Das Heer der Unaufgeklärten

Lesedauer: 7 Minuten

Regelmäßig protestieren in mehreren Städten Menschen auf sogenannten Hygienedemos gegen die aktuellen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Sie wenden sich vor allem gegen die Beschneidung ihrer Grundrechte, die viele von ihnen mittlerweile als überzogen und unverhältnismäßig empfinden. Doch gerade solche Zusammenkünfte sind ein Hotspot für Menschen, deren Verhalten eine Aufrechterhaltung von strengen Maßnahmen erforderlich machen.

Maskenpflicht ohne Bewährung

Die Reproduktionszahl des Virus stieg jüngst wieder auf über 1. Das ist leider überhaupt kein Wunder, bedenkt man, dass eine Woche lang Läden und Geschäfte ohne Maskenpflicht geöffnet hatten. Doch was hilft es, die Versäumnisse der Vergangenheit immer wieder weinerlich ins Feld zu führen. Viel wichtiger ist es, aktuelle Missstände und Fehlentwicklungen anzugehen und zu beheben. Die Menschen sehen sich nach Freiheit und zu einer Rückkehr zur Normalität. Das ist nur allzu verständlich. Doch leider liegt eine solche Normalität noch in weiter Ferne. Selbst wenn viele Geschäfte wieder geöffnet haben – die Masken werden noch lange die Gesichter schmücken.

Doch bereits jetzt, nach zwei Wochen Maskenpflicht, beschweren sich viele über den fehlenden Tragekomfort der Mund-und-Nase – Bedeckung. Ein Hochgefühl ist das Teil wirklich nicht. Man sollte sich aber auch mal vor Augen führen, wann der hippe Stofffetzen überhaupt zu tragen ist: im öffentlichen Personennahverkehr und in Geschäften. Viel öfter müssen viele die Maske gar nicht aufsetzen. Wenn man nun noch bedenkt, dass viele die Maske gar nicht richtig verwenden, wirken die Wehklagen beinahe lächerlich.

Falschtragen mit Methode

In diesen Tagen will man wahrlich kein Türsteher vor deutschen Supermärkten sein. Unangenehme Diskussionen sind vorprogrammiert. Nicht nur die Einhaltung der zulässigen Kundenzahl müssen die Sicherheitskräfte im Blick behalten, ihren geschulten Augen darf auch kein Verstoß gegen die Maskenpflicht entgehen. Und hier reden wir nicht von den Idioten, die aus Protest keine Maske aufsetzen. Diese Minderheit ist zum Glück so verschwindend gering, dass sich nicht einmal ein Kurzbeitrag zu ihnen lohnt.

Viel problematischer sind solche Menschen, die ihre Masken entweder komplett falsch aufsetzen oder sie zu spät aufsetzen und zu früh wieder abziehen. Jeder, der im Einzelhandel arbeitet, kann ein Lied davon singen: viel zu viele Kunden ziehen ihre Masken erst dann auf, wenn sie den Eingang bereits ein Dutzend Schritte hinter sich gelassen haben. Sie reißen die Bedeckung japsend und lechzend von ihren Gesichtern, kaum klappt der Kassierer die Kasse wieder zu.

Dieses konsequente Falschtragen macht jedoch das Gesamtergebnis der Maßnahme zunichte. Das Virus lauert nicht tief versteckt im Laden hinter den Pfandautomaten. Der Kampf gegen das Virus ist kein Boxkampf, wo der Gegner klar sichtbar in der anderen Ecke steht. Das Virus breitet sich im geschlossenen Raum rasend schnell aus. Wer sich im Kassenbereich nicht an die Maskenpflicht hält, der gefährdet auch die Goldgräber des Pfandguts am anderen Ende des Ladens.

Eine lästige Pflicht

Spricht man solche Menschen auf ihr Fehlverhalten an, so reagieren die meisten von ihnen mit Verharmlosungen oder spielen sich als gut getarnte Experten auf. Sie nehmen die Masken ja nur ganz kurz ab, um wieder richtig Luft zu bekommen. Die Schutzmasken brächten ja rein gar nicht, alles nur Panikmache. Vielleicht makaber, aber: Wenn das Virus dich erwischt, könnten die Atemprobleme bald von Dauer sein.

