Wenn Verdrängen absichtlich passiert

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Könnte der Mensch nicht verdrängen, würde er keinen Millimeter nach vorne kommen. Die Fähigkeit, störendes auszublenden, ist Fluch und Segen zugleich. Zwar hilft es uns, besonders traumatische Ereignisse aus den Gedanken zu verbannen, andererseits verleitet uns das aktive Verdrängen oft zu ausgesprochen unvorsichtigen Taten. Denn wir Menschen sind unvorstellbar gut im Verdrängen. Die Probleme werden oftmals nicht einmal dann angepackt, wenn sie sich direkt vor unserer Nase breitmachen. Erst wenn wirklich alle die Konsequenzen spüren, wird kehrtgemacht. Bei manchen Problemen ist das zu spät.

Gegen das Vergessen ist kein Kraut gewachsen. Gegen das Verdrängen allerdings auch nicht. Jeder Mensch macht es regelmäßig. Vielleicht sogar mehrmals am Tag. Was sonst eher psychisch auffälligen Personen zugeschrieben wird, das können auch alle anderen. Um Geschehenes zu verdrängen, braucht es keinen Unfall und auch kein traumatisierendes Erlebnis. Verdrängen kann der Mensch auch so. Aktiv. Viele denken, es muss etwas ganz furchtbar schlimmes passieren, damit ein Verdrängungsmechanismus in Gang gesetzt wird. Verdrängen wird als etwas passives verstanden, worauf man kaum Einfluss nehmen kann. Doch regelmäßig beweisen wir selbst, dass auch aktiv verdrängt werden kann.

Ein ganz normaler Mechanismus

In erster Linie bedeutet Verdrängen die Ausblendung des Negativen. Kein Mensch verdrängt ein freudiges Ereignis. Dieses Negative wird soweit ausgeblendet bis nur noch das Positive zu erkennen ist. Häufig ist das ein Schutzmechanismus, um nicht ständig an besonders schwerwiegende Erlebnisse erinnert zu werden. Viele Zeugen grausamer Straftaten können sich beispielsweise nicht daran erinnern, was sie gesehen haben. Manchmal helfen sogenannte Trigger ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.

Womöglich wäre das aktive Erinnern an solche Begebenheiten schlicht zu zeit- und energieaufreibend. Das Gehirn möchte sich diese Strapazen gerne ersparen und verdrängt das Erlebte. Das klingt soweit ganz gesund. Menschen müssen wegen bestimmter Vorkommnisse also nicht auf Dauer innehalten, sondern können weitergehen.

Das Gute an Donald Trump

So viel zum passiven Verdrängen. Das aktive Verdrängen wiederum ist eine ganz besondere Form der Realitätsverweigerung. Menschen können sich ihre Welt so zusammenschustern, wie sie gerade Lust haben, das ist keine Neuigkeit. Sie können die Augen aber auch so fest vor der Realität verschließen, dass durchaus von Verdrängung gesprochen werden kann. Das tun sie meistens dann, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Wenn ihr Tun zwar erhebliche Risiken birgt, aber sie zumindest kurzfristig aus ihrer Misere entlässt – oder wenn sie das Gefühl haben, dass es das kann.

Hardliner wird es immer geben, auch dagegen ist wohl kaum ein Kraut gewachsen. Aber gerade in der Politik verhalten sich viele Menschen nur deshalb irrational, weil sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Obwohl die Nachteile von Donald Trumps Präsidentschaft auf der Hand lagen, machte ihn ein Großteil der US-Amerikaner zum mächtigsten Mann im Staatenbund. Sie bejubeln einen Mann, der die Welt ins Verderben stürzen kann. All das ist vielen Menschen in den USA irgendwie bewusst, aber sie schaffen es, diese Nachteile auszublenden, weil sie sich Vorteile von Trump als Präsidenten erhoffen. Viele gebaren sich als überzeugte Trump-Anhänger, verweigern sich in Wahrheit aber aktiv der Realität.

Es gelingt diesen Menschen die überwältigende Fülle an Negativem zu ignorieren, es im Prinzip überhaupt nicht wahrzunehmen, und nur das Positive an diesem Mann zu sehen. Denn irgendwas positives bleibt bei jedem Menschen übrig, auch bei Donald Trump. Immerhin hat er … Kinder.

Es müssen mehr werden

Aber so konkret wie Donald Trump muss man gar nicht werden. Zugegeben macht es der Mann einem auch nicht besonders leicht, über seine fragwürdigen Aktivitäten hinwegzusehen. Es gibt andere Dinge, bei denen ein Wegsehen wesentlich einfacher ist. Der Klimawandel ist beispielsweise so ein Fall. Jeder weiß, dass da irgendwas im Busch ist. Jeder weiß, dass alle immer vom Klimawandel reden. Und jeder weiß, dass mehr als 40 Grad in Mitteleuropa nicht gesund sind. Um die katastrophalen Folgen des Klimawandels abzuwenden, passiert aber erschreckend wenig. Das liegt hauptsächlich daran, dass die wirklich gravierenden Folgen der Erderwärmung noch nicht ausreichend stark zu spüren sind – zumindest nicht für die, deren Handeln wirklich etwas bewegen könnte.

