Von Recht und Gerechtigkeit

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Vergangenen Sonntag hatten die Zuschauerinnen und Zuschauer die Wahl: Folgen sie zuerst dem Ermittler oder dem Juristen? Die ARD und die dritten Programme lieferten ein Fernsehspektakel, das es so noch nicht gab: ein Fall, zwei Filme. Basierend auf dem Buch von Ferdinand von Schirach stellten die beiden Filme die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Geschehene dar. Im Zentrum stand die Frage, ob Folter als Verhörmethode legitim wäre. In ausgewogener Weise beschäftigten sich die Filme mit beiden Standpunkten. Am Ende des Films war klar: Eindeutig beantworten die wenigsten diese Frage. Das ist ein Problem.

Äpfel und Birnen

Im TV-Event vom 3. Januar war in der zweiten Hälfte der Filme eine lange Gerichtsszene zu sehen. Kommissar Nadler schilderte die Ermittlungen aus seiner Perspektive. Er bekräftigte, dass er den Angeklagten Kelz für schuldig hielt. Doch Stück für Stück konnte der Anwalt des Angeklagten nachweisen, dass der Kommissar den Beschuldigten gefoltert hatte, um an den Aufenthaltsort des entführten Mädchens zu kommen. Der Kommissar begann, sich für seine Methoden zu rechtfertigen. Immer mehr wurde die Gerichtsverhandlung zu einem Kreuzverhör des Ermittlers.

Letztendlich ließ sich Nadler zu einem bemerkenswerten Vergleich hinreißen. Wenn ein Geiselnehmer einer Geisel die Waffe an die Schläfe hielt und sich sein Finger um den Abzug krümmte, dann dürfte der Polizist den Geiselnehmer in dieser Situation mit dem finalen Rettungsschuss töten, um das Leben der Geisel zu retten. In einem Entführungsfall dürfte er aber nicht foltern, um das Leben der entführten Person zu retten – auch dann nicht, wenn alle milderen Methoden wirkungslos blieben. Im Film nannte das Nadler eine Unverhältnismäßigkeit und einen Fehler im Gesetz. Im Hintergrund applaudierte ein Großteil der Zuschauer der Verhandlung. Keiner schien begriffen zu haben, dass der Kommissar gerade Äpfel mit Birnen verglichen hatte.

Kein Staat ohne Verbrechen

Sie haben den Rechtsstaat grundlegend falsch verstanden. Das oberste Gebot im Rechtsstaat ist nämlich nicht, Unrecht zu verhindern oder zu sühnen. Das oberste Gebot im Rechtsstaat ist, dass alle Menschen zu jeder Zeit die gleichen Rechte haben. Der Rechtsstaat macht keinen Unterschied zwischen einem Mörder, einem Kinderschänder und solchen, die sich an die Gesetze halten. Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Der Rechtsstaat macht keine Abstufungen bei den Rechten der Menschen, wie viele Straftäter es tun. Wer einen anderen Menschen tötet, der macht damit in letzter Konsequenz deutlich, dass er das Leben des Getöteten für geringwertiger als das eigene hielt. Für diesen Gedankengang darf im Rechtsstaat kein Platz sein. Das gilt für die Tötung eines Menschen genau so wie für die Folterung von Straftätern.

Denn die rechtlichen Grenzen im Rechtsstaat rühren vor allem daher, dass das Individuum vor Staatswillkür geschützt ist. Wer von einer Welt ohne Verbrechen und ohne Unrecht träumt, der hat ein edles Ziel vor Augen. Es ist aber ein unerreichbares Ziel, eine bloße Utopie. Wer eine Wahrheitsermittlung um jeden Preis will, wem es in erster Linie darum geht, jedes Unrecht zu sühnen, der verrät dieses edle Ziel. Wer das wirklich will, der wünscht sich in Wahrheit einen Polizeistaat herbei, wo Strafverfolgung vor Rechtssicherheit steht. Der Rechtsstaat ist kein Staat ohne Rechtsbrüche. Er ist ein Staat, der auch Rechtsbrechern unveränderliche Rechte einräumt. Das mag für viele zynisch klingen, ist aber der effektivste Weg, um nicht selbst zum Rechtsbrecher zu werden.

Ein schlaues Gesetz

Wie soll man aber mit Straftätern umgehen, die sich partout weigern, eine Aussage zu machen? Deren Aussage unter Umständen Leben retten könnte? In Schirachs Film hat Anwalt Biegler einen eindeutigen Standpunkt dazu, wenn diese Antworten ausbleiben: „Dann bekommen Sie eben keine. So einfach ist das.“ Auch das mag besonders für die Betroffenen unerträglich sein, trägt aber entschieden mehr zum Rechtsfrieden bei als eine Folterung des Beschuldigten. Denn auch Schweigen ist eine Art der Verteidigung, die im Rechtsstaat jedem Menschen gewährt werden muss. Die deutsche Justiz setzt hier besonders auf Anreize, die den Beschuldigten die Zunge lockern soll.

