Face It – Zwischen Punk, Kunst und Serienmördern

Lesedauer: 9 Minuten

Sie ist wohl einer der am meisten fotografierten Menschen auf dieser Welt: Debbie Harry, Frontfrau der New-Wave – Gruppe Blondie. Nur wenige andere Frauen haben die Musikwelt so sehr geprägt wie die New Yorker Punkveteranin. Kurz nach der Geburt adoptiert, in biederer Kleinstadtumgebung großgeworden, bahnt sich die Sängerin ihren Weg durch eine männerdominierte Szene. Schon bald tanzen die Männer nach ihrer Pfeife. Ein Hit reiht sich an den nächsten. In ihren Memoiren tut Debbie Harry nun das, was der Titel des Buchs verspricht: sie stellt sich ihrer bewegten Vergangenheit. Sie zieht Bilanz und macht eines allzu deutlich: Mit ihr muss man rechnen.

Ein ganz normales Leben?

Von außen betrachtet verlief das Leben der New-Wave – Ikone Debbie Harry enttäuschend geradlinig. Es gab weder ausgedehnte Ehekrisen mit niveaulosen Schlammschlachten noch machte sie als zugedröhnte Performerin von sich reden. Auch von einer Jahre überdauernden schweren Erkrankung blieb sie verschont. Warum also hat sich diese Legende nun dazu entschlossen, ihre Memoiren zu veröffentlichen? Und warum gibt es Menschen, die sich dafür interessieren?

Weil Debbie Harry ein Mysterium ist. Eines, das auch nach der Lektüre dieses Buchs noch lange nicht geknackt ist. Denn Debbie Harry schätzt ihr Privatleben. Kommerzialisiert hat sie es nie. Auch nicht mit diesem Buch. Denn Face It ist viel eher eine Geschichte über Debbies Leben in der Punkszene und darüber hinaus, aber nicht vorrangig eine Geschichte über ihr Privatleben. Natürlich gibt es in dem Werk das ein oder andere lustige Anekdötchen aus ihrem privaten Leben. Beispielsweise stellt sie stolz ihren hauseigenen Whirlpool vor, den sie zu einem überdimensionalen Sexspielzeug umfunktioniert hat. Bis heute bereut sie es, dass sie sich damit nie beim Patentamt gemeldet hat.

Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll

Das Buch ist keine Autobiografie. Denn eine Autobiografie stellt immer den Autor oder die Autorin vor. Face It allerdings ist Debbie Harrys ganz persönliche Hommage an die Punkszene der 1970er. Ein Großteil des Buchs widmet sich dieser Ära. Selbstverständlich sind die Erzählungen stark subjektiv eingefärbt – und Debbie wird nicht müde, das ein ums andere Mal klarzustellen.

Wer das Buch liest, wird schnell feststellen, dass Ehekrisen, Drogen und Krankheit durchaus eine Rolle im Leben von Debbie Harry spielen. Sie und ihr Langzeitpartner Chris Stein sind immer als Paar aufgetreten, doch irgendwann war Schluss. Dem Laien wird das gar nicht aufgefallen sein, denn die beiden scheinen sich auch heute noch so nah zu sein wie eh und je. Es macht durchaus Sinn, dass Chris das Vorwort zu Face It geschrieben hat und damit das erste Wort hat. Denn auf langwierige Rosenkriege und böswillige Diffamierungen haben er und Debbie verzichtet. Viel eher haben sie einvernehmlich beschlossen, getrennte Wege zu gehen – und haben das bis heute nicht hingekriegt.

Die Drogen prägten Debbie Harrys Erfahrungen in der Musikwelt wie wohl die Musik selbst. Viele schmerzhafte Beispiele führen uns leider immer wieder vor Augen, dass beides, Drogen und Showbiz, wohl untrennbar zusammengehören. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, redet Debbie in ihrem Buch von ihren Erfahrungen mit Drogen. Rückblickend ist sie sich vollauf bewusst, dass es manchmal ein Wunder war, dass sie das alles überlebte.

