Aus eigener Erfahrung

Lesedauer: 9 Minuten

Der immer radikalere und absurdere Protest auf deutschen Straßen erscheint vielen wie eine zwangsläufige Entwicklung. Einige der selbsternannten Querdenker und kritischen Geister mögen zwar total versponnen sein, aber an ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung ändert das nichts. Die meisten übersehen dabei, dass die Verschwörungstheoretiker und rechten Hetzer vielen anderen heute nicht mehr als wirr im Kopf gelten. Zügellos hauen sie eine demagogische Aussage nach der nächsten heraus. Immer weniger Menschen wissen währenddessen aus eigener Erfahrung, wie gefährlich dieses Spiel mit dem Feuer ist. Gegen einen immer lauter werdenden Pulk haben sie aber immer weniger Chancen…

In bester Gesellschaft

Auf dem Marktplatz bereitet sich ein Mann auf seinen großen Auftritt vor. Er ist empört. So wie es ist, kann es nicht weitergehen. Er wird seinem Ärger jetzt Luft machen. Aus Paletten und anderen Holzresten hat er sich eine kleine Kanzel gebaut. Ein paar Passanten sind bereits stehengeblieben. Sie sind gespannt darauf, was der gute Mann wohl zu sagen hat.

Dann ist es soweit. Der Mittvierziger schaltet sein Mikro an, damit möglichst viele Menschen ihn hören können. Und dann legt er los. Vor wenigen Wochen hat er aus heiterem Himmel seine Arbeit verloren. Den Job macht jetzt ein junger Mann aus Rumänien. Der spricht gebrochen Deutsch und versteht die Hälfte nicht, wenn man ihm was erklärt. Genau darüber redet der zornige Mann auf dem Marktplatz. Er hat Angst, denn egal, wo er hinsieht, sieht er Fremde. Im Bus und in der Bahn schreien Dunkelhäutige in ihre Handys. An den Straßenecken muss man aufpassen, damit man nicht von einer Meute jugoslawischer Jugendlicher zusammengeschlagen wird.

Der Mann hat sich mittlerweile so in Rage geredet, dass er gar nicht mitbekommt, dass selbst das Ehepaar, das vor einigen Minuten noch halbinteressiert zugehört hat, in der Zwischenzeit kopfschüttelnd das Weite gesucht hat. Niemand hört ihm zu. Diesem wütenden mittelalten weißen Mann im Jahr 2000.

Wäre er nicht vier Jahre später bei einer weiteren Hasstirade gegen Ausländer an einem Herzinfarkt gestorben, der Mann würde sich heute freuen. Würde er zwanzig Jahre später auf seine Kanzel steigen, dann würden ihm tausende begeistert zuhören. Sie würden ihm zujubeln und Transparente in die Luft halten, welche die Botschaft des Mannes unterstrichen. Heute wäre er kein versponnener Einzelgänger mehr. Unter Querdenkern, Rechtspopulisten und anderem Nazigeschmeiß wäre der Herr heute in bester Gesellschaft.

Andere Zeiten

Den Mann aus dieser kleinen Geschichte, gibt es nicht. Also eigentlich gibt es ihn schon, aber für diesen Artikel habe ich ihn erfunden. Ganz bestimmt gibt es in diesem Land aber zig Menschen, die auf diese Beschreibung passen. Unser kleiner antagonistischer Protagonist war bestimmt auch vergangenes Wochenende in Stuttgart dabei. Boshafte Juxfiguren wie ihn findet man inzwischen alle Nase lang. Er protestiert im Schulterschluss mit noch düstereren Gestalten auf den Straßen und fühlt sich dabei wie ein besonders guter Bürger.

Vor zwei Jahrzehnten hätte er mit seinen Hetzereien kaum so eine durchschlagende Wirkung gehabt. Heute sieht das anders aus. Menschen wie er wissen sich heute einer latenten Unterstützung, einer bereitwilligen Empfänglichkeit in der restlichen Bevölkerung sicher. Anders als um die Jahrtausendwende sind heute viel mehr Menschen dazu bereit, solchen Parolen hinterherzulaufen. Einige halten dagegen. Andere schütteln den Kopf. Aber viel zu viele hören zu und nicken.

