Eine Frage der Möglichkeiten

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Der Mensch ist Meister darin, stets das beste aus seiner Situation zu machen. Herausragende Erfindungen und Fortschritte waren so möglich. Dabei findet der Mensch auch immer einen Weg, seine Neigungen und Gelüste auszuleben, zumindest soweit es ihm möglich ist. Neugier, die Lust auf Ungebundenheit und der Drang sich zu beweisen wohnen dem Menschen ganz natürlich inne. Es gibt aber Kanäle, die es kinderleicht machen, diesen Neigungen freien Lauf zu lassen. Viel zu leicht…

Motivation schafft Genies

Seit Jahrtausenden besiedelt der Mensch die Erde. Und er ist zu außergewöhnlichem fähig: er bildete Staaten, bändigte das Feuer, er baute Pyramiden, flog zum Mond und er rottete Krankheiten wie die Pest aus. Mit der richtigen Motivation ist jeder Mensch zu Bestleistungen fähig. Doch so gut wie die menschlichen Errungenschaften auch sind, der Mensch schafft es stets, aus den geschaffenen Möglichkeiten das negativste Potenzial herauszuholen.

„Krieg“ mögen die meisten jetzt denken. Und es stimmt. Ohne den Menschen gäbe es keinen Krieg auf diesem Planeten. Doch so weit muss man gar nicht gehen. Es reicht ein Blick in den Alltag, um zu erkennen, dass manche Muster die Zeiten überdauern.

Altes Problem in neuem Gewand

Man kennt es: Auf einer Autobahn ist ein schwerer Verkehrsunfall passiert. Die Rettungskräfte sind eiligst unterwegs. Beim Bilden der Rettungsgasse stoßen viele an ihr intellektuelles Limit. Feuerwehr und Polizei geraten ins Stocken. Klingt schlimm? Geht aber noch schlimmer.

Kaum ein Bericht über Verkehrsunfälle kommt heute ohne den Verweis auf Gaffer aus, die die Arbeit der Einsatzkräfte zusätzlich erschweren. Anstatt beiseitezutreten und die Profis ihre Arbeit machen zu lassen, denken sie nur an die höchstmögliche Zahl an Klicks, die sie für ihre private Live-Berichterstattung erhalten. In zahlreichen Talkrunden und Fernsehbeiträgen wurde dieses Phänomen aufgegriffen und heiß diskutiert. Das Problem ist also bekannt. Aber nicht neu.

In Sekunden zum Insta-Fame

Zugegeben, neu ist die Ausprägung des Phänomens. Viele werden sagen: „Solche Gaffer hat es früher nicht gegeben.“ Ein bisschen stimmt das auch. Aber woran liegt denn das? Sicher nicht daran, dass der Mensch erst in den letzten Jahren so widerwärtig neugierig und pietätlos geworden ist. Die meisten konnten schlicht und ergreifend nicht so gaffen, wie sie es heute tun.

Man versuche, sich einmal vorzustellen, wie grotesk eine solche Filmerei in den 1980er-Jahren gewirkt hätte. Da stehen sie zuhauf und filmen mit ihren VHS-Kameras jeden Handstreich der Sanitäter. Zu Hause konvertieren sie dann die Aufnahme in ein passendes Dateiformat, um sie per Internet möglichst vielen zugänglich zu machen. Vollkommener Quatsch. Selbst wenn es das Internet deutlich früher gegeben hätte: es wäre viel zu aufwändig gewesen, die Aufnahmen aus den alten Kameras hochzuladen.

Heute ist das natürlich völlig anders. Bereits wenige Sekunden nach Aufnahme können Fotos einem Millionenpublikum präsentiert werden. Das Internet vernetzt schließlich alle. Moderne Technologien wie das Smartphone leisten ihr übriges. Innerhalb weniger Momente kann die menschliche Neugierde sowie der Drang zur Selbstdarstellung befriedigt werden.

Die Macht der Vielen

Mit jedem hochgeladenen Selfie von der Unfallstelle wird der Fotograf gleichzeitig auch zum Herdentreiber. Jedes hochgeladene Bild und jeder veröffentlichte Clip treibt andere dazu, es den glorreichen Entertainern gleichzutun. Dieses Prinzip funktionierte schon immer. Es gibt die Möglichkeit, also wird sie genutzt. Beispiel Silvesterböller: Vollmundig verspricht man, in diesem Jahr weniger zu böllern. Doch was ist das?! Die Knaller gibt’s bei Kaufland im Sonderangebot? Schnell zugreifen, bevor der Nachbar einen besseren Fang macht! Es gibt die Möglichkeit, also wird sie genutzt.

Die Empörung über Silvesterböller steht dabei der Empörung über Gaffer bei Unfällen in nichts nach. Alle bekunden sie, wie abartig und widerwärtig sie das doch finden. Und trotzdem finden sich zahllose solcher Clips im Netz ein. Man kann es ja schließlich machen.

Der Star in dir

Die schier unendliche Reichweite des Internets triggert den Menschen. Jeder strebt ganz natürlich danach, in einem möglichst guten Licht dazustehen und den anderen zu überbieten. Moral und Anstand sind Grenzen, die für andere gelten. Heute kann jeder alles sein. Ob Reporter mit Low-Quality – Bildern vom Unglücksort, ob Politiker mit alternativen Fakten auf facebook oder als das was jeder sein will: Ein Star. Reality-TV á la RTL II macht’s möglich.