Viele Leser werden es schon vorher gewusst haben, aber: auch mit dem Thema Krankheit und Tod wurde Debbie Harry konfrontiert. Sie selbst schien sich immer bester Gesundheit zu erfreuen, immerhin steht sie mit fast 75 noch auf der Bühne. Ihr Partner Chris Stein allerdings erkrankte in den 1980ern an einer schweren Autoimmunkrankheit. Geredet hat Debbie über diese Zeit nie gerne. Das ist allzu verständlich. Und auch im Buch streift sie dieses Thema nur am Rande. Sie betont eher die verzwickte finanzielle Lage, in der sie sich mit Chris befand.

Wie aus einer anderen Welt

Lauscht man den Interviews mit Debbie Harry bleibt immer eine gewisse Neugier. Sie war schon immer sehr in charge, was sie von sich preisgibt und was nicht. Andere Stars und Sternchen reden hemmungslos über jeden Furunkel, der ihnen am Hintern zwickt. Debbie Harry war schon immer verschlossener. Viele Journalisten sind sich einig: Ein Interview mit ihr ist kein Spaziergang. Oft gibt sie sich einsilbig. Viele Interviews ähneln den anderen. In außergewöhnliche Themengebiete stoßen nur wenige Journalisten vor. Man kann beinahe sagen: Kennst du ein Interview mit Debbie Harry, kennst du alle Interviews mit Debbie Harry.

Das Buch wirkt ähnlich. Natürlich gibt die Sängerin darin viel mehr von sich preis als in den gängigen Interviews – anders hätte sie wohl niemals über 300 Seiten füllen können. Aber trotzdem beantwortet sie nicht alle Fragen. Face It greift das Mysterium Debbie Harry nicht an. Ihre Person bleibt unscharf und nicht wirklich greifbar. Und genau das macht doch den Reiz an dieser Musiklegende aus.

Wenn man das Buch liest, hat man viel mehr den Eindruck, in eine völlig andere Welt einzutauchen. Es ist nicht nur die Welt von Debbie Harry, sondern auch die Welt der Punkrocker aus den 1970ern. Züge einer Parallelgesellschaft sind nicht von der Hand zu weisen. In beinahe flapsiger Art und Weise spricht Debbie Harry von Geschehnissen, die für heutige Leser schier unvorstellbar sind. Besondere Aufmerksamkeit wurde einer Episode mit zwei weiteren Musiklegenden zuteil.

Die Sache mit David Bowies Schniedel

Denn auf David Bowie und Iggy Pop angesprochen, entgegnete Debbie bereits 2017 recht knapp: „I am writing a book.“ Und sie versprach nicht zu viel. In unverschämter Beiläufigkeit erwähnt sie in ihrem Buch eine ganz besonders pikante Begegnung mit den beiden Musikern. Auf einer gemeinsamen Tournee in den späten 1970ern war Bowie nämlich dermaßen breit, dass er Debbie hinter der Bühne bereitwillig sein bestes Stück präsentierte. Debbie gibt sich heute wie damals unbeeindruckt davon, obwohl sie die Größe von David Bowies Geschlechtsteil hervorhebt.

Gerade jüngere Leser werden an dieser Stelle entsetzt den Kopf schütteln. Würde heute ein Mann gegenüber einer Frau ein solches Verhalten an den Tag legen, würde sich die #MeToo-Bewegung weiterer medialer Aufmerksamkeit erfreuen. Für Debbie und ihre Gefährten allerdings war eine solche Begutachtung normal. Aber das Normal von gestern ist eben nicht das Normal von heute.

Um Haaresbreite

Zu sexuellen Übergriffen und sexueller Gewalt offenbart Debbie Harry eine ganz eigene Sichtweise. Die Figur Blondie beschreibt sie als fleischgewordenen Männertraum. Blondie ist so, wie die Männer sich eine Frau vorstellen. Und trotzdem lässt sie sich von Männern nichts gefallen. Selbst wenn eindeutig Grenzen überschritten werden.

