Die Alibi-Impfung

Lesedauer: 7 Minuten

Noch vor einigen Monaten konnten es die meisten kaum erwarten: Die ersten Impfstoffe standen in Deutschland kurz vor der Zulassung. Seitdem hat die Impfkampagne verschiedene Phasen durchgemacht. Nachdem nach deutlichen Startschwierigkeiten endlich genügend Impfstoff für alle da war, wich die Impfvorfreude einer regelrechten Impfeuphorie. Fast allen Menschen in Deutschland konnte ein Impfangebot gemacht werden. Der Fortschritt zeigte Wirkung, die Infektionszahlen schmolzen dahin. Seitdem verliert auch die Impfung zusehends an Popularität. Maßgeblichen Anteil daran haben die Vergünstigungen und Freiheiten, die neuerdings wieder ohne Pieks verfügbar sind.

Unzivilisierte Ungeimpfte

Wieder Ärger mit der Impfkampagne: Doch dieses Mal liegt die Schuld nicht bei Politik und Regierung. Stattdessen ist etwas eingetreten, was vor wenigen Wochen noch völlig undenkbar schien. Reihenweise verzichten Bürgerinnen und Bürger auf ihre Zweitimpfung. Anstatt aber geordnet und zivilisiert abzusagen, kreuzen viele einfach nicht zu ihren Terminen auf. Diesen Menschen scheint nicht bewusst zu sein, welchen Schaden sie der Impfkampagne und dem Kampf gegen die Pandemie damit zufügen.

Denn immerhin geht es hier nicht um geplatzte Kontrolltermine beim Zahnarzt. Es ist noch nicht lange her, da waren Impfstoffe absolute Mangelware. Besonders Deutschland trat beim Thema Impfen unbeholfen auf der Stelle, während Länder wie Israel den Einwohnern ein umfangreiches Impfangebot machen konnten. Erst mit der Zeit kamen die Impfungen in Deutschland ins Rollen. Im Sommer 2021 ist die Impfpriorisierung auch hierzulande weitgehend aufgehoben. Umso ärgerlicher ist es, wenn manche Leute kurzfristig und ohne Vorankündigung einen Rückzieher machen.

Sie nehmen damit anderen Menschen die Möglichkeit, sich zeitnah impfen zu lassen. Manche von ihnen fielen zwar nicht in die Priorisierungsgruppen, haben eine Impfung aber aus anderen Gründen nötig. Lange hofften sie auf die Zulassung wirksamer Impfstoffe. Und nun dürfen sie wegen solch rücksichtsloser Menschen unnötig lange auf ihre Impfung warten.

Sanktionen gegen die Impfdeserteure

Diese Spätzünder unter den Impfverweigerern kamen reichlich spät auf den Trichter, dass sie allein die Erstimpfung gegen jegliche Varianten des Coronavirus schützt. Ihre Entscheidung mag fragwürdig erscheinen, ist aber wohl nicht zu ändern. Das unentschuldigte Fehlen bei der Zweitimpfung ist aber bestimmt nicht die logische Schlussfolgerung daraus. Dieses Verhalten ist nachhaltig rücksichtslos und zeugt außerdem von einer absoluten Rückgratlosigkeit.

Anstatt sich einzugestehen, dass man die Impfung für völligen Quatsch hält oder einfach keine Lust auf die zu erwartenden Nebenwirkungen hat, gibt man lieber dem sozialen Druck nach und macht gehorsam einen Impftermin aus. Weil man durch die Erstimpfung seine Pflicht als guter Bürger erfüllt hat, kann man den Termin zur Zweitimpfung guten Gewissens sausen lassen. Soweit die Logik der ewig Erstgeimpften.

Manche befürworten nun allen Ernstes, Sanktionen gegen solche Menschen zu verhängen. Das ist traurig, aber scheinbar bitter nötig. Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass die körperliche Unversehrtheit eines jeden einzelnen immer im Vordergrund stehen muss. Wer sich keinen Impfstoff injizieren lassen möchte, der sollte diese Freiheit weiterhin haben. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die Menschen würden wegen ihrer Impfentscheidung bestraft, sondern einzig und allein wegen ihres rücksichtslosen Verhaltens ihren Mitmenschen gegenüber.

