Lesedauer: 7 Minuten
Es ist wieder passiert: Erneut hat ein Einzeltäter ein Blutbad angerichtet. Und wieder erlangt eine deutsche Stadt traurige Bekanntheit. Durch das mutige Eingreifen einiger Passanten konnte der Täter an der Begehung weiterer Straftaten gehindert werden. Es ist schlimm, dass es solch mutiger Helden bedarf, um so großes Leid zu verhindern. Denn Alarmzeichen gab es sicher genügend. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren nur so weit entfremdet, dass Taten wie die von Würzburg immer mehr zur Regel werden.
Bekanntes Täterprofil
Ganz Deutschland ist geschockt. Das Attentat in Würzburg hat uns erneut gezeigt, zu was Menschen fähig sind. Ein scheinbar völlig enthemmter Täter hat am vergangenen Freitag drei Menschen mit einem Messer getötet und viele weitere zum Teil schwer verletzt. Viel ist über den Täter weiterhin nicht bekannt, außer dass er somalischer Herkunft ist und bereits in der Vergangenheit auffällig wurde und psychologische Hilfe in Anspruch nahm. Sein Motiv ist weiterhin nicht abschließend geklärt.
Fast reflexartig geht ein Raunen durch die entsetzte Gesellschaft. Immer wieder hört man nach ähnlichen Taten, die Täter seien bereits im Vorfeld strafrechtlich in Erscheinung getreten oder hätten sich psychisch auffällig gezeigt. Viele schütteln den Kopf darüber, dass solche Menschen trotzdem unbehelligt herumlaufen und ihre Taten begehen. Das war in Würzburg so und das war auch bei den schrecklichen Vorfällen am Frankfurter Hauptbahnhof und anderswo so.
Die Menschen sehen, dass fast alle diese Täter psychische Probleme hatten. Das verwundert kaum: Ein psychisch gesunder Mensch würde eine solche Tat vermutlich nicht begehen. Trotzdem versteifen sich viele Beobachterinnen und Beobachter auf diesen scheinbar auf der Hand liegenden Zusammenhang.
Auffallend zusammenhängend
Die politische Rechte treibt es mit solchen Vereinfachungen auf die Spitze: Sie sehen fast ausschließlich die Herkunft der Täter. Ihnen spielt es grausam zynisch in die Hände, dass eine Vielzahl dieser Täter einen migrantischen Hintergrund hatte, in Deutschland nach Asyl suchte oder dem Islam angehörte. Die einen wollen eine härte Gangart gegenüber psychisch auffälligen Menschen, die anderen übertrumpfen sich mit der Forderung nach schärferen Grenzkontrollen oder komplett geschlossenen Grenzen.
Wie selbstverständlich verschwimmen hier die Zugehörigkeit zu einer konstruierten Gruppe und die Taten von einzelnen aus dieser Gruppe. Das ganze wird dann ausgeschmückt mit einer Prise angeblich logischer Argumente und einer Portion an Moral. So erscheinen die geforderten Konsequenzen für die Gruppen unangreifbar und gut begründet. Kein einziger dieser Verfechter einer härteren Gangart würde allerdings auf die Idee kommen, allen Männern im Lande einzelne Rechte abzuerkennen oder sie unter besondere Aufsicht zu stellen. Denn interessanterweise waren fast alle der Täter solcher Straftaten Männer.
Besorgniserregender Trend
Selbst wenn man solch verwegene Ideen in der Praxis umsetzen würde – am eigentlichen Problem würden sie wenig ändern. Die Schließung der Grenzen würde natürlich auch dazu führen, dass weniger potentielle Straftäter ins Land kommen, aber den gesellschaftlichen Unfrieden, der maßgeblich zu solchen Eskalationen beiträgt, würden solche Maßnahmen nicht beseitigen. Wenn man ab sofort alle Somalier aus Deutschland fernhielte, würde demnächst ein gebürtiger Deutscher zum Messer greifen.
Immerhin ist die Zahl an psychischen Erkrankungen in Deutschland seit Jahren steigend. Besonders in der Arbeitswelt scheiden immer mehr Menschen aufgrund psychischer Probleme vorzeitig aus. Die Täter von Würzburg und Frankfurt, aber auch die vielen sogenannten Familiendramen sind dabei lediglich die Spitze des Eisbergs einer psychologisch immer ungesünderen Gesellschaft. Diese Menschen treten besonders extrem in Erscheinung, sind mit ihren Problemen aber nicht allein. Alleingelassen sind oftmals psychologische Beratungsstellen und Therapeuten, die mit dem Behandlungsbedarf seit Jahren heillos überfordert sind.