Nazi-Logik

Vor ungefähr anderthalb Jahren schrieb ich auf diesem Blog von einem alten Mann in der Regionalbahn, der von defekten Zugklos einen kühnen Gedankensprung zu verhätschelten Flüchtlingen machte (https://svendominic.de/eigentlich-war-hitler-ein-versager/). Auch er wurde von vielen nicht ignoriert. Das Gift der selbsternannten Wutbürger ist bereits tief in unsere Gesellschaft vorgedrungen. So tief, dass heute Sprüche salonfähig sind, mit denen man sich noch vor einigen Jahren völlig ins Aus manövriert hätte.

Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD Bernd Baumann nahm am 14. Januar im Bundestag Stellung zur Diskriminierung von Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland. Er wunderte sich laut darüber, warum denn immer mehr solcher Menschen nach Deutschland kämen, wenn es ihnen hier doch angeblich so schlecht ginge. Das ist umgekehrte Nazi-Logik. In den 1940er Jahren propagierten die Nazis, die Juden würden freiwillig das Land verlassen, weil sie in Deutschland keine Perspektive für sich sähen. Schon damals versuchte man, die menschliche Logik mit solch fadenscheinigen Argumenten hinter’s Licht zu führen.

Sein Fraktionskollege Markus Frohnmaier steht Baumann dabei in nichts nach. Zu seinen besten Zeiten kündigte er an, seine Partei würde bald aufräumen und nur noch Politik für das Volk machen. Auch er bediente sich eindeutig der Rhetorik der Nazis. Bereits 1940 erklärte der überzeugte Nationalsozialist Hans Frank stolz, der Führer habe die Juden mit einem eisernen Besen aus dem Lande gefegt (https://www.youtube.com/watch?v=gm6qgMeOkJA).

Diese Menschen konstruieren sich selbst einen schlaff anliegenden Maulkorb, von dem sie sich nach Jahren der Unterdrückung endlich befreien. Es ist richtig, dass solche Parolen sehr lange kein Forum hatten. Es stimmt aber nicht, dass diese Menschen in irgendeiner Art und Weise unterdrückt wurden. Man hörte ihnen einfach nicht zu.

Die Erinnerung verblasst

Besonders in Zeiten, in denen von Mahnmalen der Schande die Rede ist, ist eine Erinnerungskultur wichtiger denn je. Die Menschen dürfen nicht vergessen, welch unendliches Leid sie einst verursacht haben – und jederzeit wieder verursachen können. Aktives und kollektives Erinnern gelingt am besten, wenn es Menschen gibt, die die Erinnerung aus eigener Erfahrung wachhalten. Fast 80 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches sind aber nicht mehr viele Zeitzeugen von damals übriggeblieben. Die allermeisten von ihnen sind in der Zwischenzeit gestorben.

Was bleibt, sind die vielen Denk- und Mahnmale, die Einträge in Geschichtsbüchern sowie die Überlieferungen von Zeitzeugen. Je länger der Schrecken allerdings her ist, desto weniger Menschen gibt es, die uns glaubhaft vor den Gefahren warnen können. Es gibt immer weniger Menschen, die darauf achten, dass sich das Geschehene nicht wiederholt.

Direkter Zusammenhang

Die Zeitzeugen, die Vertriebenen und die Holocaust-Überlebenden waren im wahrsten Sinne des Wortes der Impfstoff, der uns vor den düstersten Ideologien gefeit hat. Doch im Laufe der Jahre hat der Impfschutz nachgelassen, die Viruslast steigt. Immer weniger mahnende Zeigefinger halten Verschwörungstheoretiker und Rechtspopulisten davon ab, ihre kruden Theorien zum besten zu geben. Die wenigen noch lebenden Zeitzeugen machen einen immer geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung aus. Die Identifizierung mit dieser Gruppe schwindet. Viele fühlen sich mit diesen Menschen nicht mehr verbunden.

Und das hat nur bedingt mit steigenden Flüchtlingszahlen zu tun. Der Flüchtlingsstrom aus Syrien und anderen Kriegsgebieten dient den rechten Rattenfängern lediglich als Vorwand, um ihre unmenschlichen Ansichten zu begründen. Für viele waren die eigenen Lebensumstände bereits vor fünfzehn oder zwanzig Jahren prekär. Viele waren bereits vor so langer Zeit frustriert und wütend. Dass sie sich in den letzten Jahren aber sehr viel stärker der politischen Rechten zuwandten, hängt mit dem Sterben von Holocaust-Überlebenden direkt zusammen.