Die Alibi-Impfung

Dabei ist schon auffallend, wann die Bereitschaft zur Zweitimpfung nachgelassen hat. Die versäumten Termine liefen erst dann aus dem Ruder, als die Inzidenzwerte ins Bodenlose rauschten. Mit sinkenden Infektionszahlen nahm also auch die Impfbereitschaft ab. Vielleicht redeten sich manche Leute ein, bei einer scheinbar niedrigeren Bedrohungslage durch das Virus, könnte auf die Zweitimpfung verzichtet werden. Immerhin bedeuten die niedrigen Infektionszahlen auch, dass in vielen Bereichen kräftig gelockert wird.

So ist es seit einigen Wochen fast bundesweit nicht mehr nötig, eine vollständige Impfung oder einen tagesaktuellen negativen Corona-Test vorzuweisen, wenn man am normalen Leben teilnehmen möchte. Ungeimpfte sind nun nicht mehr verpflichtet, sich regelmäßig ein Wattestäbchen in die Nase rammen zu lassen, um ins Kino, in die Bar oder ins Restaurant zu gehen. Weswegen sollte man dann noch die Zweitimpfung über sich ergehen lassen? Immerhin ist allgemein bekannt, dass die Nebenwirkungen der meisten Präparate bei der Zweitimpfung deutlich heftiger ausfallen.

Diese Bürde möchte man natürlich nicht auf sich nehmen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Außerdem hat man mit der Erstimpfung ja bereits unter Beweis gestellt, dass man den Kampf gegen das Virus im Rahmen der Möglichkeiten unterstützt. Niemand kann erwarten, dass man womöglich schwere Nebenwirkungen in Kauf nimmt, ohne das unmittelbar etwas dabei herausspringt.

Das Misstrauen kehrt zurück

Diese offensichtliche Denkweise entlarvt die angebliche Solidarität auf dem Weg zur Herdenimmunität als ein bloßes Scheinargument. Dass eine große Zahl an vollständig Geimpften ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Pandemie ist, spielt für viele Menschen zwar eine Rolle, viel wichtiger sind aber die Vergünstigungen, die nach einer Impfung winken. Die Vereinbarung eines Impftermins ist bei vielen leider auf nichts anderes zurückzuführen als sozialen Druck und die Sehnsucht nach einem Mindestmaß an Bequemlichkeit. Dafür nimmt man auch gerne die Nebenwirkungen in Kauf und tut nebenbei noch etwas Gutes. Entfällt diese Notwendigkeit aber, schwindet auch die Impfbereitschaft.

Dann bricht eine andere Denkweise wieder Bahn, die seit vielen Jahren unbemerkt vor sich hingegärt hat. Denn die Käuflichkeit der Politik hat auch vor Medizin und Pharmakonzernen nicht haltgemacht. Viele Menschen wissen heute nicht mehr, was und wem sie glauben sollen und welche Interessen tatsächlich hinter bestimmten Vorhaben stehen. Dieses pauschale Misstrauen wurde von der allgemeinen Furcht vor dem Virus und der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur Normalität zeitwiese überdeckt. Die Menschen hofften auf ein Wundermittel gegen das völlig neuartige Virus, das wie aus dem Nichts kam. Verständlicherweise sah die überwältigende Mehrheit die Impfung als den aussichtsreichsten Weg aus der Pandemie.

Als die Politik dann auch noch Lockerungen für Geimpfte zusicherte, gab es für viele kein Halten mehr. Die Aussicht auf ein Stück wiedergewonnene Normalität ließ viele die Bedenken gegen profitgetriebene Pharmaunternehmen zunächst vergessen. Doch schon heute argwöhnt viele, wie aggressiv die Politik die Impfung bewirbt. Manche fallen dann leichter auf Verschwörungstheorien herein, obwohl die eigentliche Intention der Impfwerbung doch der Schutz der Bevölkerung ist.


