Die Gesellschaft der Fremden

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Es ist wieder passiert: Erneut hat ein Einzeltäter ein Blutbad angerichtet. Und wieder erlangt eine deutsche Stadt traurige Bekanntheit. Durch das mutige Eingreifen einiger Passanten konnte der Täter an der Begehung weiterer Straftaten gehindert werden. Es ist schlimm, dass es solch mutiger Helden bedarf, um so großes Leid zu verhindern. Denn Alarmzeichen gab es sicher genügend. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren nur so weit entfremdet, dass Taten wie die von Würzburg immer mehr zur Regel werden.

Bekanntes Täterprofil

Ganz Deutschland ist geschockt. Das Attentat in Würzburg hat uns erneut gezeigt, zu was Menschen fähig sind. Ein scheinbar völlig enthemmter Täter hat am vergangenen Freitag drei Menschen mit einem Messer getötet und viele weitere zum Teil schwer verletzt. Viel ist über den Täter weiterhin nicht bekannt, außer dass er somalischer Herkunft ist und bereits in der Vergangenheit auffällig wurde und psychologische Hilfe in Anspruch nahm. Sein Motiv ist weiterhin nicht abschließend geklärt.

Fast reflexartig geht ein Raunen durch die entsetzte Gesellschaft. Immer wieder hört man nach ähnlichen Taten, die Täter seien bereits im Vorfeld strafrechtlich in Erscheinung getreten oder hätten sich psychisch auffällig gezeigt. Viele schütteln den Kopf darüber, dass solche Menschen trotzdem unbehelligt herumlaufen und ihre Taten begehen. Das war in Würzburg so und das war auch bei den schrecklichen Vorfällen am Frankfurter Hauptbahnhof und anderswo so.

Die Menschen sehen, dass fast alle diese Täter psychische Probleme hatten. Das verwundert kaum: Ein psychisch gesunder Mensch würde eine solche Tat vermutlich nicht begehen. Trotzdem versteifen sich viele Beobachterinnen und Beobachter auf diesen scheinbar auf der Hand liegenden Zusammenhang.

Auffallend zusammenhängend

Die politische Rechte treibt es mit solchen Vereinfachungen auf die Spitze: Sie sehen fast ausschließlich die Herkunft der Täter. Ihnen spielt es grausam zynisch in die Hände, dass eine Vielzahl dieser Täter einen migrantischen Hintergrund hatte, in Deutschland nach Asyl suchte oder dem Islam angehörte. Die einen wollen eine härte Gangart gegenüber psychisch auffälligen Menschen, die anderen übertrumpfen sich mit der Forderung nach schärferen Grenzkontrollen oder komplett geschlossenen Grenzen.

Wie selbstverständlich verschwimmen hier die Zugehörigkeit zu einer konstruierten Gruppe und die Taten von einzelnen aus dieser Gruppe. Das ganze wird dann ausgeschmückt mit einer Prise angeblich logischer Argumente und einer Portion an Moral. So erscheinen die geforderten Konsequenzen für die Gruppen unangreifbar und gut begründet. Kein einziger dieser Verfechter einer härteren Gangart würde allerdings auf die Idee kommen, allen Männern im Lande einzelne Rechte abzuerkennen oder sie unter besondere Aufsicht zu stellen. Denn interessanterweise waren fast alle der Täter solcher Straftaten Männer.

Besorgniserregender Trend

Selbst wenn man solch verwegene Ideen in der Praxis umsetzen würde – am eigentlichen Problem würden sie wenig ändern. Die Schließung der Grenzen würde natürlich auch dazu führen, dass weniger potentielle Straftäter ins Land kommen, aber den gesellschaftlichen Unfrieden, der maßgeblich zu solchen Eskalationen beiträgt, würden solche Maßnahmen nicht beseitigen. Wenn man ab sofort alle Somalier aus Deutschland fernhielte, würde demnächst ein gebürtiger Deutscher zum Messer greifen.

