Von Spatzen und Kanonen

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Vergangene Woche hat sich die Mehrheit im Deutschen Bundestag für eine Impfpflicht im Gesundheitswesen entschieden. Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte müssen sich bis spätestens Mitte März 2022 impfen lassen, um weiter ihren Beruf auszuüben. Die Teilimpflicht wird als weiterer Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie verkauft, hält aber nicht, was sie verspricht. Sie ist kaum dazu geeignet, das Infektionsgeschehen nachhaltig einzudämmen und heizt die Lage in den Krankenhäusern eher an. Die neue Regierung hat allerdings schon eine genaue Vorstellung, wie sie damit umgehen möchte…

Falsche Hoffnungen

Die Beschäftigten im Gesundheitswesen, allen voran die Pflegekräfte, sind seit Beginn der Coronakrise vor knapp zwei Jahren die Heldinnen und Helden der Pandemie. Bereits im Frühjahr 2020 erhielten sie stehende Ovationen von den Abgeordneten des Bundestags, viele Bürgerinnen und Bürger schlossen sich dem Jubel vom heimischen Fenster aus an. Den unfassbaren Druck, unter dem die Pflegekräfte stehen, können aber nur die wenigsten nachempfinden. Ein Job im Krankenhaus oder Pflegeheim geht immer mit einer enormen Verantwortung einher. In medizinischen Krisenzeiten wiegt die Last der Verantwortung besonders schwer.

Seit Zulassung der Impfstoffe erhöhte sich der Druck auf Pflegerinnen und Pfleger zusätzlich. Die meisten von ihnen dürften erleichtert aufgeatmet haben, als die ersten Präparate verfügbar waren. Sie hofften auf eine spürbare Entlastung der Krankenhäuser und auf den Intensivstationen, wenn erst einmal die Herdenimmunität erreicht ist. Außerdem versprachen die Impfstoffe zunächst auch eine erhöhte Sicherheit im Umgang mit vulnerablen Gruppen, mit denen die Beschäftigten im Gesundheitswesen regelmäßig zu tun haben.

Der Wind dreht sich

Die Kehrseite der Impfkampagne bekamen die Angestellten in medizinischen Einrichtungen besonders früh und besonders heftig zu spüren. Die Impfstoffe waren erst wenige Wochen zugelassen, als die ersten Pflegekräfte zu einer Impfung regelrecht genötigt wurden. Keiner sprach es explizit aus, aber viele Pflegerinnen und Pfleger spürten, dass eine Impfung und der Erhalt ihres Arbeitsplatzes untrennbar zusammengehörten. Ungeimpftes Pflegepersonal sah sich moralischen Vorurteilen ausgesetzt. Man diffamierte sie als unverantwortliche Pandemietreiber, es sei ihre Pflicht sich angesichts ihres Berufs unter allen Umständen impfen zu lassen. Die Heldinnen und Helden von gestern waren plötzlich die Buhleute von heute.

Kontakt zu besonders vulnerablen Gruppen hatten diese Menschen schon vor Zulassung der ersten Impfstoffe. Um einer drohenden Überlastung und einem Kollaps des Gesundheitswesens entgegenzuwirken, arbeiteten viele Ärztinnen, Ärzte und auch das Pflegepersonal im vergangenen Jahr mitunter ohne ausreichende Schutzausrüstung. Sie infizierten sich zuhauf; der damalige Gesundheitsminister befürwortete ein Weiterarbeiten trotz Coronainfektion. Besonders im Jahr 2020 spielten sich in vielen Krankenhäusern unmenschliche Szenen ab.

Spatzen und Kanonen

In diesem Jahr ist vieles anders. Man signalisierte den Beschäftigten durch diese indirekte Impfpflicht, dass ihre Arbeitskraft doch nicht so dringend nötig sei. Während sie in der ersten Hochphase der Pandemie darunter litten, dass die Politik die Beschaffung von ausreichend Schutzausrüstung verschlafen hatte, müssen sie es sich jetzt gefallen lassen, dass die Schuld an der Ausbreitung des Virus fast ausschließlich ihnen zugeschoben wird.

