Lesedauer: 7 Minuten
Im vorletzten Jahr starben mehr als 400 Menschen durch Verkehrsunfälle auf deutschen Autobahnen. Damit setzte sich der Trend einer steigenden Opferzahl fort. Trotzdem protestieren viele gegen ein generelles Tempolimit auf der Autobahn. Dem Parlament ist es bisher nicht gelungen, ein solches gegen den enormen Widerstand einzuführen. Ein Kompromiss des Bundesverkehrsministeriums soll nun Abhilfe schaffen. Ein Tempolimit wird zwar eingeführt, doch jeder hat zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, dem zu widersprechen.
Ein guter Kompromiss?
Karl Lauterbach mag mit seinem Vorstoß für die Widerspruchslösung bei der Organspende vergangenen Monat im Bundestag gescheitert sein. Die Mehrheit der Abgeordneten stimmten für die Entscheidungslösung, die unter anderem die Grünen-Vorsitzende Annalena Bearbock befürwortet. Ganz vom Tisch ist das Konzept „Widerspruch“ allerdings nicht. Jüngst konnten sich führende Verkehrspolitiker mit einem ähnlichen Anliegen in Bezug auf das hochumstrittene Tempolimit auf deutschen Autobahnen durchsetzen. Obwohl Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) immer wieder betonte, er sei gegen ein generelles Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde, musste er dem Kompromiss zähneknirschend zustimmen.
Dieser sieht vor, dass eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 Sachen auf Autobahnen zwar ab sofort in Kraft tritt, geschädigte Autofahrer allerdings jederzeit die Möglichkeit haben, Widerspruch gegen diese Regelung einzulegen. So soll unter anderem gewährleistet werden, dass jeder deutsche Autofahrer frei und ohne jede Einmischung von außen sein Fahrzeug führen kann. Wer nicht widerspricht, muss sich natürlich an die zulässige Höchstgeschwindigkeit halten.
Ein wünschenswerter Effekt
Die Verkehrspolitiker sahen dringenden Handlungsbedarf. Immerhin ist überhöhte Geschwindigkeit die häufigste Ursache für tödliche Verkehrsunfälle. Auf Autobahnen gäbe es zwar die wenigsten Unfälle dieser Art, aber die meisten tödlichen. Angelehnt an die Widerspruchslösung bei der Organspende wollen die Abgeordneten nun die Anzahl der Todesfälle auf deutschen Autobahnen drastisch reduzieren.
Die Idee hinter der neuen Verkehrsregel ist simpel: In Ländern, in denen der Organentnahme ausdrücklich widersprochen werden muss, steigt die Zahl an erfolgreichen Organtransplantationen kontinuierlich. Die wenigsten Menschen in diesen Ländern widersprechen einer Organspende. Die Verkehrspolitiker erhoffen sich eine ähnliche Entwicklung beim Tempolimit. Wenn möglichst wenige Menschen aktiv widersprechen, kann sich eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen gesellschaftlich etablieren.
Fortsetzung folgt?
Die Abgeordneten sind sich einig: Sie haben einen guten Kompromiss gefunden. Einerseits tragen sie der hohen Zahl an Verkehrstoten Rechnung, andererseits zwingen sie niemanden, mit weniger als 200 Kilometern pro Stunde über die Autobahn zu brettern. CDU-Abgeordnete Claudia Höckers ist sich sicher: „Mit diesem Beschluss haben wir der Debatte eine Menge an Zündstoff entnommen.“
Auf Drängen der Union ist nun eine Ausweitung der Regelung auf alle deutschen Straßen im Gespräch. So sollen auf ausgewählten Streckenabschnitten die Verkehrsschilder, die auf eine zulässige Höchstgeschwindigkeit hinweisen, probeweise mit einem grünen statt einem roten Rand versehen werden. So ist ersichtlich, ob die Begrenzung für alle Verkehrsteilnehmer gilt oder nur für solche, die nicht widersprochen haben.
Ein einfaches Prozedere
Der tatsächliche Widerspruch kann bei jeder Stadt- oder Gemeindeverwaltung beantragt werden. Entsprechende Antragsformulare gibt es außerdem bei den meisten Beerdigungsinstituten sowie auf der Internetseite der Landesverkehrsministerien und des Bundesministeriums. Die weitere Prozedur ist mit dem Verfahren beim Widerspruch zur etwaigen Organspende vergleichbar. So muss der Widersprecher im weiteren Verlauf eine Stellungnahme von mindestens 1.000 Wörtern formulieren und sich bei einer öffentlichen Anhörung zu seinem Widerspruch äußern. Die schriftliche Stellungnahme darf nicht von Dritten verfasst werden und ist mit einer eidesstattlichen Versicherung zu beglaubigen.