Ungünstiges Zusammenspiel

Der Wiederaufstieg der extremen Rechten ist nämlich kein Selbstläufer. Das Wegsterben von Zeitzeugen reicht nicht aus, damit sich das braune Gedankenschlecht breitmachen kann. Hinzu kommen noch teilweise fatale politische Weichenstellungen, die in den vergangenen Jahren eingeleitet wurden. Es ist die Politik der Missverhältnisse, die die Menschen auf die Barrikaden brachte. Jahrelang haben sie sich in sich hineingeärgert. Sie hatten immer weniger Möglichkeiten, sich politisch auszudrücken und auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Bewegungen wie Pegida und später die AfD boten ihnen endlich wieder ein Forum. Dass sie dafür rechte Ressentiments schlucken mussten, nahmen sie billigend in Kauf.

So entwickelte sich schnell eine Spirale, aus der es inzwischen kaum noch einen Ausweg zu geben scheint. Immer schneller und immer weiter entfernen sich viele von einem Wertekanon, bei dem die Würde aller Menschen im Mittelpunkt stand. Die meisten von ihnen bemerken nicht einmal, dass sie die wunderbare Idee der Demokratie gerade in die Tonne klopfen.

Kommen dazu noch unkontrollierbare äußere Einflüsse wie die Coronapandemie, ist das Desaster komplett. Keine Regierung auf der Welt kann etwas dafür, dass uns dieses Virus seit mehr als einem Jahr heimsucht. Kompetente Regierungen hingegen hätten schnell und besonnen reagiert. Sie hätten womöglich auch Fehler gemacht, aber die grundsätzliche Stoßrichtung hätte gestimmt. Versemmelt die Regierung allerdings einen Schlag gegen das Virus nach dem anderen, so ist das natürlich Wasser auf die Mühlen der politischen Ränder.


Derzeit erleben wir ein wahrlich unglückliches Zusammenspiel von ungünstigen Faktoren. Die Regierung regiert seit vielen Jahren faktisch am Volk vorbei, während uns die Coronapandemie zusätzlich vor schwere Herausforderungen stellt. In einer Zeit, in der die extreme Rechte paradiesische Zustände vorfindet und ordentlich zulegt, gibt es dazu immer weniger Menschen, die aus eigener Erfahrung wissen, wie fatal diese Kombination ist. Wir sollten ihnen zuhören, solange wir können und ihre Worte niemals vergessen.


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Nicht allein

Lesedauer: 7 Minuten

Es gab einmal eine Zeit, da war Corona der heißeste Scheiß. Jeder sprach darüber, jeder hatte Angst davor, jeder war vorsichtig. An Corona hat sich zwischenzeitlich wenig geändert, außer dass es fragwürdigen mutierten Zuwachs bekommen hat. Der Umgang mit der Pandemie hat sich allerdings sehr gewandelt – in vielen Bereichen leider nicht zum positiven. Ein gefühlt ewiger Lockdown und eine fehlende plausible Öffnungsstrategie erzeugte viel eher eine kontraproduktive Pandemiemüdigkeit. Doch ein laxer Umgang mit dem Virus ist und bleibt gefährlich.

Vier Nullen für Corona

Zu Jahresbeginn sah es so aus, als würden die verschärften Maßnahmen gegen das Coronavirus tatsächlich fruchten. Die Infektionszahlen und der Inzidenzwert gingen kontinuierlich zurück. Mit deutlich über 10.000 Neuinfektionen pro Tag lagen die Zahlen zwar weiterhin viel zu hoch, aber von den 30.000 im November und Dezember war man glücklicherweise wieder weit entfernt. Doch seit einigen Tagen verändern sich die Werte kaum noch. Es scheint, als hätten sie sich bei um die 10.000 eingependelt.

Die unweigerliche Schlussfolgerung daraus: Die jetzt geltenden Maßnahmen sind erschöpft. Ihre Wirksamkeit ist an ihre Grenzen gestoßen. Das mag so stimmen, aber was wäre dann der nächste Schritt? Nehmen wir die anhaltend hohen Zahlen in Kauf oder schärfen wir erneut nach? Sollen Restaurants und weite Teile des Einzelhandels noch länger geschlossen bleiben? Oder müssen wir unseren Blick noch stärker auf einen Bereich richten, der in den letzten Monaten immer mehr aus der Wahrnehmung geraten ist?