Ich bin davon überzeugt: Wer seine Maske falsch trägt oder sie zu früh abnimmt, der hat die Tragweite seines Handelns nicht verstanden. Diese Menschen begreifen die sinnvollen Schutzmaßnahmen als eine lästige Pflicht. Sie empfinden sie als eine Repression von Seiten des Staats, welche ihnen das Einkaufserlebnis vermiesen soll. Widerwillig fügen sich die meisten von ihnen den Maßnahmen – aber nur solange man auch wirklich am Einkaufen ist! Sobald der Geldbeutel wieder in der Tasche verstaut ist oder bevor man die erste Avocado bei der Qualitätsprüfung beinahe zerquetscht, ist man nicht einkaufen und muss auch keine Maske tragen. Blind befolgen sie die ungeliebten Regeln, ohne sie jemals hinterfragt zu haben.

Zwischen Empörung und Anpassung

Viele dieser Falschträger nehmen für sich in Anspruch, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Sie zeigen sich einerseits empört über die tiefgreifenden Einschnitte des Staats in ihr alltägliches Leben, andererseits versuchen sie, sich an die Maßnahmen zu halten – soweit ihr viel zu enger Horizont das überhaupt zulässt. Wer nämlich die Schutzmaske abnimmt, bevor die Zugtüren sich öffnen oder bevor der Ausgang des Supermarkts hinter dem Rücken ist, der hat den Sinn der Maßnahme überhaupt nicht verstanden.

Diese Menschen sind jenseits derer, die die Maßnahmen für vollkommenen Quatsch halten und deswegen demonstrativ darauf verzichten. Wer die Maske nämlich hinterfragt und zu dem Schluss kommt, dass sie überhaupt nichts bringt, eventuell sogar kontraproduktiv ist, der zieht sie einfach nicht auf. Wer die Maske hinterfragt, sich mit der Maßnahme auseinandersetzt und zu der Schlussfolgerung kommt, dass sie eine von vielen sinnvollen Maßnahmen ist, der zieht sie korrekt auf. Und zwar immer dann, wenn er oder sie einen nicht-privaten geschlossenen Raum betritt.

Hinterfragen muss kein Kraftakt sein

Die weitreichenden Maßnahmen einfach hinzunehmen, obwohl man der Meinung ist, der Staat diktiert das Tragen der Maske aus reiner Willkür, ist eine zutiefst unaufgeklärte und dumme Haltung. Alle diese Menschen – und sie sind zum Glück noch in der deutlichen Minderheit – glauben, den absoluten Durchblick zu haben. In Wirklichkeit aber raffen sie: nichts.

Sie glauben, dass sie sich unbedingt gegen die Mehrheit stellen müssten, würden sie es wagen, die Schutzmaßnahmen zu hinterfragen. Sie glauben, dass Hinterfragen immer mit einem Auflehnen gegen die Herrschenden verbunden ist. Dass ein kritischer Geist immer zu einer Anti-Haltung führen muss und gleichbedeutend mit einem Verlassen der bequemen Position ist. Doch das ist nicht so.

Überzeugungstäter

Wer für sich in Anspruch nimmt, aufgeklärt zu sein, der muss die Dinge laufend hinterfragen. Und das bedeutet nicht einen notorischen Zwang zur Ablehnung. Ein kritisches Hinterfragen kann auch immer dazu führen, dass man bestimmte Dinge ablehnt, keine Frage. Aber es kann auch dazu führen, dass man Maßnahmen als zielführend anerkennt und sie versteht. Denn Dinge zu hinterfragen ist immer die Vorstufe dazu, von etwas überzeugt zu sein.