Hate Speech in der Kommentarspalte funktioniert übrigens ganz ähnlich wie das sinnfreie Gepose neben einem Autounfall. Viele machen es, also warum nicht auch ich? Es tut doch keinem weh. Und außerdem hat dieser Bastard eine andere Meinung als ich, also schnell mal raushauen, was ich davon halte. Bei der Hate Speech kommt allerdings noch die Anonymität erschwerend hinzu. In Foren mit Fantasienamen ist es schwierig, Autoren für ihre Kommentare haftbar zu machen.

Bei mir geht’s doch nicht

Doch genug von Autounfällen und obskuren Ergüssen im Kommentarfeld. Die Generation „Früher war alles besser“ beklagt nicht nur das grassierende Problem der Gaffer. Ihrer Meinung nach waren die Menschen früher nicht nur anständiger, sondern auch verlässlicher. Und jeder hat es doch schon mal erlebt: Man hat sich mühevoll mit einer anderen Person auf einen Termin geeinigt, um sich nach Monaten der Trennung endlich einmal wiederzusehen. Doch dann funkt die schicksalhafte Nachricht auf WhatsApp dazwischen und macht alle Hoffnungen zunichte: Mit wenigen Buchstaben wurde soeben die komplette Tagesplanung über den Haufen geworfen.

Und warum gab’s so was früher nicht? Ganz einfach, Absagen war früher schwerer. Heute reicht eine belanglose Nachricht über einen Messenger oder ein kleiner Mausklick bei Doodle, um Termine zu stornieren. Das ist nicht nur einfacher, sondern auch unpersönlicher. Früher musste man zumindest zum Telefonhörer greifen, um von dem Malheur mit der Milchflasche zu berichten oder die plötzliche Erkrankung der Hauskatze zu beichten. Die Reaktion über die Leitung erfolgte prompt. Dieser Reaktion kann man sich heute spielend leicht entziehen. Nachricht abgeschickt und schon liegt das Gerät im Eck.

Den meisten wird es aber auch erschreckend einfach gemacht. In einer so eng durchgetakteten Welt wie der heutigen ist ein jeder natürlich froh, wenn die Terminplanung von anderen übernommen wird. Diese externe Terminplanung via Doodle & Co. verkompliziert allerdings eine Sache, die früher wesentlich schneller von der Hand ging. Und wenn doch einmal was dazwischenkommt, dann ist es eben so. So einfach wie heute Absprachen erschüttert werden können, so leicht sollte man doch auch umplanen können. Glauben zumindest viele. Zum Absagen gehört also weiterhin eine gewisse Portion Taktlosigkeit. Doch die Hemmschwelle dazu liegt heute wesentlich niedriger.

Generation „Vielleicht“

„Vielleicht“ avanciert immer mehr zur Universalantwort auf Verabredungen. Vielleicht kann ich, vielleicht aber auch nicht. Schauen wir mal. Der Mensch legt sich eben nicht gerne fest. Früher musste er das. Heute nur noch selten. Bestes Zeugnis für diesen Vielleicht-Lifestyle ist der regelrechte Bestell-Wahnsinn mancher Online-Käufer. Sie bestellen Kleider in verschiedenen Größen, in der Hoffnung, dass eine Anfertigung schon passt. Was nicht passt oder sich doch eher als Fehlgriff erweist, wird kaltschnäuzig zurückgeschickt.

Weil sie es können. Ein Ausflug ins Kaufhaus inklusive mühsamer Anprobe und einer definitiven Entscheidung vor Ort ist eben zeitaufwändig. Vor allem, wenn die gleichen Strapazen für einen Umtausch erneut ins Haus stehen. Was für eine Verrenkung. Muss man allerdings nur einmal klicken, kurz auspacken, die Augen verdrehen und den Kladeradatsch zurückgehen lassen, sieht die Welt schon anders aus. Alles eine Frage der Möglichkeiten.

Eine Frage der Möglichkeiten

Viele glauben, die Gesellschaft hat sich verändert. Sie glauben, bestimmte Zeiten sind daran schuld, dass viele heute so unanständig geworden sind. Sie meinen, es seien die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Menschen mit ihren Smartphones zur Unfallstelle treiben oder zum unberechenbaren Gegenüber machen. Dass die Menschen früher besser waren. Ich muss widersprechen. Denn nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geben die Möglichkeiten vor. Es sind die Möglichkeiten, die gesellschaftliche Rahmenbedingungen befördern.


Ein kleiner Junge liegt am Ufer der Elbe. Er ist tot. Ermordet. Die Spurensicherung und die Polizei sind vor Ort. Die Kommissarin kann es nicht glauben: im Hintergrund drängen sich dutzende Schaulustige gegen die Polizeiabsperrung. Ihre Smartphones ragen empor, sie machen Fotos. Angewidert wendet sich die Kommissarin ab. Sie kann es nicht fassen. Ihre Kollegin beschwichtigt sie: „Die waren immer schon so. Früher gab’s nur keine Smartphones.“ Wie recht die Tatort-Kommissarin hatte.

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