Die öffentliche Anhörung findet in der Regel vor dem Bezirksamtsgericht statt. Der Anhörung wohnen neben dem Widersprecher und einem unabhängigen Richter auch ein Beauftragter des zuständigen Landesverkehrsministeriums sowie 100 zufällig ausgewählte Zuschauer bei, deren nahe Angehörige bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen sind. Der Tempolimit-Gegner hat das Recht auf einen rechtlichen Beistand, nicht aber den Anspruch darauf. Alle zugelassenen Anwesenden haben die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen. So können die Zuschauer das Anliegen des Widersprechers kritisch hinterfragen und auf seine Ernsthaftigkeit überprüfen.
Am Ende der Verhandlung muss der Antragssteller zudem sein bestes Stück zur Schau stellen. Der geschulte Mitarbeiter des Ministeriums nimmt dann Maß. So soll verhindert werden, dass der Antragssteller nicht nur deswegen über die Autobahn preschen will, um die Winzigkeit besagten Körperteils zu kompensieren. Die gesetzlichen Mindestlängen gibt jedes Bundesland gesondert vor. Dies rief besonders bei männlichen Abgeordneten Unmut hervor, die diesen Teil der Regelung kritisieren. CSU-Mann Joseph Gerstmaier ist entrüstet: „Hier wird aktiv das Klischee befördert, dass manche Bundesdeutsche ein größeres Gemächt haben als andere, gestaffelt nach Bundesland. Dabei wissen doch alle, dass wir Bayern…Sie wissen, was ich meine.“
Widerspruchslösung ohne Widerspruch
Effektiv trat die neue Regelung zu Jahresbeginn in Kraft. Die Resonanz darauf ist unterschiedlich. Von den prognostizierten 5 Millionen zu erwartenden Anträgen bereits im ersten Monat des Jahres gingen bei den zuständigen Behörden bundesweit gerade einmal vierzehn solcher Anträge ein. Grundlage für die verfehlte Prognose waren entsprechende Bekundungen von Tempolimit-Gegnern in sozialen Netzwerken. Offenbar halten es viele Skeptiker allerdings für einfacher, sich an eine Höchstgeschwindigkeit zu halten, anstatt die Mühlen der Bürokratie zu durchlaufen.
Von den eingegangenen Anträgen mussten zehn bereits im Ansatz abgelehnt werden, weil die schriftlichen Stellungnahmen nicht den geforderten Kriterien entsprachen. So schafften es rund 70 Prozent der Antragssteller bisher nicht, mehr als drei Sätze zu ihrem Anliegen zu formulieren. In allen vorliegenden Anträgen wiesen die Stellungnahmen zudem eklatante Mängel in Bezug auf Rechtschreibung und Zeichensetzung auf. Experten führen das auf eine Verrohung nicht nur der deutschen Sprache, sondern insbesondere der deutschen Rechtschreibung im Internet zurück. Sofern die Gründe für den Widerspruch aus den Stellungnahmen ersichtlich wurden, erinnerten sie in den meisten Fällen eher an die Kommentarspalte von sozialen Netzwerken. Fast die Hälfte der Antragssteller versahen ihre schriftlichen Ausführungen mit Emojis.
Es geht um Menschenleben
Eine kürzlich durchgeführte Straßenumfrage lieferte ein ganz neues Bild. Von den 155 zufällig befragten Passanten konnten gerade einmal zwei etwas mit der Widerspruchslösung in Bezug auf eine Höchstgeschwindigkeit anfangen. Alle anderen Befragten gingen schulterzuckend weiter oder dementierten, jemals etwas von einer solchen Regelung gehört zu haben. Anscheinend hat die neue Gesetzeslage noch nicht die Algorithmen von facebook & Co. erreicht und konnte somit auch noch nicht in die Blase mancher Menschen vordringen.
Trotzdem gaben gut zwei Drittel der Befragten an, sie stünden einem Tempolimit zwar skeptisch gegenüber, würden einer solchen Regelung allerdings nicht aktiv widersprechen. Die meisten begründeten das mit einem zu hohen bürokratischen Aufwand oder schlichten ethischen Bedenken. So ist die Grafikdesignerin Lydia Schulz (Name geändert) besorgt: „Ein generelles Tempolimit halte ich zwar für nicht sinnvoll, aber trotzdem habe ich Skrupel, dem zu widersprechen. Es geht hier immerhin um Menschenleben.“