Machen wir uns nichts vor: Der globale Norden hat es in der Hand. Gerade in den USA, in Europa und in China sitzen die Menschen, die einen echten Wandel einleiten können. Greta kann noch so hartnäckig protestieren, ihr grimmiges Gesicht allein wird die Welt nicht vor dem Verderben schützen. Erst wenn ein großer Teil der Menschheit umdenkt, wird sich wirklich etwas verändern. Aber dazu müssen die Menschen begreifen. Der Klimawandel lässt sich aber nicht so leicht begreifen. Trotz des Getöses freitags auf den Straßen, kommt er schleichend. Und was so leise daherkommt, das lässt sich leicht verdrängen.

Eine neue Flüchtlingswelle?

Bisher ist der Klimawandel vielen noch zu theoretisch. Von der gewaltigen Dimension des Temperaturanstiegs haben die meisten zwar gehört, aber verstanden haben sie sie nicht. Es gibt bisher kaum Menschen, die ihre Heimat des Klimas wegen verlassen. Die Flüchtlinge von gestern und von heute versuchen Krieg und Hunger zu entkommen. Noch wird dieser Hunger durch politische Entscheidungen des globalen Nordens verursacht. Schon bald könnte sich das aber ändern. Dann flüchten die Menschen, weil sie ihre Heimat nicht durch einen Bombeneinschlag verloren haben, sondern weil ihre Siedlung plötzlich verschwunden war, weil der Grund darunter nachgab.

Immerhin sind Wirbelstürme noch lange nicht an der Tagesordnung. In bestimmten Regionen der Erde gehören sie zu bestimmten Jahreszeiten zum ganz natürlichen Bild. Sie mögen in den letzten Jahren zwar etwas heftiger ausgefallen sein, aber Häuser haben die Wirbelstürme auch schon vor Jahrzehnten verwüstet. Der Klimawandel findet in einer Zeitspanne statt, die das Denken der Menschen übersteigt. Die wirklich dramatischen Folgen werden erst in vielen Jahren spürbar sein, was macht es da aus, wenn heute wieder ein Gletscher dahinschmilzt? Es gibt ja noch genügend andere.

Dieser Sommer beispielsweise ist bisher alles andere als der typische Rekordsommer. Die 40-Grad – Marke wurde bisher nicht überschritten, nur gelegentlich stieg das Thermometer über 30 Grad. Aber sagen wir mal so: Vier Monate am Stück 28 Grad mit viel zu wenig Regen mögen viele zwar als besonders angenehm empfinden; das Ökosystem leidet allerdings enorm darunter.

Wirtschaftskrise oder Gesundheitskrise?

Bereits heute sind viele Folgen des Klimawandels greifbar. Man muss nur genau hinsehen. Frühling und Herbst gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Übrig blieben nur Sommer und Winter, die sich alle halbe Jahre abwechseln. Weil man an diese „normalen“ Extreme gewöhnt ist (und gegen einen schönen Sommer oder einen zünftigen Winter im Grunde nichts einzuwenden ist), wird das von vielen als der normale Lauf der Dinge hingenommen. Die Belege für den Klimawandel sind lange da. Man muss aber zumindest aktiv hinsehen und darüber nachdenken, um die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Egal wie minimal dieser Aufwand auch ist, es ist eine gewisse Form der Anstrengung. Und die fällt der Verdrängung zum Opfer.

Denn der Mensch glaubt nur das, was er sieht. Und er versteht nur das, was er spürt. Den Klimawandel spüren viele noch nicht in ausreichendem Maße als dass sie geeignete Maßnahmen dagegen ergreifen würden. Aktuell ist dieses aktive Verdrängen auch bei der Corona-Pandemie zu beobachten. Die Infektionszahlen in Deutschland sind seit einiger Zeit wieder deutlich steigend. Vielleicht hängt das mit den ganzen Auslandsreisenden zusammen, vielleicht aber auch an den Wiedereröffnungen gastronomischer Betriebe. Ganz bestimmt liegt es aber daran, dass viel zu viele Menschen die Augen vor der Gefährlichkeit des Virus verschließen.

Obwohl ein Großteil der Fälle gemäßigt verläuft, gibt es Fälle der Erkrankung, die erschreckend schwerwiegend ausfallen. Corona ist eben nicht mit einer gewöhnlichen Grippewelle vergleichbar. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings hoch, dass die Menschen, die einen Infizierten kennen oder sogar selbst erkrankt sind, glimpflich davongekommen sind. Dem gegenüber stehen die drastischen Schutzmaßnahmen, die eine Ausbreitung des Virus eindämmen sollen. Immer mehr Menschen empfinden diese Einschränkungen als strapaziöser als das Virus an sich. Viele können die Alternative, explodierende Infektionszahlen und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems, nicht begreifen, weil dieses Szenario bisher erfolgreich verhindert wurde.

Dazu kommt, dass viele immer schwerer zwischen einer Wirtschafts- und einer Gesundheitskrise unterscheiden können. Die Folgen des wirtschaftlichen Rückgangs werden für viele tatsächlich spürbarer sein als die gesundheitlichen Folgen einer möglichen Infektion. Sie fürchten die Wirtschaftskrise derzeit mehr als das verheerende Ausmaß der Pandemie – schlicht und ergreifend, weil das eine für die Mehrheit spürbarer ist als das andere. Um diesem wirtschaftlichen Absturz zu entgehen, tun viele das Naheliegende: die gesundheitlichen Konsequenzen der Pandemie verdrängen. Denn es ist nur da, was man spüren kann. Eine Welt ohne Maske bedeutet für viele eine Welt ohne Pandemie.

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