Die Privatpandemie

Es ist ein unumstößlicher Fakt, dass die jetzigen Infektionen nicht von Kontakten beim Friseur oder im Fitnessstudio herrühren können – die Geschäfte haben schließlich dicht. Der Übeltäter muss an anderer Stelle zu finden sein und da bleiben im Grunde nur zwei größere Felder übrig: die Arbeitsstätten der Menschen und der private Raum. Trotz fehlender Home-Office – Pflicht sind viele Betriebe und Unternehmen wieder auf das Arbeiten von zu Hause umgestiegen. Viel bedeutender für das Infektionsgeschehen sind hingegen private Treffen, bei der munter gegen die Kontaktbeschränkungen verstoßen wird.

Selbst wenn man solche Szenarien noch nicht selbst beobachtet hat, lassen sich fünfstellige Infektionszahlen nicht ausschließlich mit Ansteckungen im Büro erklären. Jeder weiß, dass der private Raum in vielen Fällen ein Hotspot ist, aber kaum jemand redet darüber. Einerseits sind Treffen in den eigenen vier Wänden kaum staatlicher Kontrolle unterworfen – und das ist gut so – andererseits herrscht bei vielen das Gefühl vor, allein mit ihrem Fehlverhalten zu sein.

Egozentrische Verdrängung

Statt sich nur mit einer anderen Person zu treffen, tun sich viele dieser Menschen gleich mit vier oder fünf Mitmenschen zusammen. Manche machen das regelmäßig, andere sporadisch. In einer bemerkenswerten egozentrischen Verdrängungsleistung blenden sie die etwaige Existenz anderer Regelbrecher konsequent aus. Sie scheinen offenbar zu vergessen, dass jeder, auch sie selbst, ein potentieller Superspreader ist. Sie ignorieren die Tatsache, dass ihre zahlreichen Gäste auch nach der Feier ein Leben haben und jedwede Bakterien und Viren in die Welt hinaustragen und an weitere Kontakte abgeben.

Obwohl sie sich in ihrem eigenen Zuhause absolut sicher fühlen, bleiben ihre Aktivitäten natürlich nicht vollkommen unbemerkt. Es gibt immer Menschen, die das Fehlverhalten mitbekommen. Mancheiner schüttelt darüber fassungslos den Kopf, andere lassen sich selbst zu einer rauschenden Party am nächsten Wochenende hinreißen – bei den anderen ist ja auch nichts schlimmeres passiert. Dass manche mit der Corona-Party von letzter Nacht geradezu herumprahlen, befördert die Kettenreaktion zusätzlich. Und solange man draußen die Maske trägt…

Danke für gar nichts

Die Menschen haben keine Lust mehr auf Corona. Und die Menschen haben keine Lust mehr, Kontakte einzuschränken, nur mit Maske einzukaufen und auf den Friseurbesuch zu verzichten. Neuerdings spricht man hier von einer Pandemiemüdigkeit. Jeder, dem diese Maßnahmen stinken und der sich nach dem Normalzustand sehnt, verhält sich absolut menschlich. Absolut unmenschlich ist es allerdings, eine Verlängerung des Endlos-Lockdowns herbeizuführen. Es ist zumutbar, seine Kontakte für eine begrenzte Zeit auf ein Minimum zu reduzieren. Es gibt keine zwingende Notwendigkeit, ständig miteinander abzuhängen. Man muss atmen und man muss einkaufen. Man muss aber keine Partys feiern.

Die Dauer des aktuellen Lockdowns lässt sich mit Müh‘ und Not vielleicht noch inkompetenten Politikern andichten. Die Höhe der Infektionszahlen sicher nicht. Hierfür sind in erster Linie die verantwortlich, die anscheinend nie gelernt haben bis 1 zu zählen und denen jegliches Rückgrat fehlt. Ihnen ist es zu verdanken, dass die vielen Anständigen im Land noch sehr lange Zeit auf große kulturelle Veranstaltungen, auf Besuche im Kino und nicht zuletzt auf ausgiebiges Feiern verzichten müssen. Sie sind schuld daran, dass einen noch lange ein ungutes Gefühl beschleicht, selbst wenn man sich an die Vorgaben hält.