Trotzdem hat der Bundestag jüngst eine Impfpflicht für Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen beschlossen. Diese obligatorische Impfung war für viele Politikerinnen und Politiker der logische nächste Schritt im Kampf gegen die Pandemie. Die Teilimpfpflicht pflastert einen weiteren Abschnitt auf dem Pfad, der garantiert nicht aus der Notlage herausführen wird. Einerseits dürfte die Impfbereitschaft bei medizinischem Personal grundsätzlich hoch liegen. Die Impfpflicht betrifft also nur eine kleine Minderheit direkt. Andererseits verpufft der vielgepriesene Effekt der Solidaritätsimpfung. Pflegekräfte, die sich impfen lassen, machen das häufig um sich selbst zu schützen. Häufiger als andere kommen sie mit Covid-Patienten in Kontakt. Diese Menschen können sie nicht mehr anstecken – sich selbst aber sehr wohl.

Eine bewusste Entscheidung

Die Impfstoffe sind seit einem Jahr verfügbar. Pflegepersonal gehörte zu den oberen Prioritätsgruppen und konnten sich früher als andere Menschen impfen lassen. Sie hatten also lange genug Zeit, über eine Impfung nachzudenken und sich dafür zu entscheiden. Ihre tägliche berufliche Erfahrung dürfte sie bei ihrer Entscheidung beeinflusst haben. Wer sich jetzt noch nicht hat impfen lassen, der hat sich ganz bewusst gegen eine Impfung entschieden. Eine Impfpflicht für ihren Beruf empfinden diese Menschen also völlig zurecht als Bevormundung.

Diese Gängelei kann fatale Auswirkungen auf das Gesundheitswesen und auf den Kampf gegen die Pandemie haben. Es ist allgemein bekannt, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege lange vor Corona unerträglich waren. Schlechte Löhne, körperliche Erschöpfung und kaum Raum für Freizeit und Privatleben haben in den letzten Jahren viele Beschäftigte aus ihrem Beruf getrieben. Wer sich unter diesen miesen Umständen trotzdem für die Patientinnen und Patienten aufopfert, verdient Respekt und Dankbarkeit.

Der letzte Sargnagel

Für die bewusst Ungeimpften unter den Pflegekräften könnte die neue Impfpflicht der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Angesichts der mehr als prekären Arbeitsbedingungen werden viele unter ihnen zu dem Schluss kommen, dass sie ihren Beruf lieber endgültig an den Nagel hängen, anstatt ihre Impfentscheidung zu revidieren.

Die Folge daraus liegt auf der Hand: Schon heute sind viele Krankenhäuser am Limit. Planbare Eingriffe werden verschoben, vorhandene Intensivbetten werden nicht belegt, weil schlicht das Personal fehlt. Wenn infolge der Impfplicht weitere Pflegekräfte die Flucht ergreifen, dann wird das die Lage verschärfen und nicht entspannen.

Impfpflicht 2.0

Der Regierung reicht das offenbar noch nicht. Schon bevor die Abgeordneten über die Teilimpflicht im Gesundheitswesen diskutiert haben, kündigte Kanzler Scholz eine Entscheidung zur allgemeinen Impflicht an. Die wenigsten dürften sich darüber wundern, dass auf die Teilimpfpflicht die Gesamtimpflicht folgt.

Erstens ist ein Teil immer die Vorstufe des Ganzen. Zweitens wird sich der Druck auf die Ungeimpften durch den Wegfall wertvoller Pflegekräfte weiter erhöhen. Zwangsläufig wird Gesundheitspersonal infolge der Impfpflicht ausscheiden. Künftig werden noch weniger Menschen den Laden am Laufen halten müssen. Weitere Eingriffe werden verschoben. Viele Menschen werden sterben. Die Impfappelle werden noch eindringlicher. Der moralische Druck auf Ungeimpfte steigt.

Aufgrund der Teilimpfpflicht wird es noch leichter sein, eine allgemeine Impfpflicht zu erwägen. Schon heute rechtfertigen viele eine solche Maßnahme mit der Lage in den Krankenhäusern. Dieses Argument wird bei zugespitzter Lage einiges an Schlagkraft gewinnen. Steigende Infektionszahlen sind zweifellos ein Grund für die Überlastung der Krankenhäuser. Es ist allerdings allein auf die Regierungspolitik der vergangenen Jahre zurückzuführen, dass das Gesundheitssystem die Pandemie so schlecht auffängt. Eine Impfpflicht lenkt von diesen gravierenden Problemen ab, weil sie den Fokus ausschließlich auf Menschen lenkt, die mit der grundsätzlichen Situation nichts zu tun haben. Sie vertauscht Ursache und Wirkung und stellt der Regierung einen Freibrief aus, ihr katastrophales Gesundheitsmanagement fortzuführen.


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