Doch solche, die nicht hinterfragen, die sind nicht überzeugt. Und das macht die Sache so gefährlich. Weil sie von den Maßnahmen anscheinend nicht überzeugt sind, sind sie leichte Beute für jene, die mit kruden Verschwörungstheorien Stunk machen. Die ganz wenigen, die schon jetzt mit voller Absicht querschießen können viele von denen, die sich um der Regel willen an die Regeln halten leicht auf ihre Seite ziehen, wenn die Stimmung erst einmal kippt. Und die Stimmung hat sich bereits verändert. Die Bundeskanzlerin bezeichnet die Debatten über Lockerungen genervt als „Orgien“. Vielleicht hat sie mit diesem Begriff doch nicht ganz so unrecht. Denn schaut man inzwischen zu Stoßzeiten wieder in die Geschäfte, so erscheint das Wort Orgie fast angebracht.

In der jetzigen Krise wird einmal mehr deutlich: Gefährliche Dynamiken beginnen im kleinen. Die zum Glück wenigen Negativbeispiele jetzt sind nur die Vorhut. Die Nachhut sind die vielen, die ihre Ignoranz derzeit noch gut verstecken können. Solche, die die Regeln halbherzig befolgen, nur um nicht als Gefährder in der Pandemie verfemt zu sein. Auch sie sind in der deutlichen Minderheit. Doch es sind diese Menschen, die dafür sorgen, dass die Schutzmaßnahmen erhalten bleiben und sich dann wundern, warum es keine Lockerungen gibt. Denn selbst ein einziger Regelbrecher im Supermarkt oder im Zug reicht aus, um hunderte in Gefahr zu bringen.


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Die Coronakrise verlangt uns allen enorm viel ab: Rücksicht, Disziplin, Verzicht, Wachsamkeit, Solidarität. Nach den ersten Lockerungen der vergangenen Woche ging ein Aufatmen durch das Land. Doch es ist viel zu früh, bereits jetzt Entwarnung zu geben. Um dies zu verdeutlichen, gilt ab morgen bundesweit die Maskenpflicht. Die Maßnahme ist gut und richtig, kommt aber zu spät. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung steht auf dem Spiel. Mit jedem neuen Infizierten schwindet dieses Vertrauen. Der Zickzackkurs der Länder verunsichert die Menschen zusätzlich in einer Zeit, in der Zusammenhalt das Gebot der Stunde ist.

Nach Wochen des Shutdowns dürfen seit vergangenem Montag kleinere Geschäfte wieder öffnen. Gerade diese Läden hatten unter den harten Sicherheitsmaßnahmen gegen die Pandemie besonders zu leiden. Viele Mitarbeiter wurden in Kurzarbeit geschickt, Geld für Mieten und Pachten konnten nicht erwirtschaftet werden. Die Lockerung der Maßnahmen ist für diese Unternehmen eine gute Nachricht. Natürlich müssen die allgemeinen Abstandsregeln weiter eingehalten werden. Es gibt außerdem klare Regeln, wie viele Kunden sich auf welchem Raum aufhalten dürfen.

Die Kombi macht’s

Viele Geschäfte behelfen sich mit einer Zählung über Einkaufskörbe. Jeder Kunde nimmt einen Korb mit ins Geschäft. Sind alle Körbe aufgebraucht, so wird auch niemand mehr in den Laden gelassen. Das hilft, den Kundenstrom zu regulieren, nicht aber, um das Einkaufsverhalten der Kundschaft zu kontrollieren. So ist durch diese Maßnahme nicht gewährleistet, dass sich alle Kunden an den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von zwei Metern halten. In vollgestellten Geschäften wie kleinen Klamottenläden ist das selbst mit besonderer Vorsicht nicht ohne weiteres einzuhalten. Dicht an dicht stehen dort die gut bestückten Kleiderständer. Aneinander vorbeizukommen, ohne sich dem Verdacht der sexuellen Belästigung auszusetzen – schier unmöglich.

