saß.

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Stop Fucking the Planet

Letztendlich erschien Panic of Girls erst drei Jahre später. Doch bereits 2010 gaben die Blondies einige der neuen Songs bei Konzerten zum besten. Einer dieser Songs heißt „What I Heard“. Mein Bruder machte damals eine schwierige Phase durch (Pubertät?) und kam abends wie üblich viel zu spät nach Hause. Es war Juni. Blondie hatten gerade auf dem Isle-of-Wight – Festival ein Hammerset hingelegt, inklusive „What I Heard“. Während meine Mutter an jenem lauen Juniabend besorgt die Straße hinunterblickte und auf meinen Bruder wartete, drehte ich mich neben ihr euphorisch im Kreis. Der neue Song schien von mir Besitz ergriffen zu haben.

Euphorie verspürte ich auch beim Nachfolger-Album Ghosts of Download. Die Blondies machten 2014 etwas, was sie sonst vermieden. Sie spielten ein paar Konzerte in Deutschland. Mit im Getümmel: le me. Zum 40-jährigen Bandjubiläum trat Debbie damals in einem schwarz-weiß – gestreiften Jumpsuit auf, in Anspielung auf Blondies erfolgreichstes Album Parallel Lines. Die Fans erwartete ein gut durchmischtes Repertoire aus alten wie neuen Songs, Eigenproduktionen und Cover. Und schließlich versprühte die Band Euphorie pur: mit dem unterschätzten Song „Euphoria“, wie es sich für Blondie gehört mit Reggae-Elementen.

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Spätestens nach dem Kölner Konzert begrub ich meine Angst, dass Blondie bald Geschichte sein könnten. Ich hatte mich selbst von der Vitalität der New Yorker Punkband überzeugt. Das 2017er-Album Pollinator erfuhr im Gegensatz zu seinen Vorgängern auch hierzulande vergleichsweise gute Promotion. Endlich waren mal wieder neue Blondie-Songs im Radio zu hören. Ein ganz besonderes Geschenk machte mir die Band Ende April jenen Jahres: sie spielten an meinem Geburtstag in Berlin. Vor Ort war ich leider nicht, aber ich kam trotzdem auf meine Kosten. Das Konzert wurde per Livestream im Internet übertragen. Auch bei diesem Auftritt ließen die Blondies keinen Zweifel daran, wie sehr ihnen unser Planet am Herzen liegt. Ähnlich wie bei der Endangered-Species – Tour 2010/2011 betonten sie auch 2017 die Wichtigkeit von umweltbewusstem Leben und Handeln. Ich feiere Debbie dafür, wie sehr sie regelmäßig beim Song „Fragments“ ausrastete.

Trotzdem hatte ich meine Chance, Blondie noch einmal live zu sehen, verspielt. Ich war in Berlin nicht dabei. Würde es nach Pollinator ein weiteres Album geben? That remains to be seen. In diesem Jahr veröffentlichte Debbie zunächst ihre lang erwarteten Memoiren. Seit Jahren ist dieses Thema immer mal wieder aufgepoppt, manche glaubten schon gar nicht mehr daran, dass eine solche Abhandlung jemals erscheinen würde. Doch dann ging alles ganz schnell. Das Cover wurde veröffentlicht, der Erscheinungstermin stand. Und ich erhielt eine weitere Chance, ganz nah bei meinem Idol zu sein. Auf dem Harbourfront-Literaturfestival in Hamburg stellte Debbie ihr Buch kürzlich vor. Davor war sie bei Markus Lanz zu Gast – vier Blondie-Verrückte begafften sie aus dem Publikum. Auch diese beiden Auftritte nutzte Debbie dazu, um auf den fatalen Zustand unseres Planeten aufmerksam zu machen.

Punk, Disco, Hip Hop – alles dabei

Aber wieso bin ich als Blondie-Fan in Deutschland eigentlich in der Minderheit, „in meinem Alter“, wie ich kürzlich zu hören bekam? Dafür gibt es sicher viele Gründe, jeder davon wäre bestimmt guter Stoff für eine wissenschaftliche Ausarbeitung. Einer der gewichtigsten Gründe ist sicherlich, was Debbie bereits 1979 als „radio airplay“ gegeißelt hatte. Sie bezog sich auf den unterschiedlichen Erfolg der Band in den USA und im Vereinigten Königreich der 1970er Jahre, ich mache das gleiche mit dem heutigen Deutschland. Während auf BBC 2 regelmäßig diverse Songs der Band gespielt werden, hört man im deutschen Radio-Einheitsbrei seit Jahren bestenfalls den Hit „Maria“. Das einem Comeback ein erfolgreicher erster Akt vorausgegangen sein muss, ist den deutschen Radioredakteuren offenbar nicht bewusst. Traut man unserem Radio, hat sich die Band 1999 ein zweites Mal aufgelöst.

Doch Nachsicht gebührt auch den hiesigen Radiobossen. Was bleibt einem auch anderes übrig mit einer Band, die sich so gar nicht einordnen lassen will? Eine Band, die zunächst harten Punk macht, dann mit Disco Hochverrat begeht und schließlich sogar noch den Hip Hop pioniert? Anstatt dann einfach zu sterben, wagen es diese Abenteurer tatsächlich, nach fast zwanzig Jahren aufzuerstehen. Und ehrlich gesagt, ist der Punk sowieso nie ganz in Deutschland angekommen. Keine der Bands der ehemaligen Punkszenen der USA oder aus dem Vereinigten Königreich konnten in Deutschland besonders große Erfolge einfahren – und wenn, dann nur kurzfristig. Die Blondies konnten sich da schon glücklicher schätzen. Mit vier Top-10 – Hits revolutionierten sie auch die deutsche Musiklandschaft.

Manchmal ist es frustrierend, gleichaltrigen zu erklären, wer Debbie Harry ist. Und manche kennen noch nicht einmal Blondie. Da werde ich doch lieber von Fans älterer Semester für meine späte Leidenschaft für die Band um Debbie Harry belächelt. Fakt ist für mich: Debbie Harry hat mich in einer Zeit ereilt, zu der ich sehr empfänglich war für neue role models. Ich war damals tatsächlich sehr mit mir selbst beschäftigt. Debbie zog mich an den Ohren aus meinem Trübsal heraus und bereicherte mein Leben mit atemberaubender Musik und einer Fuck-it-all – Haltung, die mich noch immer zutiefst fasziniert. Manchmal lohnt es sich vielleicht doch, ein Ballerspiel zu spielen.

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