Doch immer mehr Menschen interessiert das nicht. Nach zahlreichen aufgedeckten Bezahlstudien und einem politischen Gebaren, das eher entzweit als eint, verzichten sie eher auf die Zweitimpfung, wenn es ihrer Meinung nach nicht unbedingt nötig ist. In ihnen schwelt ein Kampf zwischen Misstrauen und Bequemlichkeit. Der Sieger dieses Kampfes hängt von der jeweiligen Infektionslage ab. Immer offensichtlicher wird, dass nicht nur überfüllte Krankenhäuser und überforderte Gesundheitsämter in der Pandemie Zeugnis dafür sind, was in den vergangenen Jahren schieflief.


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Ein Kartenhaus

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Viele Menschen sind zwischenzeitlich geimpft, der Inzidenzwert sinkt stetig. Erfreuliche Entwicklungen, könnte man meinen. Die Sache hat nur einen Haken: Für Geimpfte entfällt die Testpflicht. Was für viele eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, bereitet anderen große Sorgen. Wenn Infektionen trotz Impfung möglich sind, bedeutet das, dass wiederum viele Infizierte unerkannt bleiben. Perfekter Nährboden für Mutationen also. Eine andauernde Testpflicht für Geimpfte könnte dem vorbeugen.

Immer mehr Menschen kann in der Zwischenzeit ein Impfangebot gemacht werden. In der Diskussion sind nun auch Impfungen für Kinder. Über den in Frage kommenden Impfstoff ist man sich noch nicht einig, aber immerhin scheint die Impfkampagne auch in Deutschland endlich in vollem Gange zu sein. Für viele ein erfreuliches Zeichen: Seit Wochen sind die Inzidenzzahlen und die gemeldeten Neuinfektionen rückläufig. Die Politik nimmt das zum Anlass, mehr und mehr Beschränkungen zurückzunehmen. So begrüßenswert diese Entwicklungen sind, so verantwortungslos bleibt die naive Fixierung auf den Inzidenzwert.

Höhen und Tiefen

Diese Zahl ist abhängig von den gemeldeten Neuinfektionen innerhalb einer definierten Gruppe und innerhalb eines festgelegten Zeitraums. Momentan ist das die Anzahl der Neuinfizierten unter 100.000 Einwohnern in sieben Tagen. Sie gibt also nur Aufschluss über die gegenwärtige Infektionslage – und auch das nur unter den gegebenen Testvoraussetzungen. Mehr als eine Momentaufnahme ist die Inzidenzzahl nicht. Geeignet, um eine fundierte Aussage zu Infektiosität oder Gefährlichkeit des Virus zu treffen, ist sie bestenfalls, wenn umfassend getestet wird.

Das war seit Jahresbeginn immer mehr der Fall. Seit die Schnelltests für die Bevölkerung frei erhältlich sind und seitdem sich immer mehr Menschen impfen lassen können, wird am laufenden Band getestet. Bei einem hochinfektiösen Virus wie SARS-Cov-2 verwundert es wenig, dass bei höherer Testkapazität eine deutlich höhere Zahl der Tests positiv ausfällt. Immerhin ist ein Corona-Test fester Bestandteil der Impfprozedur. Wenn bestimmte Bereiche nur mit vollständiger Impfung oder negativem Test zugänglich sind, erhöht dies die Zahl der positiven Tests zusätzlich.

Relativ ungenau

Bevor es diese Zugangsbeschränkungen gab, fielen viele symptomlose Infizierte schlicht aus dem Raster. Da immer mehr Menschen vollständig geimpft sind, entfällt für sie die Pflicht, sich regelmäßig testen zu lassen. Sollten sie also trotz Impfung Corona-positiv sein, bleibt das ohne einschlägige Symptome unerkannt. Da sich die Hinweise verdichten, dass die Impfstoffe besonders gut gegen schwere Krankheitsverläufe helfen, also gegen bekannte Symptome, befördert das den Trend.