Immerhin ist die Zahl an psychischen Erkrankungen in Deutschland seit Jahren steigend. Besonders in der Arbeitswelt scheiden immer mehr Menschen aufgrund psychischer Probleme vorzeitig aus. Die Täter von Würzburg und Frankfurt, aber auch die vielen sogenannten Familiendramen sind dabei lediglich die Spitze des Eisbergs einer psychologisch immer ungesünderen Gesellschaft. Diese Menschen treten besonders extrem in Erscheinung, sind mit ihren Problemen aber nicht allein. Alleingelassen sind oftmals psychologische Beratungsstellen und Therapeuten, die mit dem Behandlungsbedarf seit Jahren heillos überfordert sind.

Ganz allein

Nun könnte man argumentieren, der Anstieg an psychischen Krankheiten ist auf bessere Diagnosemöglichkeiten und einen Fortschritt in der Forschung zurückzuführen. Mancheiner denkt vielleicht insgeheim, viele dieser Patienten sind nichts weiter als eingebildete Kranke, die sich in den Mittelpunkt drängen wollen und plötzlich einer neuen Modekrankheit zum Opfer gefallen sind. Das verharmlost aber die Umstände, die dazu führen, dass in vielen Ländern immer mehr Menschen stressbedingt psychisch krank werden.

Der rasante Wandel in der Arbeitswelt, die Digitalisierung in vielen Branchen, der gläserne Mensch, eine Überflutung an Informationen von allen Seiten und eine allgemeine Stimmung der ständigen Erreichbarkeit setzen den Menschen zu. Diese Rahmenbedingungen setzen den Einzelnen in den Mittelpunkt, der die Last zu tragen hat, welche früher von mehreren Schultern getragen wurde, sei es beruflich oder sozial. Bei dieser erzwungenen Konzentration auf sich selbst bleibt keine Zeit dafür, auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzugehen. Sogenannte Achtsamkeitstrainings geben vor, den Menschen aus diesem Dilemma zu helfen. Letztendlich verfestigen sie allerdings die Strukturen des zwanghaften Individualismus.

Die gute alte Zeit

Bei solchen gesellschaftlichen Voraussetzungen wird es zunehmend schwerer, gefährliche Vorzeichen wahrzunehmen. Wenn keiner auf den anderen achtet, fällt niemandem auf, dass andere ernstzunehmende Probleme haben. Es ist ein Problem für unsere Gesellschaft, wenn immer nur dann über psychische Krankheiten debattiert wird, wenn jemand schier wahllos auf Menschen einsticht.

Einige Menschen sehnen sich dann nach der guten alten Zeit zurück, als es solche Auswüchse noch nicht gab. In den 1970ern war bestimmt nicht alles besser, aber es gab vor einigen Jahrzehnten einen stärkeren gesellschaftliche Zusammenhalt, der ebensolche Taten fast unmöglich machte. Die Menschen im Land verstanden sich als Einheit und gaben aufeinander Acht. Man hatte mehr Zeit füreinander und lebte nicht jeder für sich in seiner eigenen Blase.

Die steigende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft hängt mit dem Wegfall dieses Gemeinschaftsgefühls zusammen und nicht in erster Linie mit dem Einlass von Migrantinnen und Migranten. Denn Menschen ausländischer Herkunft gab es durch die Gastarbeiter und ihre Kinder auch in den 1970ern zur Genüge.

Das Wir gewinnt

Durch die gesellschaftlichen Veränderungen hin zu einer Glorifizierung des Individuums wurden wir uns alle aber zunehmend fremd. Man hat weniger Respekt vor der Meinung anderer Menschen und interessiert sich immer weniger für deren Lebenswirklichkeiten. In dieser Atmosphäre werden natürlich auch Menschen von außerhalb, Migrantinnen und Migranten und die Flüchtlinge, als fremder empfunden als das früher der Fall war.

Es fehlt ein sozialer Druck, der früher verhinderte, dass einzelne zu krass aus der Gesamtheit ausscherten. Man spürte deutlicher als heute, dass man füreinander verantwortlich war und passte aufeinander auf. Dieses schwindende Zusammengehörigkeitsgefühl sorgt auch dafür, dass wir bei anderen Menschheitsaufgaben nur so schleppend vorankommen. Corona und seine Folgen verursachen besonders deshalb so viel Zwist und Streit, weil wir viel zu oft gegeneinander und viel zu selten miteinander kämpfen. Ähnliches gilt für die Überwindung der Klimakrise. Keiner ist bereit, auf bestimmte Bequemlichkeiten und egoistische Befindlichkeiten zu verzichten – die anderen könnten ja mehr haben.

