Warum ich Harry Potter heute liebe – und früher hasste

Lesedauer: 8 Minuten

Jemand, der Harry Potter hasst? Wo gibt’s denn so was? Ob gelesen oder nur im Kino geschaut – der elfjährige Zauberlehrling eroberte die Herzen aller Kinder. Aller Kinder? Nicht ganz. Ein blonder Besserwisser leistete erbitterten Widerstand. Und hat ihn heute aufgegeben. Dies hier ist die Geschichte von Harry und mir. Eine Geschichte von Hypes, Zauberkräften und Politik.

Ich hasse Hypes. Was andere machen, finde ich generell uninteressant. Besonders wenn viele es machen. Oder alle. PokémonGo, zum Beispiel. Was für ein absurder Trend war das denn bitteschön? Als würden die Leute nicht schon genug von ihrem Smartphone hypnotisiert, nein, da entwirft Nintendo eine App, die noch weiteren Chiropraktikern ungeahnte Verdienstmöglichkeiten aufgrund akuter Nackenschmerzen verschafft. Die Taschenmonster waren plötzlich überall. In Schulen, in Bahnhöfen, auf Festplätzen. Sogar auf dem Friedhof. Aber für Hypes gilt eben das gleiche, was Oma früher schon über Lasagne gesagt hat: Vom Aufwärmen wird’s nicht besser.

Ein Trend unter vielen

Dass manche Hypes eine Affinität zum Schauplatz „Friedhof“ haben, dürfte spätestens nach der Bedrohung durch die sogenannten Horror-Clowns jedem klar sein. Hier allerdings war der Ansatz scheinbar, möglichst viele Hype-Opfer auf direktem Wege mit Baseballschlägern und Elektroschockern auf den Friedhof zu katapultieren. Man sieht, Hypes führen immer bergab. Wie gelangweilt und frustriert muss ein Mensch sein, um sich einem solchen Phänomen anzuschließen?!

Aber genug von inszenierten Monsterkämpfen und psychisch labilen Arbeitslosen. Kommen wir auf einen wesentlich harmloseren und sozial verträglicheren Hype zu sprechen: Once upon a time…die Geschichte des Zauberlehrlings Harry Potter.

Zauberer auf Besen und Hexen mit Zauberstäben? No way!

Jeder, in Großbuchstaben: JEDER! schien ergriffen von der Erzählung um den schmächtigen Brillenträger mit der Blitznarbe. Ganze Horden an Kindern und Jugendlichen warfen ihre Gameboys in die Ecke. Das Buch war plötzlich wieder in Mode. D’accord, dachte ich mir als damals vielleicht Sechsjähriger. Lesen hatte ich damals als etwas wunderbares kennengelernt. Ich fühlte mich plötzlich so erwachsen. Und dann kam dieser britische Sonderling und versuchte ernsthaft, mein Weltbild ins Wanken zu bringen.

Ich meine, hallo?! Zauberer auf Besen und Hexen mit Zauberstäben, wo gibt’s denn so was? Hexen gehörten für mich in den Wald in ihr Knusperhäuschen. Oder an den Fuß des Vesuvs, immer damit beschäftigt, einen neuen Schlachtplan gegen Dagobert Duck und seinen Glückszehner auszuklügeln. Und Zauberer? Die gehörten ganz bestimmt nicht in die Lüfte. Auf dem Boden der Tatsachen hatten sie ganz andere Dinge zu erledigen. Ihr Wissen und ihre Macht ausbauen, zum Beispiel. Oder auch mal gegen einen Drachen kämpfen.

Ich erinnere mich noch genau: In dem Ort, in dem ich aufwuchs, gab es ein kleines Schreibwarengeschäft. Kaum war der Hype um Harry ausgebrochen, hing an der Tür immer ein Aufhänger von Harry und Hedwig auf seinem Besen. Ich kam also gar nicht daran vorbei, wenn ich mir jeden Donnerstag von meinem hart ersparten Taschengeld die neueste Ausgabe des Micky-Maus – Magazins kaufte. Ständig wurde mir vor Augen geführt, wie scharf die anderen Kinder doch auf die Abenteuer des jungen Zauberlehrlings waren – oder es zumindest sein sollten. Je größer und omnipräsenter dieser Hype wurde desto mehr wehrte ich mich dagegen. Lauthals tat ich damals meine Meinung zu den Romanen von J. K. Rowling kund.

Eine Nachbarin funkt dazwischen

Der absolute Höhepunkt meiner Antipathie gegen den jungen Magier wurde erreicht, als der erste Film in die deutschen Kinos kam. Selbst die allergrößten Lesemuffel wussten jetzt von Harry. Und noch viel schlimmer: Sie wussten, wie er aussah. Okay, ich habe keine Blitznarbe auf meiner Stirn und meine Haare sind auch nicht dunkel. Aber ich trage eine Brille. Gepaart mit meiner offenkundigen Abneigung gegen die Geschichten um Hogwart & Co. war das genug „Ähnlichkeit“ für so manchen Gleichaltrigen, um mich damit aufzuziehen. „Harry Potter“ avancierte schnell zu meinem neuen Spitznamen unter diesen Minderbemittelten. Die können eigentlich froh sein, dass ihre eigene Stirn heute nicht von einer Blitznarbe verschönert wird. Aber genug zu den Gewaltfantasien eines Neunjährigen.