Umso sinnvoller ist die Maskenpflicht, die ab morgen im öffentlichen Personenverkehr und in geschlossenen Räumen wie Supermärkten und Buchhandlungen gilt – oder eben in der Mottenkiste nebenan. Denn gerade zwischen Kunde und Mitarbeiter ist Abstandhalten meist leichter gesagt als getan. Die Bedeckung von Mund und Nase mit einer Maske – oder einem für die Jahreszeit unüblichen Schal – ist dabei eine praktikable Ergänzung zum Katalog der Sicherheitsmaßnahmen. Wichtig ist nur, dass das eine das andere nicht ersetzt. Wer eine Maske trägt, darf nicht auf Tuchfühlung mit seinen Mitmenschen gehen. Denn ein besonders umfassender Schutz ist nur dann gegeben, wenn Abstand und Maske Hand in Hand gehen.

Es mutet allerdings schon ein wenig merkwürdig an, dass die neugeöffneten Geschäfte nun eine ganze Woche lang hemmungslos dem ungeschützten Rein und Raus der Kunden ausgesetzt waren. Kaum gewöhnt sich der Otto-Normalverbraucher an die wiedergewonnene Freiheit, da drückt ihm der Staat sprichwörtlich eine Maske auf’s Gesicht. Alles angeblich zum Schutz der Gesundheit. Eben jene Gesundheit, die dem Staat eine ganze Woche lang ziemlich egal war, oder wie soll man das verstehen?

Maskenpflicht ohne Masken

Fakt ist: Geschäfte zu öffnen, ohne gleichzeitig andere Schutzmaßnahmen einzuführen, war ein grober Fehler. Mit den Ladenöffnungen hätte sofort eine Maskenpflicht greifen müssen. Der Druck aus der Wirtschaft war aber offenbar so groß, dass der Staat die langersehnten Wiederöffnungen nicht länger hinauszögern konnte. Mit einer Maskenpflicht zauderte er aus einem anderen Grund. Selbstgenähte Masken sind doch nicht deshalb im Trend, weil so viele Mitbürgerinnen und Mitbürger die Liebe zur Nähmaschine entdeckt haben, sondern weil der Staat schlicht unfähig ist, seine Bürger in ausreichendem Maße mit Masken zu versorgen.

Weil der Schutz der Bevölkerung aber doch noch eine hohe Priorität seitens der Regierung genießt, kam die Maskenpflicht dann doch. Ist ja auch egal, wie der Durchschnittsbürger da rankommt. Bei den Menschen kommt an: Es ging eine Woche lang ohne, aber jetzt bitte nur noch mit Maske. Kein Wunder also, dass viele das hippe Teil eher als Panikmache oder gar als Repression empfinden.

Der Corona-Flickenteppich

Dass die Maskenpflicht nun Sache der Länder ist und jedes Bundesland zeitlich versetzt eine solche Pflicht beschlossen hat, macht die Sache nicht besser. Diese unstete Koordinierung der Maßnahmen verunsichert die Menschen zusätzlich und führt zu Vertrauensverlust gegenüber der Handlungsfähigkeit des Staats. Das können wir momentan am allerwenigsten gebrauchen.

Man darf eines nicht vergessen: Die Schutzmaßnahmen greifen sofort, ihr Erfolg ist aber erst Wochen später nachweisbar. Zur Zeit geht man von einer Inkubationszeit von zwei Wochen oder mehr aus. Das heißt, ein Infizierter kann durchaus über drei Wochen unbehelligt als anonymer Superspreader unterwegs sein. Wer in der Zeit ohne Maskenpflicht ungeschützt beim Bücherstöbern war oder der Nähstube einen Besuch abgestattet hat, der wird auch erst in ein paar Wochen positiv getestet werden – sofern er oder sie sich angesteckt hat. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie manch passionierte Gegner der Maskenpflicht dann argumentieren werden, die verblödete Pflicht brächte ja gar nichts. Und viele werden auf sie hören.

Vertrauensfragen

Die verspätete Einführung der Maskenpflicht wird dazu führen, dass Zweifler und Skeptiker, Bequeme und Faule, aber leider auch Verschwörungstheoretiker und andere Idioten deutlichen Aufwind erfahren werden. Gepaart mit der mangelhaften Koordinierung der Krise seitens der Regierung wird ein deutlicher Vertrauensverlust in den Staat unabwendbar sein.

