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Filme über das Coming-Out junger Leute gibt es heute noch und nöcher. Viele von ihnen ähneln den anderen. Es geht häufig darum, dass ein junger Mensch seine sexuelle Orientierung erkennt und lernt, sie anzunehmen und mit ihr zu leben. Andere Filme setzen sich gezielt mit der Thematik Homophobie und Diskriminierung auseinander. Wieder andere Filme verbinden all diese Elemente. So auch Heiner Carows Film „Coming Out“. Und trotzdem ist dieser Film herausragend. Mit dem Jahr 1989 erschien er sehr früh in der Geschichte des schwulen Kinos. Doch der Film begnügt sich nicht mit einer simplen Darstellung eines schmerzhaften Coming-Outs. Er geizt auch nicht mit Kritik an den damaligen Verhältnissen und einer Überstrapazierung so manchen Geistes.
Kultklassiker im Newsfeed
Die Algorithmen von Google und Co. sind schon manchmal unergründlich. Bisweilen haben sie allerdings auch eine so hohe Trefferquote, dass es fast unheimlich wird. Für Corona interessiert sich derzeit jeder und auch der Klimawandel ist noch nicht ganz vom Tisch. Artikel und Videos zu diesen Themen gibt es zuhauf, dazu muss nicht extra ein komplizierter Algorithmus generiert werden. Jenseits dieser offensichtlichen Themen wissen die Algorithmen der Internetgrößen aber doch ziemlich genau, was für jemanden interessant sein könnte. So habe ich dank YouTube erst kürzlich meine Leidenschaft für Haustiervideos entdeckt. 50 Leckerlies und gefühlt unendlich viele Umdrehungen bei der Jagd auf den eigenen Schwanz später schlug mir das World Wide Web allerdings noch einen weiteren Leckerbissen vor: den DDR-Kultfilm Coming Out, aus der Feder von Wolfram Witt und unter Regie von Heiner Carow.
Der Plot des Films ist schnell erklärt. Der junge Lehrer Philipp entdeckt seine Homosexualität und lernt Matthias kennen, mit dem er eine heimliche Beziehung beginnt. Problem: Philipp ist bereits mit seiner Kollegin Tanja zusammen. Es kommt wie es kommen muss. Philipps Geheimnis kommt für alle Beteiligten ans Licht. Schließlich muss Philipp lernen, zu seiner Veranlagung mit allen Konsequenzen zu stehen. Was zunächst ziemlich seicht und mainstreaming anmutet, war in der Spätphase der DDR eine regelrechte Revolution auf Leinwand. In keinem der beiden Deutschlands hatte es zuvor einen Film mit so zentral schwuler Thematik gegeben.
Mehr als schwules Kino
Okay, das historische ist damit abgehakt. Der Vollständigkeit halber erwähnt sei noch, dass der Film am 9. November 1989 Premiere feierte, ein Datum, welches für den Film sicherlich Fluch und Segen zugleich ist. Doch was ist es, das diesen Film von allen anderen frühen Versuchen unterscheidet, dem breiten Publikum das Thema Homosexualität und Coming-Out näherzubringen?
Die Antwort ist einfach: Der Film hat so viel mehr zu bieten als einen an sich recht flachen Plot, der trotz allem hochkontrovers war. Wer den Film schaut, hat eher das Gefühl, Zuschauer bei einem Theaterstück zu sein als auf dem heimischen Sofa mit aufgeklapptem Laptop zu sitzen. Denn der Film ist tatsächlich sehr intelligent inszeniert. An vielen Stellen muss der Zuschauer mitdenken, um zumindest einen Teil des gezeigten zu begreifen. Wichtigstes Instrument dazu sind Symbole, von denen der Film geradezu strotzt.
Spot the easter eggs
Manche dieser Symbole sind reine Easter Eggs, die wohl mit einem Augenzwinkern aufgenommen werden können. Wenn Philipp am Ende des Films endlich zu seiner sexuellen Orientierung steht, sieht man in der letzten Kameraeinstellung kurz ein Wendeverbotsschild. Philipp fährt mit seinem Fahrrad in ein neues, in ein befreites Leben, ein Umkehren ist nicht mehr möglich.
Andere Symbole im Film sind wesentlich wichtiger für die Handlung. Der Soundtrack des Films wird geschickt genutzt, um Einblicke in das Innenleben der Charaktere zu ermöglichen. Die fröhliche Musik aus den Clubs und die anmutigen Töne aus den Konzertsälen weichen immer wieder einer unbehaglichen Musik aus Streichern, die natürlich die innere Zerrissenheit und Verwirrung des Protagonisten Philipp wahrnehmbar macht.