Die Inzidenzzahl als Richtwert für die Gefährlichkeit des Virus eignet sich also bestenfalls, wenn die meisten Menschen noch nicht geimpft sind. Das ändert sich derzeit rapide. Wenn die Bevölkerung zu einem hohen Anteil durchgeimpft ist, kann die Inzidenz keine ausschlaggebende Grundlage für Anti-Corona – Maßnahmen mehr sein. Es wäre von Anfang an besser gewesen, man hätte die Auslastung der Intensivbetten oder die Anzahl der Todesfälle als Indikator für die Gefährlichkeit des Virus zugrundegelegt. Auch das wäre natürlich nur dann zielführend gewesen, hätte man einen Großteil der Bevölkerung getestet. Und natürlich hätte man das ganze nicht von der Gesamtkapazität an entsprechenden Betten in den Kliniken abhängig machen dürfen. Denn jeder weiß, wie schlecht es um die Ausstattung in deutschen Krankenhäusern bestellt ist.

Unbehelligt infiziert

Es steht zu befürchten, dass mit fortschreitender Impfkampagne die Testkapazitäten nach und nach abgebaut werden. Wenn für Geimpfte keine Testpflicht besteht und eine große Zahl an Menschen bereits geimpft ist, wäre die Aufrechterhaltung von Testmöglichkeiten im großen Stil ein einziges Verlustgeschäft. Nach allem, was wir wissen, scheinen die Impfstoffe vorrangig schweren Krankheitsverläufen vorzubeugen. Selbst bei Risikopatienten können dadurch Symptome ganz ausbleiben. Für die Betroffenen ist das natürlich eine gute Nachricht. Solange ungeklärt ist, ob die Wirkstoffe auch gegen Infektionen schützen, bleiben viele zumindest vor einer schweren Erkrankung verschont.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Infektionen bei den vielen Symptomlosen unerkannt bleiben. Man muss kein Virologe sein, um zu erkennen, dass dieser Schuss nach hinten losgehen kann. Wenn die Infektionen wie bereits im Frühjahr 2020 größtenteils im Verborgenen stattfinden, mutiert das Virus unter Umständen munter vor sich hin. Würde man die Testpflicht auch für Geimpfte aufrechterhalten, könnten solche Mutationstendenzen eventuell frühzeitig erkannt werden.

Sicherheit im Kartenhaus

Eine anhaltende Testpflicht für Geimpfte hätte noch weitere Vorteile im Kampf gegen die Pandemie. Als die Pandemie vor etwa anderthalb Jahren ausbrach, da riefen viele reflexartig nach einem Impfstoff. Es steht außer Frage, dass geeignete Impfstoffe ein äußerst probates Mittel im Kampf gegen schwere Krankheiten sind. Und natürlich ist es erfreulich, dass die Wissenschaft so intensiv an einem Vakzin geforscht haben – eine Wahl hatte sie ehrlicherweise aber sowieso nicht. Trotzdem darf man nie vergessen, dass ein Präparat nach einigen Monaten unmöglich vollständig erforscht sein kann.

Verlässliche Aussagen zu Wirksamkeit, Wirkweise und Wirkdauer sind nach so kurzer Testung schlicht nicht möglich. Die akute Lage machte eine schnelle Zulassung allerdings dringend nötig. Man muss sich nun aber damit abfinden, dass wir auch nach der Zulassung der Impfstoffe weiterhin in einer groß angelegten Testphase stecken. Die fortschreitende Impfkampagne kann Aufschluss darüber geben, wie wirkungsvoll die zugelassenen Präparate sind und was sie gegen die Krankheit tatsächlich ausrichten. Die Aussetzung der Testpflicht für geimpfte Personen ist dabei eine vertane Chance. Man gaukelt den Menschen Sicherheit vor, die auf bloßen Annahmen fußt. Eine Impfkampagne ohne Testpflicht ist wie ein Kartenhaus, das einer vierten Welle nicht standhalten wird.