Bisher setzte die Regierung auf Freiwilligkeit. Man traute den Bürgerinnen und Bürgern zu, selbst entscheiden zu können, was das beste ist. Ausgangsbeschränkungen und Ladenschließungen wurden nur sehr widerwillig eingeführt. Das ist Zeugnis dafür, dass die Regierung den rechtsstaatlichen Auftrag sehr ernstnimmt. Viele folgten diesem guten Beispiel. Schon lange bevor die Maske zur Pflicht wurde, erledigten viele ihren Einkauf nur noch mit einem Schutz auf Mund und Nase. Doch es gab auch solche, die auf die Sicherungsmaßnahmen pfiffen. Das Wort „Coronapartys“ ist schon jetzt Top-Kandidat bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2020.

Wer nicht ausreichend Abstand hält und wer keine Maske trägt, gefährdet sich dabei viel weniger als all die anderen. Deswegen ist es solchen Menschen ja auch egal. Diese Menschen sind in der deutlichen Unterzahl – aber sie sind trotzdem zu viele. Sie sind zu viele als dass sich eine Gruppendynamik durchsetzt, die für den Gesundheitsschutz kämpft – ganz ohne Verordnungen und Verbote. Es macht nämlich einen himmelweiten Unterschied, ob ich mich an die Regeln halte, weil ich es muss, oder ob ich mich daran halte, weil ich es will. Man kann manchen Leuten die Warteschlange auf dem Boden aufzeichnen; sie sind trotzdem zu blöd dafür…

In der aktuellen Situation ist es äußert blauäugig, auf die Vernunft der Menschen zu setzen. Die allermeisten haben begriffen, wie wichtig Abstand und Schutz in der Krise sind. Doch zu viele werden auch in Zukunft querschießen. Wer kontrolliert denn die Einhaltung der Maskenpflicht im Zug, wenn seit Wochen keine Schaffner und Kontrolleure mehr Dienst machen? Die Antwort liegt auf der Hand: Es wird den Menschen selbst überlassen, sich zu kontrollieren. Dieses Vertrauen, so ehrenhaft es auch ist, wurde in den letzten Wochen und vor allem seit vergangenem Montag viel zu oft ausgenutzt als dass es auch zukünftig glaubwürdig ausgesprochen werden kann.


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Ein schmaler Grat

Lesedauer: 8 Minuten

Die beschlossenen Lockerungen der Sicherheitsmaßnahmen gegen die weitere Ausbreitung von Covid-19 lösten eine Welle der Erleichterung aus. Nach Wochen der Isolation und der Einschränkung nehmen viele Menschen die wiedergewonnenen Freiheiten nur all zu gerne an. Konkret sollen ab Anfang Mai kleinere Geschäfte wieder öffnen, dazu zählen offiziell auch Autohäuser. Das Aufatmen der Menschen ist verständlich, die Hintergründe der Lockerungen allerdings nicht zu unterschätzen. Wer glaubt, nun läuft wieder alles wie gehabt, sitzt einem gewaltigen Irrtum auf.

Anfang mit Ende

Nach dem allgemeinen Entsetzen über die rasche Ausbreitung des Corona-Virus und den strengen Sicherheitsmaßnahmen hat die öffentliche Debatte ein neues Lieblingsthema gefunden. Es sind die Lockerungen von Kontaktverboten und Ladenschließungen, die derzeit heiß diskutiert und vereinzelt bereits umgesetzt werden. Noch vor einigen Tagen wiesen vor allem Politiker diese Debatten als zu früh ab. Sie zeigten Verständnis für die Belastung der Bevölkerung, riefen aber gleichzeitig zu Zuversicht und Geduld auf. Heute hat sich der Wind gedreht und das Thema Lockerungen scheint in aller Munde zu sein.