Es gibt einen harten Kern an Idioten, welche die Maßnahmen von Anfang an mit Füßen getreten haben oder zumindest sehr früh damit anfingen. Dann gibt es wiederum solche Menschen, die sich zwar lange an die Regeln hielten, inzwischen aber auch immer öfter Ausnahmen machen, weil sie die Einschränkungen leid sind. Um zu verhindern, dass auch diese Menschen das nächste Superspreader-Event schmeißen, müssen Kontakte zukünftig wieder klar nachverfolgbar sein. In Restaurants, Bars und Kinos mit strengen Hygieneauflagen ginge das sicherlich leichter als in den heimischen Wohnzimmern.

Raus aus der Illegalität

Die vorsichtige Öffnung von gastronomischen Betrieben und Einrichtungen des Kulturbereichs hätte gleich mehrere wünschenswerte Effekte. Einerseits wäre das Infektionsgeschehen zumindest teilweise wieder kontrollierbar. Immerhin lassen sich Besuche an solchen Orten und etwaige Kontakte leicht nachverfolgen. Wie mit legalen Drogen könnte man das Pandemiegeschehen so schrittweise in den Griff bekommen, weil sich Risikokontakte weniger im Verborgenen abspielen, sondern in aller Öffentlichkeit.

Auf der anderen Seite würden sich viele Menschen nicht mehr so eingesperrt fühlen wie sie es jetzt tun. Wichtige menschliche Bedürfnisse wie die Pflege sozialer Kontakte könnten ganz regelkonform erfüllt werden. Natürlich birgt der Besuch einer Kneipe in Pandemiezeiten ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Weil aber in der Öffentlichkeit jeder Maske tragen muss, ist das Risiko einer Ansteckung auch nicht höher, als wenn man sich im privaten Raum trifft – ohne Maske.

Gerade weil das Gefühl des Eingesperrtseins entschärft würde, hätten es die selbsternannten Querdenker schwerer, ihre Scharen zu rekrutieren. Natürlich würden sich auch weiterhin Menschen angesprochen fühlen, wenn von Abschaffung der Demokratie und DDR 2.0 die Rede ist, aber immerhin hätten die meisten Menschen weniger Grund, frustriert zu sein. Der Kampf gegen die Pandemie ginge weiter. Die Kumpanei mit dem Virus im privaten Raum wäre eingedämmt.


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Fair statt quer

Lesedauer: 8 Minuten

Corona erweist sich immer öfter als fataler Katalysator für Probleme in den unterschiedlichsten Bereichen. Es verschärft die prekären Verhältnisse in den Krankenhäusern und im Gesundheitswesen, es verschlimmert die unmenschlichen Zustände in Schlachtereien, aber es treibt auch die Entfremdung von der Demokratie voran, die lange vor Corona einsetzte. Nur ein echter Politikwechsel hin zu mehr Bürgernähe kann dazu beitragen, ein Auseinanderdriften in Zeiten ohne Abstand zu verhindern.

Schlecht, schlechter, Corona

Diskutieren Politiker, Wissenschaftler und andere Experten über die Folgen der Coronakrise, darf eines nicht fehlen: die Brennglas-Metapher. Besonders gut verdeutlicht sie die Missstände, die durch die Pandemie offensichtlich wurden. Dabei ist sie inzwischen schon fast zu einer Floskel verkommen. Das ist schade, bringt sie die Probleme doch besonders wahr und klar zum Ausdruck. Denn einerseits verschärfte sich die Situation in deutschen Krankenhäusern durch das Virus enorm. Wo der Betrieb bisher mit Ach und Krach gerade so am Laufen gehalten wurde, da befindet sich viel medizinisches Personal heute jenseits seines Limits. Andererseits kann das Brennglas auch nur dort verschlechtern, wo bereits zuvor ein Missstand war. Die extrem dünne Personaldecke in den Krankenhäusern oder die katastrophalen Zustände in deutschen Fleischereibetrieben sind keine Erfindung des Virus.