Dass es auch anders geht, hat die Menschheit in ihrer Geschichte schon mehrfach gezeigt. Ohne Wir-Gefühl und Respekt voreinander wären Errungenschaften wie die Aufklärung, die Frauenrechtsbewegung und die zahlreichen Arbeiterkämpfe nicht möglich oder zumindest nicht so erfolgreich gewesen. Die Amokläufe, Messerstechereien und Selbstmordattentate sind ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. All das sind keine importierten Probleme, sondern hausgemachte. Wenn wir wieder enger zusammenstehen, können wir solche Taten wie in Würzburg in Zukunft verhindern.

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Vorteile mit vielen Nachteilen

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Die Maske ist das offensichtlichste Symbol der Corona-Pandemie. Und sie ist eine der Hauptakteurinnen in der kontroversen Debatte um die Schutzmaßnahmen. Richtig angewendet, bietet sie einen guten Schutz vor einer Infektion mit dem Virus. Aber nicht jeder hält sich an die Maskenpflicht. Die Vorteile der Alltagsmaske sind viel zu wenig greifbar und treten hinter den unmittelbaren Nachteilen der Maßnahme zurück. Immer weniger Menschen scheinen in der Zwischenzeit dazu bereit zu sein, sich ernsthaft an dieser solidarischen Schutzmaßnahme zu beteiligen.

Nachteile auf hohem Niveau

Sie ist störend. Sie fühlt sich blöd an. Man bekommt schlechter Luft. Unter ihr wird es gerade im Sommer schnell stickig. Die Brille beschlägt. All diese Eigenschaften tragen mit Sicherheit nicht zur Beliebtheit der Alltagsmaske bei. Denn von Tag 1 an hat jeder diese Erfahrungen mit ihr gemacht. Und jeder, der etwas längere Haare hat, weiß auch: Sie ist nicht mit jeder Frisur kompatibel. Und beim Friseur ist sie gleich dreimal ungünstig. Trotz dieser Nachteile mit erstweltlichem Ausmaß ist sie DER Hit auf Plattformen wie Instagram & Co. Würde man die geteilten Bilder nach dem Kriterium „Maske“ filtern, man würde schier ertrinken in der Flut an Bildern, die einem inzwischen entgegenschwemmt.

Die Influencer in den sozialen Medien versuchen das beste aus der Krise herauszuholen. Sie funktionieren die Maske zu modischen Accessoires um, versehen sie mit glitzerndem Strass wie man es eigentlich nur von Lady Gaga erwarten würde. Wer sagt eigentlich, dass eine Schutzmaßnahme nicht auch gut aussehen darf? Doof anfühlen tut sie sich ja bereits.

Trotzdem sträuben sich immer mehr Menschen gegen die Maskenpflicht. Sie ziehen sie aus den oben genannten „Gründen“ entweder falsch auf oder verzichten ganz auf sie – als ob die Einschätzung der Infektiosität in ihren Händen läge. Viele Brillenträger unter ihnen machen sich dabei eine Art Behindertenbonus zunutze. Bei korrekt anliegender Maske könnten sie ja gar nichts sehen, die Brille würde ja aufgrund der warmen Atemluft sofort und dauerhaft beschlagen. Als Brillenträger kann ich euch nur sagen: ein Ammenmärchen. Aber gut, überlassen wir diesen Unbelehrbaren selbst die Entscheidung darüber, ob sie wegen eines angeblich übersehenen Laternenpfahls oder wegen einer Corona-Infektion auf der Intensivstation landen wollen.

Maskenmanko

Eine Brille ist übrigens keine legitime Befreiung von der allgemein gültigen Maskenpflicht. Aber nicht nur Brillenträger sehen die Maske inzwischen als nichts anderes als eine lästige Pflicht, die kaum Tragekomfort bietet und selbst mit Strasssteinen behämmert aussieht. Als solche kann sie praktisch nur Minuspunkte sammeln. Weil sie angeblich nur Nachteile mit sich bringt, lädt sie geradezu zur Umgehung ein. So rutscht die Maske gerne einmal unbemerkt unter die Nase und bedeckt mit viel Glück vielleicht noch die Unterlippe. Jeder Mensch weiß schließlich, wie hochinfektiös das menschliche Kinn ist.

