Schuld und Sühne

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Nicht-Geimpfte werden es spätestens ab dem Herbst schwerhaben. Die kostenlosen Schnelltests fallen weg; wer als Ungeimpfter ins Restaurant, in die Bar oder ins Kino möchte, muss tief in die Tasche greifen. In manchen Bundesländern geht man sogar einen Schritt weiter: Ab gewissen Inzidenzwerten gilt dort die 2G-Regel. Immer weiter entfernt man sich mit solchen Maßnahmen davon, alle Menschen zu schützen. Stattdessen zeichnet sich der Trend ab, Ungeimpfte für ihre Entscheidung zu bestrafen. Diese Spaltung ist brandgefährlich angesichts der medizinischen Notlage, in der wir weiterhin stecken.

Freiheiten über Umwege

Nach Hamburg greift nun auch Berlin rigoros durch: Nach reichlich Wirbel gilt in der Hauptstadt ab sofort die 2G-Regelung. Wer nicht gegen Covid-19 geimpft ist oder die Erkrankung noch nicht durchgestanden hat, schaut dort nun in die Röhre. Denn die Teilnahme am öffentlichen Leben ohne Impfung oder Genesung ist praktisch unmöglich. Währenddessen erhalten die Geimpften und Genesen viele ihrer Grundrechte zurück. Man nimmt an, dass von ihnen ein geringeres Infektionsrisiko ausgeht.

Die Rückgabe der Grundrechte ausschließlich an Geimpfte und Genesene ist keine neue Idee. Bereits zu Jahresbeginn, die Impfkampagne hatte gerade sehr zaghaft begonnen, sprachen sich mehrere Politiker für entsprechende Regelungen aus. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als die Impfstoffe gerade erst zugelassen worden waren. Ihre Wirksamkeit stand noch mehr im Zweifel als das heute der Fall ist. Trotzdem waren sich viele Wissenschaftler und Politiker bereits Anfang des Jahres einig darüber, dass die Impfwirkung eine Einschränkung der Grundrechte nicht länger rechtfertigte.

Seitdem konnten Ungeimpfte zumindest über Umwege am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Ein negativer Coronatest genügte als Eintrittsticket ins Kino, in die Bar oder für Flugreisen. 2G macht diesem bunten Treiben der Ungeimpften nun den Garaus. Die lauten Forderungen nach solch drastischen Maßnahmen lassen Nicht-Geimpften keine Wahl mehr: Entweder sie lassen sich impfen oder müssen ein Dasein in sozialer Isolation fristen.

Eine sinnvolle Ergänzung

Die Debatte über die Zuverlässigkeit und Wirksamkeit der neuen Impfstoffe wurde hingegen wesentlich leiser geführt. Immer wieder kamen Zweifel auf, ob man wirklich alle Hoffnungen in die neuartigen Präparate stecken sollte, vor allem dann, wenn von besonders heftigen Impfreaktionen und -nebenwirkungen die Rede war. Doch die dritte Welle im Frühjahr 2021 wischte alle verbliebenen Zweifel beiseite: Die Impfung ist der Weg aus der Pandemie.

Zu keinem Zeitpunkt stand zur Debatte, ob die Impfung sämtlicher Bevölkerungsgruppen überhaupt notwendig wäre. Früh erkannte die Wissenschaft, dass die Impfung in erster Linie dem Selbstschutz dient. Eine Infizierung mit dem Virus ist zwar weitaus unwahrscheinlicher, geimpfte Infizierte aber vermutlich genauso infektiös wie Ungeimpfte. Der Impfschutz kommt daher vor allem den Risikogruppen zugute. Für alle anderen ist die Impfung unter Umständen eine sinnvolle Ergänzung, aber für die akute Gefahrenabwehr nicht zwingend vonnöten.

Trotzdem war der soziale und moralische Druck bei der Impfung von Beginn an ein Thema. Impfverweigerer galten früh als Pandemietreiber, denen daran lag, eine Rückkehr zur Normalität so lange wie möglich hinauszuzögern. Der Druck auf Ungeimpfte wurde jüngst durch die Abschaffung kostenloser Tests auch aus finanzieller Sicht größer.

Impfen unter Protest

Mit der Einführung von 2G erreichte dieser Druck nun einen neuen Höhepunkt. Die Diskussion um die Regelung war dabei stets eine Diskussion gegen die Ungeimpften. Im Zentrum stand der Ausschluss von Ungeimpften, nicht deren Schutz. Die Äußerungen zahlreicher Politiker sind bester Beleg dafür. Jens Spahn sprach davon, dass sich jeder Ungeimpfte letztendlich infizieren würde und gab diese Menschen dadurch dem Virus preis. CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus legte sogar noch einen drauf und verlangte berufliche Konsequenzen für Nicht-Geimpfte.