Als ich 2003 auf das Gymnasium kam, nahm eine Nachbarin das zum Anlass, mir ein ganz besonderes Geschenk zu machen: den Roman von Harrys viertem Jahr in der Zauberschule. Ganz großes Tennis! Das Gerücht, ich wäre die größte Leseratte, die unsere Straße je erlebt hatte, war ganz offensichtlich selbst bis zu ihr vorgedrungen. Nicht aber der unbestreitbare Fakt, dass ich mit Harry Potter nichts anfangen konnte. Ich verspürte eine seltsame Mischung aus schierem Unglauben und der Schuld, mich näher mit diesem Geschenk befassen zu müssen. Immerhin hatte ich bis dahin noch nie ein Buch weggelegt, das mir unter die Nase gehalten wurde. Außerdem verfolgte mich die paranoide Vorstellung, meine Nachbarin könnet jederzeit aus einer dunklen Ecke springen und mich über den Inhalt des Wälzers abfragen.

Notgedrungen gab ich mich also der zweifelhaften Lektüre hin. Und was soll ich sagen? Das Buch war … gut? Was ich las, faszinierte mich und zog mich von der ersten Seite in den Bann. Es gab nur ein kleines Problem. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, worum es eigentlich ging. Wichtige Informationen aus den vorherigen Büchern fehlten mir. Es gab nur einen Ausweg: Ich musste meine alten Prinzipien vollends über Bord werfen und mich auch den anderen Romanen der Reihe zuwenden.

Kurzversion: Nachdem ich meinen inneren Konflikt (manche nennen ihn Krieg) überwunden hatte, nahm ich zunächst mit den bisher erschienen Filmen Vorlieb, um meine Wissenslücken zu schließen. Die ersten drei Romane las ich erst nach dem vierten Roman. Zwischenzeitlich war der fünfte Teil raus, der prompt begeistert von mir verschlungen wurde – ganze dreimal bevor Teil 6 erschien, um ehrlich zu sein. Gut, die Filme waren ab Askaban eine herbe Enttäuschung nach der anderen, aber dafür kann die Rowling ja nichts.

Ein neues Lieblingsbuch?

Was mich an den Büchern so reizte, sollte mir erst später klarwerden. Sicherlich nicht die große Beliebtheit der Serie. Zugegeben konnte man bei Erscheinen des Halbblutprinzen gar nicht mehr von einem Hype reden; der war längst abgeflacht. Ich für meinem Teil hatte bereits die englischen Originale gelesen und mich für ein Studium der Anglistik entschieden. Irgendwann kam dann der Punkt, als kein Weg an der Bachelorarbeit vorbeiführte. Doch worüber schreiben? „Was lesen Sie denn am liebsten?“ fragte mich mein Betreuer damals. Noch bevor mir Stephen King über die Lippen kam, fühlte ich mich in mein elfjähriges Ich zurückversetzt, das gespannt mitfieberte, als Harry durch den Irrgarten hetzte.

Eine Bachelorarbeit über Harry Potter? Klingt verdammt nach Hirnbrand. Die Rauchmelder in meinem Oberstübchen schlugen Alarm. Worüber sollte man da schreiben? Vielleicht über die Faszination, die die Bücher unter Kindern und Jugendlichen einst auslöste. Ih, ein Hype. Doch der Gedanke ließ mich nicht los. Und dann, urplötzlich (am Reutlinger Hauptbahnhof) hatte ich den Geistesblitz: Voldemorts Anhänger verfolgen die Muggel wie die Nazis einst die Juden. Immer mehr Parallelen offenbarten sich vor mir.

Jugendbuch mit politischer Botschaft

Ich ließ es nicht mit einem platten NS-Vergleich bewenden. Das wäre auch ziemlich fahrlässig. Immerhin reden wir hier von rund 6 Millionen ermordeten Juden und vielen weiteren Gräueltaten. Nein, viel eher interessierte mich die politische Dimension in den Harry-Potter – Romanen. Wer aufgepasst hat, wird bemerkt haben, dass sich die Geschichten immer weiter vom Schulalltag distanzierten. Während der Unterricht in den ersten Romanen teils minutiös beschrieben wird, findet sich Harry im finalen Band nur ganz zum Schluss in seiner ehemaligen Zauberschule ein. Ab dem fünften Teil ist er faktisch ein politisch Verfolgter, zunächst unter der kleinbürgerlichen Regierung von Fudge, später unter dem Todesserregime.

Doch was hat das alles mit den Nazis zu tun? In meiner Ausarbeitung arbeitete ich größtenteils induktiv – ich schloss also vom kleinen auf das große. Ich analysierte Verhaltensmuster und Gesellschaftsstrukturen und legte dar, dass so manche davon in fast jedem autokratischen Regime vorhanden sind. Nehmen wir beispielsweise die Figur der Dolores Umbridge. Als die Ausgeburt des gelebten Opportunismus schafft sie es fast immer, sich über Wasser zu halten und mit dem Strom zu schwimmen. Ganz offensichtlich hat sie ein Faible für Hypes. Beinahe zynisch, dass sie zu meinen absoluten Lieblingen in der Reihe zählt.

Das Ergebnis war eine 30 Seiten starke Bachelorarbeit (also ohne Inhaltsverzeichnis und das ganze Drumherum). Ihr zugrunde lagen alle sieben Romane der Harry-Potter – Reihe. Und das von einem jungen Mann, der keine fünfzehn Jahre zuvor alles verteufelt hatte, was auch nur im geringsten mit Harry, Ron und Hermine zu tun hatte. Der geschworen hatte, niemals auch nur eines der Bücher mit dem kleinen Finger anzufassen. Die Geschichte von Harry und mir ist eine Geschichte des Wandels. Ein Wandel von Ansichten. Ein Wandel von Interessen. Aber vor allen Dingen ein Wandel von Verständnis. Ich lese Harry Potter heute nicht mehr als bloße Abenteuererzählungen. Für mich ist die politische Komponente dafür viel zu offensichtlich.

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