Unter diesen skandalösen Bedingungen konnte das Virus nur besonders gut gedeihen. Plötzlich wusste jeder im Land, dass die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Morgen in überfüllten Bussen zur Arbeit gekarrt wurden. Außerhalb der viel zu langen Arbeitszeiten mussten sie in schuhkartonähnlichen Baracken ausharren. Man ist fast geneigt, von Massenarbeiterhaltung zu sprechen.

Ein ernsthaftes Problem

Es ist richtig, dass all das nun endlich an die Öffentlichkeit kam. Es ist ebenso richtig, dass sich die Menschen darüber empören und die Politik unter Druck setzen. Richtig wäre auch, wenn diesen Problemen endlich Abhilfe geschaffen würde. Es stimmt aber leider genau so, dass ein Missstand bis heute viel zu wenig zur Sprache kam. Die Corona-Pandemie hat doch auch offensichtlich gezeigt, in welch schlechtem Zustand sich unsere Demokratie heute befindet.

Ich meine damit übrigens nicht, dass die Parteien darüber streiten, wie sie rechtzeitig zur Bundestagswahl genügend Kandidaten aufstellen sollen oder in welcher Form die Wahlen überhaupt stattfinden. All das sind Probleme, die relativ leicht zu lösen sind. Ich rede vom frappierenden Vertrauensverlust gegenüber der Demokratie, der durch die Pandemie besonders deutlich wurde. Es ist nämlich nicht so, dass die selbsternannten Querdenker lediglich von Stadt zu Stadt ziehen und eine Demo nach der anderen abhalten. Sie ziehen regelmäßig tausende Menschen an, die ihnen folgen, ihnen zuhören und sie sogar bejubeln. Am schlimmsten allerdings ist: Sie glauben ihnen.

Nun kann man leicht die Nase rümpfen und sich über diese Aufläufe echauffieren. Man kann diese Menschen sehr einfach als Nazis, Reichsbürger und anderes undemokratisches Geschmeiß diffamieren. Und ganz bestimmt besteht der harte Kern der Querdenker aus solchen Leuten. Es leuchtet allerdings nicht ein, wo diese Anti-Demokraten auf einmal alle hergekommen sein sollen. Es muss doch einen Anlass dafür geben, warum sie für die Theorien dieser Szene so empfänglich sind. Sie protestieren laut, dass sie die Schnauze endgültig vollhaben. Was also hat ihre Schnauzen so lange gefüllt?

Eine Luftnummer

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das deutsche Grundgesetz ist eindeutig: Das Volk ist der Souverän. Die Politikerinnen und Politiker sind verpflichtet, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu handeln. Schaut man sich allerdings das Regierungshandeln der letzten Jahre an, so ist von diesem Grundsatz nicht viel geblieben. Menschen arbeiten in äußerst prekären Arbeitsverhältnissen, die Rente reicht vielen hinten und vorne nicht, in den Schulen bröckelt der Putz von der Decke. Gleichzeitig werden Millionen in unsinnigen Mautbestrebungen versenkt, die Rüstungsindustrie muss nicht einmal mehr „Bitte“ sagen und Banken werden mit Steuergeldern aus der selbstverschuldeten Krise gezogen. Mit echter Demokratie und Volksnähe hat das nichts zu tun.

Seit vielen Jahren hört die Regierung viel eher auf die Befindlichkeiten der Wirtschaft als auf die realen Nöte ihrer Bevölkerung. Den bisherigen Höhepunkt erreichte diese Interessensverirrung tatsächlich in der Coronakrise. Die Regierung steckte Milliarden an Steuergeld in die Lufthansa, um das marode Unternehmen auch in der Krise weich landen zu lassen. Wow, könnte man jetzt meinen, endlich mal was für Arbeitsplätze und soziale Absicherung. Doch weit gefehlt! Nicht ein Cent war an den tatsächlichen Erhalt eines einzigen Arbeitsplatzes geknüpft. Stattdessen kündigte Lufthansa jüngst an, fast 30.000 Stellen zu streichen.