Das große Manko der Maske: Man kann ihren Erfolg kaum sehen, geschweige denn mit Händen greifen. Denn die Maske ist eine Schutzmaßnahme. Sie soll also etwas abwehren. Gelingt ihr das, so gibt es kein positives Ergebnis. Immer wieder wird die Fallschirm-Metapher bemüht. Wir haben durch die Maske und andere Maßnahmen bereits so viel erreicht, lasst uns den Fallschirm jetzt nicht mitten im Fall abschnallen! Das ist ein zutiefst logisches Bild, das hier gezeichnet wird. Es ist aber leider keines, das die Masse überzeugt.

Denn der Mensch glaubt nur das, was er sieht. Verhinderte Infektionen lassen sich zwar aus sinkenden Infektionszahlen herausinterpretieren, es gibt aber keinen Counter, der die genaue Zahl abgewehrter Krankheitsfälle mitzählt. Und selbst die Anzahl an Neuinfektionen steigt seit Wochen wieder an. Wir haben es einer Minderheit von Verweigerern zu verdanken, dass sich auch in Deutschland wieder deutlich mehr Menschen mit dem Virus infizieren. Und das kann man anhand der Zahlen sehen. Bei vielen kommt dann an: Wir haben steigende Fallzahlen trotz Maskenpflicht. Das ist so aber nur die halbe Wahrheit. Wir haben steigende Zahlen wegen rücksichtsloser Menschen.

Schutz für sich selbst, Arbeit für andere

Auch einen weiteren Faktor sollte man nicht übersehen: Bei korrekter Anwendung schützt die Alltagsmaske vor allem andere vor einer Infektion, nicht den Träger selbst. Wir sind also darauf angewiesen, dass andere sich ebenso an die Maskenpflicht halten. Der mittelbare Erfolg der Maske kommt also gar nicht dem Träger zugute, sondern der Allgemeinheit. Das ist vielen zu wenig. Und es bleiben zu viele übrig, auf die man die Verantwortung abwälzen kann. Wenn ich mich hier nicht an die Maskenpflicht halte, aber anscheinend alle anderen doch, dann ist das Risiko auch weiterhin minimal. Diese Milchmädchenrechnung machen viele. Viel zu viele.

Sie sind nicht bereit, den geringen Tragekomfort und alle anderen Widrigkeiten der Maske auf sich zu nehmen, um die Gemeinschaft zu schützen. Dass sie sich damit selbst in Gefahr bringen, begreifen diese Leute nicht. Sie sehen nur die anderen, die sie gefälligst vor einer Infektion mit dem Virus zu schützen haben – notfalls mit dem Leben. Sie nehmen den Schutz der anderen gerne in Anspruch, ohne selbst etwas dazu beizutragen. Der Duden kennt dafür ein eindeutiges Wort: unsolidarisch.

Die Größe macht’s

Solidarität hängt nämlich häufig mit der Größe der Gemeinschaft zusammen. Je größer eine Gruppe oder Gemeinschaft, desto geringer ist die Bereitschaft von einzelnen, sich solidarisch daran zu beteiligen. Im Gegensatz zu Steuerzahlungen kann der Staat die Maskenpflicht zwar verordnen, aber nur sehr viel schwerer effektiv überwachen. Im Gegensatz zu Steuern hat bei der Maske letztendlich jeder die freie Wahl, ob er sie aufsetzt oder nicht.

Je größer die Gruppe ist, desto geringer ist auch die allgemeine Überzeugung von solidarischen Maßnahmen wie der Maskenpflicht. Im Mittel wird sie auf Dauer weniger ernsthaft praktiziert, wenn sich der einzelne der Zugehörigkeit zu einer weitaus größeren Gruppe versichert weiß. Ob die Maske getragen wird oder nicht, macht für den Moment selten einen Unterschied. Es sind die längerfristigen, kaum zuordbaren Folgen, von denen der Erfolg oder der Misserfolg der Schutzmaßnahme abhängt. Verweigerer sind also genau jene Schlupflöcher, die das Virus braucht, um sich weiter auszubreiten.


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Kein Rückgrat

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