Ganz allein
Nun könnte man argumentieren, der Anstieg an psychischen Krankheiten ist auf bessere Diagnosemöglichkeiten und einen Fortschritt in der Forschung zurückzuführen. Mancheiner denkt vielleicht insgeheim, viele dieser Patienten sind nichts weiter als eingebildete Kranke, die sich in den Mittelpunkt drängen wollen und plötzlich einer neuen Modekrankheit zum Opfer gefallen sind. Das verharmlost aber die Umstände, die dazu führen, dass in vielen Ländern immer mehr Menschen stressbedingt psychisch krank werden.
Der rasante Wandel in der Arbeitswelt, die Digitalisierung in vielen Branchen, der gläserne Mensch, eine Überflutung an Informationen von allen Seiten und eine allgemeine Stimmung der ständigen Erreichbarkeit setzen den Menschen zu. Diese Rahmenbedingungen setzen den Einzelnen in den Mittelpunkt, der die Last zu tragen hat, welche früher von mehreren Schultern getragen wurde, sei es beruflich oder sozial. Bei dieser erzwungenen Konzentration auf sich selbst bleibt keine Zeit dafür, auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzugehen. Sogenannte Achtsamkeitstrainings geben vor, den Menschen aus diesem Dilemma zu helfen. Letztendlich verfestigen sie allerdings die Strukturen des zwanghaften Individualismus.
Die gute alte Zeit
Bei solchen gesellschaftlichen Voraussetzungen wird es zunehmend schwerer, gefährliche Vorzeichen wahrzunehmen. Wenn keiner auf den anderen achtet, fällt niemandem auf, dass andere ernstzunehmende Probleme haben. Es ist ein Problem für unsere Gesellschaft, wenn immer nur dann über psychische Krankheiten debattiert wird, wenn jemand schier wahllos auf Menschen einsticht.
Einige Menschen sehnen sich dann nach der guten alten Zeit zurück, als es solche Auswüchse noch nicht gab. In den 1970ern war bestimmt nicht alles besser, aber es gab vor einigen Jahrzehnten einen stärkeren gesellschaftliche Zusammenhalt, der ebensolche Taten fast unmöglich machte. Die Menschen im Land verstanden sich als Einheit und gaben aufeinander Acht. Man hatte mehr Zeit füreinander und lebte nicht jeder für sich in seiner eigenen Blase.
Die steigende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft hängt mit dem Wegfall dieses Gemeinschaftsgefühls zusammen und nicht in erster Linie mit dem Einlass von Migrantinnen und Migranten. Denn Menschen ausländischer Herkunft gab es durch die Gastarbeiter und ihre Kinder auch in den 1970ern zur Genüge.
Das Wir gewinnt
Durch die gesellschaftlichen Veränderungen hin zu einer Glorifizierung des Individuums wurden wir uns alle aber zunehmend fremd. Man hat weniger Respekt vor der Meinung anderer Menschen und interessiert sich immer weniger für deren Lebenswirklichkeiten. In dieser Atmosphäre werden natürlich auch Menschen von außerhalb, Migrantinnen und Migranten und die Flüchtlinge, als fremder empfunden als das früher der Fall war.
Es fehlt ein sozialer Druck, der früher verhinderte, dass einzelne zu krass aus der Gesamtheit ausscherten. Man spürte deutlicher als heute, dass man füreinander verantwortlich war und passte aufeinander auf. Dieses schwindende Zusammengehörigkeitsgefühl sorgt auch dafür, dass wir bei anderen Menschheitsaufgaben nur so schleppend vorankommen. Corona und seine Folgen verursachen besonders deshalb so viel Zwist und Streit, weil wir viel zu oft gegeneinander und viel zu selten miteinander kämpfen. Ähnliches gilt für die Überwindung der Klimakrise. Keiner ist bereit, auf bestimmte Bequemlichkeiten und egoistische Befindlichkeiten zu verzichten – die anderen könnten ja mehr haben.
Dass es auch anders geht, hat die Menschheit in ihrer Geschichte schon mehrfach gezeigt. Ohne Wir-Gefühl und Respekt voreinander wären Errungenschaften wie die Aufklärung, die Frauenrechtsbewegung und die zahlreichen Arbeiterkämpfe nicht möglich oder zumindest nicht so erfolgreich gewesen. Die Amokläufe, Messerstechereien und Selbstmordattentate sind ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. All das sind keine importierten Probleme, sondern hausgemachte. Wenn wir wieder enger zusammenstehen, können wir solche Taten wie in Würzburg in Zukunft verhindern.