Es ist absolut unstrittig, dass die 2G-Regelung zu einer hohen Impfquote führen wird. Die meisten Ungeimpften werden mit der drohenden sozialen Isolation nicht umgehen können. Sie lassen sich impfen, wenn auch unter Protest. Zum gesundheitlichen Notstand gesellt sich immer offener eine gesellschaftliche Krise.

Harter Schlag gegen die Menschenwürde

An anderen Orten nimmt die Kampagne gegen Ungeimpfte zwischenzeitlich menschenverachtende Ausmaße an. Angesichts einer steigenden Auslastung von Intensivbetten erwägt die Schweiz nun, ungeimpften Patienten die Behandlung zu verweigern und sie der Triage auszusetzen.

Das ist die Herabwürdigung der Menschenwürde. Kein Mensch hat die Triage eher verdient als ein anderer. Niemand verdient eine solche Behandlung. Wenn sie als allerletztes und undenkbares Mittel nicht mehr abwendbar ist, dann darf der Impfstatus dabei keine Rolle spielen. Durch die zu erwartende Impfwirkung ist es auch ohne diese verabscheuende Überlegung wahrscheinlicher, dass die Triage einen Ungeimpften trifft.

Kein Mensch würde auf die Idee kommen, eine vergleichbare Debatte in anderen Situationen anzustoßen. Seit Jahren sind Zigarettenpackungen übersäht mit hässlichen Bildern und mahnenden Worten. Die Raucher sollen davon abgehalten werden, sich selbst einem so großen Gesundheitsrisiko auszusetzen. Sie bei einer möglichen Krebserkrankung kaltschnäuzig von der Behandlung auszuschließen, ist verständlicherweise völlig undenkbar. Das gleiche gilt für suizidale Menschen. Wer einen Selbstmordversuch überlebt, bekommt die gleiche medizinische Versorgung wie jemand, der unverschuldet in Gefahr geraten ist. Das ist eine Selbstverständlichkeit und muss auch bei ungeimpften Corona-Patienten gelten.

Testpflicht statt Impfpflicht

Ungeachtet dieser besorgniserregenden Entwicklungen, hält die Politik weiter an den Sanktionen gegen Ungeimpfte fest. Dabei ist die Ablehnung von wenig erprobten Präparaten eine völlig legitime Entscheidung. Seit der Freigabe der Impfstoffe ist eine Erforschung sogar noch schwieriger geworden, weil die Verabreichung nicht mehr in einem klinischen Setting erfolgt. Olaf Scholz (SPD) hatte im Grunde recht, als er von „Versuchskaninchen“ sprach.

Selbstverständlich ist es im Kampf gegen die Pandemie ein ernsthaftes Problem, wenn sich viele Menschen gegen eine Impfung entscheiden. Der Weg, den Regierung und Politik wählten, um dagegen anzukommen, ist allerdings der völlig falsche. Impfanreiz und Selbstbestimmung dürfen nicht gegeneinander ausgespeilt werden. Beides muss zusammengedacht werden, um die Gesundheitskrise in den Griff zu bekommen.

Dazu zählt unter anderem ein umfassendes und kostenloses Testangebot. Denn natürlich kann man Ungeimpfte nicht einfach so auf das gesellschaftliche Leben loslassen. Eine Testpflicht von Geimpften bei höherer Inzidenz wäre sicherlich eine vernünftige Ergänzung der Sicherheitsvorkehrungen. Immerhin macht eine Impfung die Weitergabe des Virus zwar unwahrscheinlicher, bietet aber keinen Universalschutz vor Corona.

Gleichzeitig sind niederschwellige Impfangebote besonders zu Beginn der Impfkampagne ein sinnvolles Mittel. Mit der Zeit verlieren sie aber immer mehr ihre Notwendigkeit, da die notorischen Impfverdränger zwischenzeitlich durchgeimpft sind. Sie machen dann wieder mehr Sinn, wenn die Auffrischungsimpfungen anstehen und viele Menschen zaudern könnten, sich erneut impfen zu lassen.


Der Kampf gegen die Pandemie ist lange und hart. Er geht zulasten der Wirtschaft, der Lebensqualität und der persönlichen Freiheit. Er darf aber nicht dazu führen, dass sich die Menschen entzweien. Es wäre fatal für den weiteren Verlauf der Pandemie, wenn zwischen guten und schlechten Menschen unterschieden würde.


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