Zwei in einem
Dann sind da noch greifbare Dinge, die im Laufe des Films eine immer größere Dynamik gewinnen. Der Schmuck von Tanja und Matthias ist die offensichtlichste Darstellung des Parallelismus, der dem Film von Beginn an innewohnt. Dabei sind es nicht nur die Armreifen, die Philipp beiden geliebten Personen schenkt oder die dreieckigen Ohrringe, die sowohl Tanja als auch Matthias am rechten Ohr tragen – mit besonderem Augenmerk auf die dreieckige Form der Ohrringe und der Konstellation zwischen den Charakteren. Es sind auch die Verläufe der beiden Parallelbeziehungen, die sich fast gleichen.
So spielen die Geburtstage der Charaktere eine zentrale Rolle. Philipp kommt Matthias an dessen Geburtstag näher. Gleich zweimal sitzt Philipp mit Tanja an deren Geburtstag in einem Konzert. Beim ersten ist sie glücklich mit ihm, beim zweiten kommt sie hinter sein Geheimnis und trennt sich von ihm. Auch die Szenen, in denen körperliche Liebe dargestellt wird, ähneln sich stark. Philipp kann sich nicht daran erinnern, dass er und Tanja einst zusammen studierten. Matthias‘ Namen erfährt Phillip erst, als er sich mit ihm in seine Wohnung zurückzieht. Er beginnt einen Satz mit „Du heißt Matthias.“ und antwortet damit sehr verspätet auf Matthias Feststellung „Du heißt Philipp!“ ungefähr zehn Laufzeitminuten früher.
In beiden Beziehungen wird Philipp auch leicht von der Gegenseite überrannt. Tanja sieht in ihm offenbar die Liebe ihres Lebens. Als er sie fragt, ob sie ihn als Mann attraktiv finde, interpretiert sie das als halben Heiratsantrag. Bei der ersten intimen Begegnung zwischen Philipp und Matthias nimmt Matthias sogleich die Stellung als Phillips fester Freund für sich in Anspruch. Philipp widerspricht all dem nicht. Er lässt sich treiben, in der naiven Hoffnung, beide halten zu können und beide glücklich zu machen. Am Ende macht er beide unglücklich und verliert auch beide.
Charaktere mit Wiedererkennungswert
So übersichtlich die Handlung an sich ist, so leicht überschaubar sind auch die wichtigen Charaktere im Film. Die meisten von ihnen wirken zunächst austauschbar und oberflächlich. Tatsächlich sind manche von ihnen derart dicht konstruiert, dass sie metaphorische Ausmaße annehmen. Tanja ist mehr als nur die zweite oder dritte Geige. Sie mag verletzt sein von Philipps Verhalten, doch es ist ihre persönliche Stärke, die ihr die Kraft gibt, ihren Geliebten freizugeben und nicht rachsüchtig zurückzuschlagen.
Phillips Figur genießt dafür einen hohen Wiedererkennungswert. Zum einen, weil er die Geschichte von Drehbuchautor Wolfram Witt nachzeichnet, zum anderen, weil seine Geschichte stellvertretend für so viele andere schwule junge Männer steht. In den Grundzügen kann sich jeder Schwule in die Gefühlswelt von Philipp versetzen. Dass ein Coming-Out nicht immer schmerzfrei verläuft, zeigen so viele andere Filme dieser Art aus den letzten Jahren.
Der Charakter von Matthias ist wahrscheinlich der metaphorischste im ganzen Film. Schon bei seiner ersten Begegnung mit Philipp ist er der geheimnisvolle Fremde, der die ganze Zeit auf Philipp gewartet hatte. Verdeutlicht wird das durch die weiße Theaterschminke im Gesicht, die eher wie eine Maske wirkt. Sein Gesicht, als Philipp ihm Tanja vorstellt, spricht wahrlich Bände. In sehr überspitzter Form ist Matthias die Verkörperung des Gefühls, das jeder Schwuler jedes Mal dann spürt, wenn er einen Jungen mit einem Mädchen sieht.
Lutz. Wer ist eigentlich Lutz?