Das gute am deutschen Strafrecht ist nämlich, dass es ein ausgesprochen schlaues Strafrecht ist. Es geht nicht in erster Linie um die Bestrafung von Tätern, sondern um die Verhinderung weiterer Straftaten. Begeht ein Täter einen Mordversuch, bekommt dann allerdings Skrupel und versorgt sein Opfer, ruft vielleicht noch den Krankenwagen und rettet damit letztendlich das Leben seines Opfers, so wird er lediglich wegen eines Körperverletzungsdelikts vor Gericht gestellt. Das ganze nennen die Juristen den Rücktritt vom Versuch. Das deutsche Strafrecht räumt Tätern jederzeit die Möglichkeit ein, umzukehren und kein weiteres Unrecht zu begehen. Entsprechendes gilt für umfassende Geständnisse, die fast immer Strafmilderung zur Folge haben. Gerade bei Kapitalverbrechen hat sich die Kronzeugenregelung bewährt.

Nicht um jeden Preis

Nun gibt es aber Menschen, die meinen, dass Fingerabhacken und Waterboarding vielleicht doch einen Schritt zu weit gehen. In ihren Augen gibt es Foltermethoden, die humaner sind. Einige von ihnen befürworten die Verabreichung von Substanzen, welche die Beschuldigten redseliger machen sollen. Gesetzt den Fall, dass die verabreichten Chemikalien keinen physischen Schaden anrichten, so kommt diese Methode einer absoluten Entmündigung und Entrechtung der Täter gleich. Sie haben keine Wahl mehr, was sie sagen und ob sie überhaupt etwas sagen. Der Staat gibt hier vor, wer wann zu reden hat. Der Staat gibt vor, was die Wahrheit ist und was gerecht ist. Das steht keinem Staat zu.

In einem Staat, der sich der Einhaltung des Rechts verpflichtet hat, darf es keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis geben. Das kommt nämlich einer zügellosen, einer rechtslosen Verfolgung anderer gleich. Das Ziel mag noch so erstrebenswert sein, doch der Weg dahin macht viele selbst zu Monstern. Plötzlich findet man sich in derselben Position wie der Täter wieder. Man hat das Recht gebrochen, um einen anderen Rechtsbruch auszugleichen. Und fast noch schlimmer: Man hat den Täter zum Opfer gemacht. Krasser kann man sein Ziel nicht verfehlen.

Recht und Gerechtigkeit

Ein beliebtes Argument für Folter ist außerdem der erste Artikel unserer Verfassung. Warum soll die Würde des Täters gewahrt bleiben, wenn er die seiner Opfer mit Füßen getreten hat? Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Alle Staatsorgane müssen zu jeder Zeit die Verfassungsmäßigkeit ihres Handelns im Blick haben. Bricht ein Staatsorgan das Recht, so greift es in jedem Fall die Verfassung an. Bei Individualtätern muss das nicht so sein. Ein Mörder greift die Würde eines anderen Menschen zwar irreversibel an, der Schaden am Gemeinwesen ist in der Regel aber geringer, als wenn der Staat die Würde aller Täter pauschal herabsetzt. Er suggeriert dadurch, dass es den Täter gäbe. Das ist absolut falsch. Es gibt nicht den Täter, man wird zum Täter.

Es ist die Aufgabe des Staats, dafür zu sorgen, dass nicht zu viele Menschen zu Tätern werden. Das gelingt aber nur dann, wenn der Staat nicht selbst zum Täter wird. Im Gegensatz zu Einzelpersonen kann sich der Staat keine Emotionen erlauben. Dass die Betroffenen im Gerichtssaal den Angeklagten am liebsten foltern würden, ihm den Hals dafür umdrehen wollen, dass er einen geliebten Menschen getötet hat, ist verständlich. Der Staat muss dieser Blutlust vehement entgegentreten und alles in seiner Macht stehende tun, um das Unrecht trotzdem auszugleichen. Kommissar Nadler ist dieser Aufgabe in den Rücken gefallen, weil er die Emotionen der Betroffenen geschürt hat und ihren unbändigen Drang nach Vergeltung sogar befeuert hat.

Nadler saß einem uralten Irrtum auf. Er glaubte, dass Recht und Gerechtigkeit zwei unterschiedliche Dinge sind. Er hielt das geltende Recht für unfähig, Gerechtigkeit herzustellen. Das ist der schlimmste Verrat, den man am Rechtsstaat üben kann. Der Rechtsstaat muss immer darauf achten, dass Recht und Gerechtigkeit deckungsgleich sind. Nadler hat dieses Verhältnis verschoben. War es das wert?

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