Und raus bist du

Die Bodenhaftung und das Gespür für die Sorgen und Nöte der ganz normalen Bevölkerung hat die Politik vor langer Zeit verloren. Resigniert haben viele längst das Handtuch geworfen und wurden zu Nichtwählern. Es ändert sich ja doch nichts. Man kann wählen, wen man will, die persönlichen Lebensumstände tangiert das nicht einmal peripher. Diese Ignoranz hat viele Menschen vom demokratischen Diskurs entwöhnt. Sie selbst haben viele der Spielregeln der Demokratie verlernt, weil sie lange nicht mitspielen durften. Das führt dann beispielsweise zu einer völligen Umdeutung des Begriffs der Meinungsfreiheit. Für immer mehr bedeutet die Meinungsfreiheit heute, dass sie unwidersprochen sagen können, was sie wollen. Es ist die penetrante Taubheit der Regierung gegenüber den Menschen, die zu dieser verqueren Entwicklung geführt hat.

Durch Corona sind wir einer Situation gelandet, die schnelles und unbequemes Handeln erfordert. Das beinhaltet auch eine temporäre Einschränkung einiger Grundrechte. Selbst in Zeiten einer blühenden Demokratie wäre so etwas eine Zumutung. Doch in der jetzigen Situation haben wir es mit einer großen Zahl an Skeptikern zu tun, die sich in ihrer Meinung bestätigt fühlen. Die Beschneidung der Grundrechte interpretieren sie doch zwangsläufig als direkten Angriff auf die Demokratie. Nachdem lange an ihnen vorbeiregiert wurde, müssen sie doch jetzt davon ausgehen, dass es tatsächlich ihrer persönlichen Freiheit an den Kragen geht.

Mehr als drei Kreuzchen

Rechten Rattenfängern spielt das natürlich in die Karten. Längst hat sich die AfD mit der Querdenkerszene verbrüdert. Anstatt nun alle Menschen, die auf solche Demos gehen, pauschal als Verschwörungstheoretiker und Rechte abzutun, muss es doch die oberste Priorität echter Demokraten sein, diesem wilden Treiben von rechts Einhalt zu gebieten. Denn die Ultrarechte wird es immer geben. Wichtigstes Anliegen muss sein, die Menschen durch echte Bürgerbeteiligung nicht einmal in diese Richtung denken zu lassen.

Offensichtlich reicht es vielen Menschen nicht aus, alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen. Zwischen den Wahlen fühlen sie sich häufig ohnmächtig. In Deutschland hat sich eine politische Kultur etabliert, in der von den Bürgern erwartet wird, ihre demokratischen Rechte in der Wahlkabine abzugeben. Aber nur wenn die Geschicke des Landes auch nach und vor einer Wahl beeinflusst werden können, entsteht echte Demokratie. Nur wenn das Volk das Parlament effektiv kontrollieren kann, wird Frust zu Begeisterung und Verdruss zu Motivation.

Wenn der Souverän entscheidet

Ein Bürgerrat ist ein sinnvoller Schritt, um die Interessen aus dem Volk ins Parlament zu tragen. Über Bürgervetos sollen die Menschen bemächtigt werden, Nein zu kritischen Gesetzen zu sagen, wenn sie andere konstruktive Vorschläge machen können. Sollten Bürgerbegehren tatsächlich zu Gesetzesvorlagen führen, sollten die Menschen dazu berechtigt sein, in bundesweiten Volksabstimmungen darüber zu entscheiden.

All diese Initiativen würden die Politik enorm beleben. Besonders die Parteien würden davon profitieren, weil sie neue Anreize hätten, möglichst viele Menschen von ihren Ideen zu überzeugen. Auch die Menschen selbst wären zufriedener, weil sie die Gewissheit hätten, dass sie an den Entscheidungen beteiligt waren. Sie würden viel eher hinter Gesetzen stehen, als wenn jemand darüber entscheidet, dem sie vor Urzeiten einmal ihre Stimme gegeben haben.

Das alles lässt sich aber nur dann realisieren, wenn die Politik endlich begreift, dass sie mit ihrer unsäglichen Wirtschaftshörigkeit auf keinen grünen Zweig kommt. Es muss nicht immer darum gehen, dass sie etwas rechnet. In manchen Bereichen hat der Profitgedanke nichts zu suchen. Wirtschaftspolitische Entscheidungen müssen im Einklang mit Bürgerinteressen stehen. Wenn es andersrum erwartet wird, verlieren die Menschen den Glauben an die Demokratie. Stattdessen glauben sie solchen, denen es ganz bestimmt nicht um die Wahrheit geht.


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„Das wird man wohl noch sagen dürfen!“

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