Die Diskussion über etwaige Lockerungen wurde über Wochen unterdrückt. Es ist also überhaupt kein Wunder, dass nun so leidenschaftlich darüber debattiert wird. Ausgangssperren wie in Italien gab es kaum in Deutschland. Die getroffenen Maßnahmen waren allerdings einschneidend genug, um die Menschen mürbe zu machen. Dass in diesem Zuge keine Aussicht auf Lockerung oder gar Rücknahme der Verordnungen gegeben wurde, belastete viele zusätzlich. Dabei wäre es dringend geboten gewesen, nicht nur über Einschränkungen und Verbote, sondern auch über deren Ende zu sprechen. Und zwar von Anfang an.

Ein Leben mit dem Virus

Die aktuelle Krise legitimiert die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen. Es ist richtig, dass in Geschäften großer Wert auf einen Mindestabstand von zwei Metern gelegt wird. Es ist genau so richtig, dass öffentliche Großveranstaltungen auf Monate abgesagt sind. Es ist richtig, dass Gottesdienste nicht mehr dicht an dicht in Kirchen stattfinden.

Fast noch richtiger wäre es allerdings gewesen, man hätte von Anfang an auch darüber geredet, wie sich solche Maßnahmen zurücknehmen lassen, ohne ein deutlich erhöhtes gesundheitliches Risiko für die Bevölkerung einzugehen. Das Virus hat Zeit, das haben wir in den letzten Wochen gesehen. Die Infektionszahlen in Deutschland steigen zwar langsamer an, allgemeine Entwarnung kann aber noch lange nicht gegeben werden. Wir müssen uns darauf einstellen, eine ganze Zeit lang MIT dem Virus, aber OHNE Medikamente zu leben.

Ein solches kann nur gelingen, wenn die viel beschworenen Lockerungen nicht postwendend zu einem sprunghaften Anstieg der Infektionen führen. Das gilt es allerdings zu befürchten, wenn kleine Geschäfte wieder öffnen dürfen, die Versorgung der Bevölkerung mit Schutzmasken allerdings nicht gewährleistet werden kann. Stattdessen gibt es eine dringende Mahnung, die Masken in geschlossenen Räumen zu verwenden. Im Notfall können auch Schals als viraler Schutzschild herhalten. In diesem Punkt bietet unsere Regierung ein blamables Bild.

Maskenpflicht nur so halb

In der Krise lernen wir immer wieder dazu. Wir lernen beispielsweise dieser Tage, wie wichtig es ist, gewisse Sicherungsmaßnahmen frühzeitig einzuleiten und nicht erst dann darüber zu diskutieren, wenn der Unmut in der Bevölkerung wächst. Es muss außerdem regelmäßig geprüft werden, ob die getroffenen Maßnahmen überhaupt noch verhältnismäßig sind. Es heißt nicht umsonst, dass sich ein funktionierender Rechtsstaat am ehesten in seinen dunkelsten Stunden bewährt.

Deswegen verstehe ich die Skepsis und die Empörung mancher Menschen angesichts der Einschränkungen der letzten Wochen. Es ist für die meisten einfach nicht verständlich, warum die Krise in Bayern anders gemanaged wird als in NRW. Warum gibt es in Sachsen eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, bundesweit aber lediglich einen Appell an die Bevölkerung? Wieso tritt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz regelmäßig mit einer Schutzmaske vor die Presse, während sich Angela Merkel noch nie mit einem solchen Teil hat sehen lassen?

All diese Widersprüche verunsichern die Menschen. Sie kosten Vertrauen und sie erinnern an Willkür. Vor allem lassen sie aber die Unkoordiniertheit in dieser Krise offen zu Tage treten. Viele sorgen sich um die Grundrechte. Es geht bei manchen sogar die Angst um, die Krise könne dazu genutzt werden, ihnen diese Rechte dauerhaft zu entziehen. Eine Corona-App stößt bei vielen auf Ablehnung, weil datenschutzrechtliche Bedenken nicht von der Hand gewiesen werden können. Die Datenskandale und Leaks jüngerer Zeit sind dabei nicht gerade vertrauensbildende Maßnahmen gewesen.