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Die Impfkampagne kommt in Deutschland allmählich in die Gänge. Eine beachtliche Zahl an Menschen hat bereits die Erstimpfung erhalten. Manche sind sogar bereits komplett durchgeimpft. Die Impfung ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. Der Bundestag hat darum jüngst beschlossen, dass Geimpfte und Genesene von einem Teil der Beschränkungen ausgenommen werden. Diese Lockerungen betreffen aber zunächst nur den privaten Bereich, in dem viele Menschen seit Monaten munter gegen die Auflagen verstoßen. Kaputtgesparte Krankenhäuser und unterbesetzte Gesundheitsämter lassen eine Öffnung des öffentlichen Bereichs weiter nicht zu.

Ein Stückchen mehr Freiheit

Worauf viele seit Monaten gehofft haben, hat der Bundestag nun in der vergangenen Woche beschlossen: Die Grundrechtseinschränkungen von Geimpften und Genesenen werden teilweise zurückgenommen. Wer vollständig gegen Covid-19 geimpft ist oder in den vergangenen sechs Monaten eine Erkrankung überstanden hat, ist fortan mit negativ getesteten Personen rechtlich gleichgestellt.

Die Entscheidung wurde von vielen sehnsüchtig erwartet. Immerhin gelten entsprechende Regelungen in an deren Ländern schon seit längerem. Im Gegensatz zu Deutschland haben in diesen Ländern bereits weit mehr Menschen eine vollständige Impfung gegen das Virus erhalten. Trotzdem ist es richtig, die Grundrechtseinschränkungen laufend zu überprüfen und zurückzunehmen, falls der Grund für die Einschränkungen wegfällt.

Testpflicht statt Impfpflicht

Bis zuletzt hat sich in diesem Zusammenhang besonders Bundesjustizministerin Christine Lambrecht gegen den Begriff „Privilegien“ gesperrt. Und sie hat völlig recht: Die Rückgabe elementarer Grundrechte ist keine edelmütige Tat, es ist keine staatliche Großzügigkeit, es ist eine Selbstverständlichkeit. Der Wegfall der umfassenden Einschränkungen ist auch verantwortbar, wenn ein adäquates Mittel gefunden ist, das Neuinfektionen verhindert, ohne dass Menschen auf einige ihrer Grundrechte verzichten müssen.

Eine vollständige Impfung gegen das Virus allein reicht hier nicht. Bislang ist weiter ungeklärt, mit welcher Wirksamkeit die Impfstoffe Infektionen und schwere Krankheitsverläufe verhindern. Die Zahlen, die dabei immer wieder in den Raum geworfen werden, basieren auf Testverfahren, die nach weniger als einem Jahr abgeschlossen wurden. Niemand kann bei einer solch verkürzten Forschungsphase seriös die Wirksamkeit oder die Unwirksamkeit eines Präparats belegen.

Nach aktuellem Kenntnisstand beugen die Impfstoffe zwar einem schweren Krankheitsverlauf vor, die Weitergabe des Virus wird aber nur unzureichend verhindert. Genau darum sollte es beim Kampf gegen die Pandemie aber gehen. Im Vordergrund sollte der Schutz der Gemeinschaft stehen. Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn man dafür sorgt, dass man möglichst wenige Menschen ansteckt. Eine Impfung kann ein erster Schritt dazu sein, reicht aber bei weitem nicht aus. Viel sinnvoller wäre die Aufrechterhaltung der Testpflicht für alle Menschen. Auch die Tests arbeiten nicht immer ganz zuverlässig, können im Zweifelsfall aber Infizierte gezielt isolieren, anstatt ihnen einen Freibrief auszustellen.

Es ist kein Wunder, dass viele Menschen die Lockerungen für Geimpfte als Privilegien verstehen, wenn für sie mit der Impfung der Kampf gegen die Pandemie endet. Solange nicht klar ist, dass Geimpfte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Überträger des Virus mehr sein können, muss auch für diese Gruppe die Testpflicht weiterhin gelten. Stattdessen dürfen sie nach der Impfung genau das wieder tun, was viele von ihnen seit Monaten sowieso wieder tun.

