Unvergessen

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Kuriose Geschichtchen, bittersüßer Gossip und frevelhafte Obszönitäten – die Plattform X bietet seinen Nutzern seit vielen Jahren eine Plattform für all das was dringend gesagt werden muss und für das, was vielleicht lieber ungesagt geblieben wäre. Mit der Umbenennung des Messengerdiensts haben jedoch viele noch immer Probleme. Der Deutsche Historikerverband nahm dieses Phänomen nun zum Anlass, um sich Gedanken zu machen über sprachliche und historische Vielfalt.

Twitter heißt jetzt X. Und das schon seit einem halben Jahr. Würde nicht hinter jeder Nennung des Kurznachrichtendiensts ein entsprechender Hinweis platziert werden – die meisten hätten die Umbenennung gar nicht als solche wahrgenommen, sondern wären von einem völlig neuen Messenger ausgegangen. Ein neuer Name für den Internetdienst mit dem blauen Vogel macht sogar Sinn: X (ehemals Twitter) hat seit seiner Gründung 2006 eine ordentliche Wandlung hingelegt. Einst angelegt als digitales Stadtgeflüster über Stars und Sternchen nutzen es heute auch bedeutende Institutionen, Unternehmen und sogar Politiker, um ihre Follower über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.

Aus Twitter mach X

Eine ganz neue Dimension erreichten diese Kurzbotschaften mit 280 Zeichen unter dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Twitter ist sein Hauptmedium, um Obszönitäten, politische Halbwahrheiten und Schimpftiraden loszuwerden. Geschickt instrumentalisierte er den Kurznachrichtendienst und erreichte damit mindestens ein Millionenpublikum. Sein Wahlsieg 2016 hing maßgeblich mit seinem Erfolg auf Twitter zusammen.

Obwohl also vieles für eine Umbenennung von heute X und früher Twitter sprach, ist diese so wenig naheliegend, dass ständig darauf hingewiesen werden muss. Der Firmenname Twitter mitsamt seinen Tweets orientierte sich am Zwitschern eines Vögleins und legte damit die Zielsetzung des Nachrichtendiensts fest: das Teilen belangloser oder skurriler Begebenheiten und Informationen. Der Name X hingegen ist zwar einprägsam, kommt gegen die lange Tradition von Twitter aber nicht an. Zu wenig Assoziationen ruft der neue Name hervor. Um es in wenigen Worten zu sagen: Die Umbenennung zu X war ein PR-GAU.

Mehr geschichtliche Vielfalt

Deswegen sehen sich die Medien dazu gezwungen, bei jeder Nennung des Nachrichtendiensts auf seinen viel bekannteren ehemaligen Namen hinzuweisen. Dies geschieht allerdings ohne Struktur und verwirrt Leser, Zuschauer und Zuhörer immer wieder. Einmal begegnet ihnen die Formulierung „vormals Twitter“, dann heißt es wieder „ehemals Twitter“.  Beliebt sind daneben auch „früher Twitter“ und „einst Twitter“. Um in dieses Konglomerat aus möglichen Bezeichnungen wieder Ordnung zu bringen, hat der Deutsche Presserat nun eine Entscheidung getroffen und legt unumstößlich fest: Es heißt in Zukunft „X (ehemals Twitter)“.

Diese Sprachregelung rief schnell andere Disziplinen auf den Plan. Besonders deutlich meldete sich der Deutsche Historikerverband zu Wort. Dieser sieht im Beschluss des Presserats einen ungerechten Präzedenzfall. Andere Institutionen, Anbieter oder gar Personen wären durch die neue Regel potenziell benachteiligt, weil nicht ausreichend auf deren Vergangenheit eingegangen würde. Die Geschichtswissenschaftler fordern daher, dass die geschichtliche Vielfalt wie bei X (ehemals Twitter) grundsätzlich auf alle natürlichen und juristischen Personen ausgeweitet wird.

Mit gutem Beispiel voran

Um sich ein besseres Bild von dieser sprachlichen und geschichtlichen Vielfalt machen zu können, warteten die Historiker sogleich mit schlagkräftigen Beispielen auf. Naheliegend ist beispielsweise die Nennung des Mädchennamens bei zwischenzeitlich verheirateten Personen. Die Regelung geht aber noch weiter: So weisen die Urheber der neuen Regel auf den ehemaligen Namen der Supermarktkette REWE hin. Vielen wird die ehemalige Bezeichnung „MiniMal“ sicher noch ein Begriff sein. Auch beliebte Marken wie Twix (ehemals Raider) und finish (ehemals Calgonit) sollen in ihrer historischen Gänze abgebildet werden. Vergleichbares gilt für politische Parteien wie zum Beispiel die AfD (ehemals NSDAP).

Die Sprachwissenschaftlerin Constanze Bergmann (ehemals Schmidt) ist von der sprachlichen Ergänzung begeistert: „Mit dieser neuen Regelung nähern wir uns einer allumfassenden Sprache. Wir ermöglichen es damit jedem, wertvolle historische Fakten über handelnde Personen kennenzulernen (ehemals kennen zu lernen). Damit leisten wir auch einen wertvollen Beitrag im Kampf gegen Fake News (ehemals Falschnachrichten).“

Zu dem Vorhaben der Historiker gibt es allerdings auch kritische Stimmen. So äußert der Gesellschaftswissenschaftler Brutus Klausen erhebliche Zweifel an der Umsetzbarkeit der neuen Maßnahme (ehemals Massnahme): „Wenn wir nun auf sämtliche Begebenheiten der Vergangenheit hinweisen, wird das dazu führen, dass (ehemals daß) insbesondere die Medien künftig vor einer kaum zu bewältigenden Flut (ehemals Ebbe) an Aufgaben stehen werden.“

Als fortschrittliche Redaktion gehen wir jedoch mit gutem Beispiel voran. Alle Beiträge werden daher ab sofort um die volle historische Bandbreite erweitert. Darum verzögert sich die Veröffentlichung der bereits verfassten Artikel um wenige Tage, weil sie entsprechend überarbeitet werden müssen. Freuen Sie sich aber schon heute auf wertvolle Beiträge, die sich mit der Ukrainepolitik von Bundeskanzler Olaf Scholz (ehemals Finanzminister, ehemals Erster Bürgermeister Hamburgs, ehemals Arbeitsminister), der Parteineugründung von Sahra (ehemals Sarah) Wagenknecht (BSW (ehemals parteilos, ehemals Die Linke, ehemals PDS, ehemals SED, ehemals parteilos)) und der qualvollen Zucht von Kühen (ehemals Kälbern) und Schweinen (ehemals Ferkeln) beschäftigen.

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