Lockerungen einfach so?!

Völlig zurecht werden die harten Einschnitte in das persönliche Leben eines jeden einzelnen kritisch hinterfragt. Deswegen verwundert es auch besonders, dass die gleiche Skepsis nicht bei den aktuellen Lockerungen an den Tag gelegt wird. Klar, man will kein Spielverderber sein und es wäre so viel bequemer, wenn der Biergarten um die Ecke wieder aufhätte. Während sich ein Großteil der Bevölkerung allerdings fragt, wer von den Beschränkungen eventuell profitieren könnte, bleibt eine ähnliche Weitsichtigkeit beim Thema Lockerungen bisher auf der Strecke.

Dabei ist doch völlig offensichtlich, weswegen die ersten Lockerungen nun doch so rasch kommen. Der wirtschaftliche Druck ist einfach zu groß geworden. Wirtschaftsnahe Gesellschaften wie die Leopoldina dominieren die Debatte. Wie eine viel zu laute konstante Begleitmusik mischten sie sich immer wieder in das Management der Krise ein.

Selbstverständlich ist es richtig und wichtig, auch wirtschaftliche Interessen im Blick zu haben. Es kann nicht sein, dass zigtausende von Menschen die nächsten Monate in Kurzarbeit oder im Zwangsurlaub fristen müssen und die Produktion stillsteht. Dass sich aber kaum jemand ernsthaft fragt, warum der Ausstieg aus der Quarantäne nun doch so zügig vonstattengeht, verwundert doch sehr. Um demokratieschonende Maßnahmen geht es zumindest nicht. Das tut sich nur gut als Legende, um andere Interessen zu kaschieren.

Wenn der Lieferant zehnmal klingelt

Wenn man dennoch einmal aus dem Haus geht und die Leute genau beobachtet, dann wird man schnell feststellen, dass die angekündigten Lockerungen bereits jetzt für viele zu gelten scheinen. Masken werden immer mehr zum Mainstream, also warum nicht selbst eine aufsetzen? Viele scheinen dabei aber leider zu vergessen, dass eine solche Atemschutzmaske keinen Universalschutz bietet. Sie schützt eigentlich sogar nur sehr unzureichend vor einer eigenen Infektion mit was auch immer. Ihr Zweck ist viel mehr, andere zu schützen. Das Robert-Koch – Institut wird nicht müde, diesen Fakt zu kommunizieren und trotzdem legen viele ihre Achtsamkeit und Rücksicht in dem Moment ab, wenn sie die Schutzmasken anlegen. Als würde ein Sicherheitsgurt rücksichtsloses Fahren provozieren…

So sind immer wieder kleine Gruppen zu beobachten, die nach erledigtem Großeinkauf nicht etwa vor den Supermarktpforten oder auf dem Parkplatz ein Schwätzchen halten. Ihr ununterdrückbarer Drang, den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen überkommt sie, sobald die Kassiererin die Kasse zugeklappt hat. Wer niemanden zum Quatschen hat, der verweilt auch schon einmal eine knappe Stunde in der Textilabteilung von Warenhäusern. Die anderen Läden haben ja schließlich alle dicht. Und immerhin schützen Handschuhe und Maske zuverlässig vor Corona, Filzläusen und braunem Gedankengut.

Hochkonjunktur feiert derzeit auch der Online-Versand. Das Online-Einkaufsverhalten mancher Mitbürgerinnen und Mitbürger erreicht zur Zeit obsessive Ausmaße. Wenn der digitale Kaufrausch einmal so richtig zuschlägt, bleibt kein Wunsch unerfüllt, kein Sparstrumpf voll – und kein Lieferant gesund. Es ist schlichtweg unsolidarisch, seine Einkäufe nun über Gebühr in den digitalen Raum zu verlagern. Von A nach B kommen diese Waren nämlich nur durch die Mitarbeiter eines Subsubsubunternehmens. Und die kratzen auch ohne Corona schon ordentlich am Burn-Out. Und von dem verprassten Geld sehen die … nichts.


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