Bei zwei Erzählungen im Buch läuft es einem eiskalt den Rücken herunter. In beiden Fällen wurde Debbie Harry Opfer sexueller Gewalt. Das eine Mal nach einer Show im legendären CBGBs. An der Wohnungstür wurden sie und ihr Partner Chris von einem „dude“ überfallen. Er fesselte die beiden, durchsuchte ihr Loft nach Wertgegenständen und fickte Debbie. Das Wort „Vergewaltigung“ verwendet Debbie hier nicht. Viel eher trauert sie den gestohlenen Gitarren hinterher. Dieser Mann mag sie gegen ihren Willen gefickt haben. Doch mit ihrer schamlosen Erzählung des Zwischenfalls fickt sie ihn. Denn sie schämt sich für das ganze nicht. Vielen anderen Opfern sexueller Gewalt hat sie damit etwas voraus.

Debbie Harry gibt solchen Tätern keine Macht über sie. Selbst im Angesicht solcher Gewalt bleibt sie cool. Auf dem Weg zu einer Party in den frühen 1970ern ließ sie sich widerwillig von einem Mann aufgabeln, der ihr eine Mitfahrgelegenheit anbot. Kaum im Auto bemerkte sie ihren Fehler. Der Wagen war im Innern komplett ausgeräumt, einen Türgriff an der Tür gab es nicht. Zum Glück konnte sie sich durch den Fensterschlitz befreien. Sie hatte die Brenzligkeit der Situation bemerkt, ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern. Anstatt in Panik auszubrechen, setzte sie ihren Weg zur Party fort, als ob es das normalste auf der Welt wäre. Beinahe enttäuscht merkt sie im Buch an, dass die Party bereits vorbei war. Ach ja, den Mann im Auto identifizierte sie Jahre später als den berüchtigten Serienmörder Ted Bundy.

Face It

Nicht nur in dieser Situation muss die fast-naturblonde Sängerin eine ganze Horde an Schutzengeln gehabt haben. Im Kapitel „Close Calls“ widmet sie sich gleich mehreren Begebenheiten, in denen sie dem Tod von der Schippe sprang. Selbst ihre eigene Geburt bezeichnet sie als Nahtoderfahrung. Und sie hat recht: Knapper als bei der Geburt entkommt man dem Tod tatsächlich nicht.

Gerade dadurch, dass sie sich von solchen Zwischenfällen wenig beeindruckt zeigt, strahlt ihre Geschichte eine unglaubliche Lust am Leben aus. Und vor allen Dingen drückt sie eine große Lust am Weitermachen aus. Gefüllte Konzerthallen und regelmäßige Tourneen sind da das eine. Im Buch zeigt Debbie Harry allerdings auch eine andere Facette des Berühmtseins und Bewundertwerdens. Immer wieder unterbricht sie ihre Geschichte, um ganz besondere Bilder mit dem Leser zu teilen. Es sind Bilder, die Fans von ihr und für sie über die Jahre hinweg angefertigt haben und von denen sie sich nie getrennt hat. Die Ehre, die ihr damit zuteilwurde, gibt sie mit der Veröffentlichung der Bilder zurück.

Die meisten dieser Bilder zeigen Debbie Harrys Gesicht. Dem Buchtitel Face It wird damit noch einmal eine ganz besondere Bedeutung gegeben. Debbie Harry ist sich sicher: Die Bilder verraten auch immer etwas über den Künstler oder über die Künstlerin dahinter. Vor allen Dingen zeigen sie aber, wie andere Menschen ihr Idol sehen. Mit den Portraits lässt Debbie Harry nicht nur sich selbst zu Wort kommen, sondern räumt auch ihren Fans einen Platz in ihrer Geschichte ein. Denn was wäre ein Weltstar ohne seine Fans?


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