Infektionen im Verborgenen

Ausgerechnet die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen fallen für Geimpfte als erstes. Dabei tummeln sich die Menschen seit Monaten eng an eng in deutschen Wohnzimmern. Die bisher geltenden Besuchsregelungen handhaben viele äußerst lax oder setzen sich grundsätzlich darüber hinweg. Aus rein menschlicher Sicht fällt es schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Als soziales Wesen braucht der Mensch die Begegnungen und den Austausch mit anderen. Regelmäßige Skype-Sessions und Telefonate können das auf Dauer nicht ersetzen. Eine Infektionsnachverfolgung im privaten Raum ist allerdings wesentlich schwieriger als in öffentlichen Einrichtungen.

Wenn der Staat als erstes diese Regelungen zurücknimmt, tut er sich damit keinen Gefallen. Schon jetzt entziehen sich die privaten Haushalte völlig zurecht der staatlichen Kontrolle. Anstatt möglichen Infektionstreibern mit den nun zugesprochenen Lockerungen einen Blankoscheck auszustellen, würde es deutlich mehr Sinn machen, sie aus den schwer kontrollierbaren Bereichen herauszuholen. Kombiniert mit den jetzt beschlossenen Lockerungen führt der schwache Infektionsschutz der Impfungen zu einer Reihe nicht erkannter Infektionen, die das Infektionsgeschehen weiter anheizen werden. Hätten die Menschen stattdessen die Möglichkeit, sich in Bereiche zu begeben, in denen Infektionen zumindest teilweise nachverfolgt werden können, würde das die Infektionslage deutlich schneller beruhigen.

Experimentieren mit Halbwissen

Bei solchen Lockerungen wäre allerdings der Staat in der Pflicht. Das öffentliche Leben bedeutet auch öffentliche Verantwortung. Der Staat müsste dafür sorgen, dass die Gastronomie und kulturelle Einrichtungen die ihnen auferlegten Maßnahmen effektiv umsetzen können. Unterbesetzte Gesundheitsämter und kaputtgesparte Krankenhäuser führten jedoch bereits in der ersten Welle der Pandemie dazu, dass die Hygienemaßnahmen in diesen Betrieben in vielen Fällen ins Leere liefen. Dort entstandene Infektionen konnten bald nicht mehr nachverfolgt werden, weil den Behörden schlicht das Personal fehlte.

Die großzügigen Öffnungen im privaten Bereich entlassen den Staat aus dieser Pflicht. Die Geimpften und Nur-so-halb-Corona-Immunen tragen die Verantwortung allein. Trotz fehlender fundierter Erkenntnisse, gaukelt man dieser Gruppe vor, dass von ihr eine weitaus geringere Infektionsgefahr ausgeht als von Ungeimpften. Das kann sogar stimmen. Gesichert ist dieses Wissen aber nicht.

Auf wackeligen Beinen

Gerade in dieser Situation wäre es umso nötiger, die Lockerungen kontrolliert zu vollziehen. Es muss nachvollziehbar bleiben, an welchen Stellen sich Menschen weiterhin anstecken und in welcher Häufigkeit das geschieht. Im privaten Bereich wird das selbst mit stark besetzten und hochdigitalisierten Gesundheitsämtern nur schwer möglich sein. Die voranschreitende Impfkampagne wäre in Kombination mit einer strikten Testpflicht ein großer Schritt zu mehr Normalität gewesen. Gleichzeitig hätten viele gastronomische und kulturelle Betriebe und Geschäfte des Einzelhandels aus ihrer Zwangssiesta erwachen können.

Man hat diese Chance nicht genutzt. Stattdessen lässt man den Zug der Lockerungen ähnlich unkontrolliert rollen wie bereits in der ersten Welle der Pandemie. Die gebeutelte Wirtschaft lässt man damit erneut im Stich. Wenn beizeiten keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, ist der nächste Lockdown nur eine Frage der Zeit.


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