Und dann ist da noch die Rolle des Lutz. Wer ist eigentlich Lutz? Zumindest fragte ich mich das, als Matthias diesen ominösen Kerl am Ende des Films als seinen neuen Partner präsentierte. Wo kam der auf einmal her? Erst nach und nach fiel mir auf, dass sich ebendieser Lutz wie ein viel zu schlecht wahrnehmbares Gespenst durch den Film schlängelte. Tatsächlich ist er nämlich einer von Philipps Schülern, der dem Lehrer mehr als einmal beachtlich nahekommt. Da ist zum einen die menschliche Geste, als Lutz seinem Lehrer in der Zauberflöte ein Taschentuch reicht. Zum anderen sieht man Lutz, wie er eine Mitschülerin barsch zur Seite stößt, nachdem Philipp von einer Gruppe Neonazis attackiert worden war.
Lutz ist der Inbegriff der Verworrenheit des ganzen Films. Nicht nur Philipps Gerüst aus Lügen und Ausflüchten wirkt brüchig. Auch der Inszenierung des Streifens ist nicht immer leicht zu folgen. Der ganz am Anfang gezeigte Selbstmordversuch von Matthias – passierte der wirklich vor der Handlung oder gab es einen Zeitsprung und Matthias versuchte sich erst nach der Trennung von Philipp das Leben zu nehmen? Immerhin spielt die Suizidszene an Silvester; die Trennung war zur Weihnachtszeit. Und noch eine Frage bleibt: War es vielleicht Lutz, der seinen Lehrer Philipp am Ende bei der Schulleitung angeschwärzt hat? Denn nicht nur Tanja muss im Laufe des Films zugeben: „Ich hab‘ den Lutz ganz anders eingeschätzt“.
Unter den Augen von Karl und Friedrich
Nachdem die Filmaffinen und Literaturbegeisterten während der letzten Absätze voll auf ihre Kosten kamen, hier noch eine andere Botschaft, die der Film vermittelt: Neben der offensichtlich homosexuellen Thematik kritisiert der Film nebenbei das gerade zu Ende gehende Regime der DDR. Der Film zeigt nicht nur auf, dass auch in der angeblich so progressiven DDR das Thema Liebe unter Männern ein Tabu war. Man brüstete sich gegenüber der Bundesrepublik, den Schwulenparagraphen bereits in den 1960ern abgeschafft zu haben, doch die gesellschaftliche Realität sah anders aus.
Auch ein anderes totgeschwiegenes Problem in der DDR-Gesellschaft greift der Film rigoros auf. Die Führung des Arbeiter- und Bauernstaats nahm es so gerne für sich in Anspruch, dass Rechtsradikalismus ein Problem des kapitalistischen Auslands war. Das passt so gar nicht zu der Szene im Film, als eine Gruppe Neonazis in der S-Bahn einen ausländischen Fahrgast angreift und alle Fahrgäste stur wegsehen. Schließlich greift Philipp beherzt ein. Er kassiert selbst Schläge, kann die Skinheads allerdings am nächsten Bahnhof aus der Bahn werfen. Am Marx-Engels – Platz. Ge-ni-jal.
Wir haben die Schwulen vergessen
Ebenso verbissen behaupteten die hohen Tiere der DDR – und einige Menschen tun das bis heute – es hätte keine sozialen Unterschiede zwischen den Menschen gegeben. Die Randfigur Redford widerlegt diesen Mythos. Er erinnert Philipp an ein erotisches Intermezzo zu Schulzeiten und konfrontiert ihn damit, dass Philipps Eltern ihm großzügige Geschenke machten, um die Beziehung zu unterbinden. Seinen Satz „Und weil meine Eltern nicht so…“ muss er nicht beenden. Der Zuschauer weiß, dass er vom sozialen Unterschied zwischen Philipps und seiner Familie spricht. Bezeichnenderweise läuft Philipp erst dann aus dem Raum. Den Satz zu beenden und die gravierenden Unterschiede in der Gesellschaft explizit auszusprechen – so weit wollte, oder konnte, man dann doch nicht gehen.
Bei so viel impliziter und expliziter Kritik an den Verhältnissen ist allerdings klar, dass der Film erst veröffentlicht werden durfte, als es mit der DDR spürbar zu Ende ging. Früher wäre der Film undenkbar gewesen. Walters Monolog am Ende findet noch einmal deutliche Worte. Er beschwört die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Kommunismus. Doch er zieht auch ein düsteres Resümee: „Bloß die Schwulen, die haben wir vergessen.“