Demokratisches Long Covid

Lesedauer: 9 Minuten

Einen Freedom Day wie in anderen Ländern wird es in Deutschland vorerst nicht geben. Trotzdem sind vor kurzem viele der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus gefallen – in manchen Bundesländern gilt noch eine Übergangsregelung. Überstanden ist die Pandemie damit noch nicht – und erst recht nicht ihre Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. Nach zwei Jahren Corona ist unsere Gesellschaft gespaltener als vor der Pandemie. Diese Spaltung lässt sich nicht durch die Abschaffung von Maskenpflicht und 2G überwinden. Wir müssen begreifen, dass der demokratische Schaden nachhaltiger ist als befürchtet.

Happy Freedom Day?

Das Ende der Pandemie ist zum Greifen nah. Viele Länder lockern bereits seit Monaten, in Dänemark und im Vereinigten Königreich scheint Corona keine Rolle mehr zu spielen. Von einer Vollimpfung sind auch diese Länder weit entfernt und trotzdem hält man den Wegfall sämtlicher Schutzmaßnahmen angesichts der Omikronvariante für geboten. Selbst das Nachziehen klappt in Deutschland nicht beim ersten Versuch. Der Freedom Day am 20. März ging in die Hose. Die meisten Bundesländer halten weitreichende Maßnahmen noch bis Anfang April aufrecht.

Auch wenn sich das Ende der Pandemie in Deutschland mit dem Ende der Pandemie in anderen Ländern nicht vergleichen lässt – die prominentesten Maßnahmen haben ein Verfallsdatum. Die Maskenpflicht beispielsweise wird auch hierzulande in vielen Bereichen fallen. Nur in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Umgang mit besonders vom Virus gefährdeten Personen ist das Tragen einer Mund-Nasen – Bedeckung weiterhin vorgeschrieben.

Routinierter Protest

Trotz dieser eindeutigen Lockerungsperspektive reißt ein Trend nicht ab. Noch immer gehen Menschen regelmäßig auf die Straße, um gegen die Einführung der allgemeinen Impfpflicht zu demonstrieren. Samstag für Samstag ziehen die Demonstrationszüge tausende Leute an, die sich lauthals gegen die Pflichtspritze aussprechen.

Vielen ist dieser anhaltende Widerstand nicht geheuer. Für sie ist Corona mit den anstehenden Lockerungen ein für alle Mal vom Tisch, eine Impfpflicht ist für sie kein Thema mehr. Sie verstehen nicht, warum diese Menschen weiterhin zu Tausenden auf die Straße gehen.

Der routinierte Protest ist Zeugnis einer fortgeschrittenen Entfremdung vieler Menschen von Wissenschaft und Politik, das Unverständnis, das ihnen entgegenschwemmt ein Symptom dessen. Viele Menschen, die am Samstag auf die Straße gehen, glauben nicht an das offensichtliche. Sie hinterfragen alles, was die Politik ihnen präsentiert.

Deswegen kümmert es sie kaum, dass es für eine allgemeine Impfpflicht derzeit keine Mehrheit im Bundestag gibt. Die verschiedenen Herangehensweisen zu diesem Thema haben sich dermaßen etabliert, dass sie kaum noch unter einen Hut zu bringen sind. Die Samstagsdemonstranten interessiert das wenig. Sie haben im Herbst 2021 gesehen, wie schnell absolute Gegner der Impfpflicht plötzlich deren ärgste Verfechter sein können. Der vielbeschworene Schaden für die Demokratie ist längst da.

Schlechte Kommunikation

Das Gebaren vieler Wissenschaftler und Politiker in der Coronapandemie hat eine Generation von Misstrauischen und Abspenstigen herangezüchtet, die kaum noch in den demokratischen Diskurs integrierbar ist. Auch bei der Impffrage haben viele Menschen gespürt, dass vieles nur Fassade ist. Die Impfkampagne bestand nur zweitrangig aus netten Clips, die zum Impfen motivieren sollten. Getrieben war diese Kampagne stattdessen von einer aufgebauschten Impfmoral und einem Ausschluss von Ungeimpften aus weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens ohne nachvollziehbaren medizinischen Grund. Geführt wurde sie mit teilweise offenen Drohgebärden, denen der Erziehungsgedanke mehr bedeutete als der Schutzauftrag gegenüber den Grundrechten.

Den Erfolg dieser offensiven Strategie sieht man an der Impfentscheidung gerade von jungen Leuten. Sie wissen, dass sie von dem Virus weitaus weniger gefährdet sind als ihre Eltern und Großeltern. Ihre Impfentscheidung hängt direkt mit der Teilhabe an einem normalen Leben und ihrem Wunsch nach einer unbeschwerten Jugend zusammen. Dafür nehmen sie die Impfung in Kauf. Die medizinische Schutzwirkung der Maßnahme verkommt zum Beiwerk und dient bestenfalls als Legende, um der Gegenseite den Triumph vorzuenthalten.

Die Konsensgesellschaft

Es ist naiv zu glauben, Demokratien endeten mit dem plötzlichen Auftreten von Autokraten. Menschen wie Wladimir Putin und Parteien wie die AfD wachsen nicht einfach aus dem Boden und ihr Erscheinen ist keine zufällige Fügung. Die Demokratie ist dann besonders gefährdet, wenn sie nur noch im Schaufenster existiert. Seit Jahren sind die unterschiedlichsten Polittalks Sinnbild einer lebendigen Demokratie. Die geladenen Politiker und Experten diskutieren hier zu verschiedenen Themen.

Spätestens seit Corona ist das akzeptable Meinungsspektrum allerdings stark verengt. Die Positionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterscheiden sich nur noch in Nuancen. Es gibt einen gemeinsamen Konsens und keiner, dem die eigene Fernseh- oder Politkarriere wichtig ist, weicht davon ab.

Die Pandemie lässt sich nur mit einer nahezu flächendeckenden Impfquote überwinden. Punkt. Der Weg dorthin ist debattierbar, das Ziel aber steht für alle fest. Zweifel daran, dass Impfungen bei einer akuten Pandemie das gebotene Mittel sind, werden nicht zugelassen. Das gleiche Muster gilt mittlerweile auch in anderen Bereichen: Ein genereller Importstopp für Rohstoffe aus Russland ist notwendig. Den Menschen wird gebetsmühlenartig gepredigt, die Lösung der drängendsten Krisen sei alternativlos. Das mag in schwierigen Situationen der naheliegende Schluss sein. Er schwächt aber die Demokratie, weil diese Herrschaftsform die Kunst der Alternativen ist.

Plötzlich ausgeschlossen

Diese Entwicklung ist real und wurde durch die Pandemie weiter beschleunigt. Auch damit müssen wir nach Erreichen der Endemie umgehen. Denn schon heute gibt es Beispiele, wie sehr das eigene Ansehen durch legitime Meinungen beschädigt werden kann, nur weil man Abweichler ist. Der ungeimpfte Joshua Kimmich kam mit der Häme angesichts seiner Coronaerkrankung vergleichsweise gut weg. Wer sich an der kontroversen Aktion #allesdichtmachen beteiligte, bekam den Zorn des Konsens deutlich stärker zu spüren. Und auch die Kabarettistin Lisa Fitz erlebte wegen ihrer Äußerungen keine Kritik, sondern blanke Ablehnung.

Der politische Umgang mit der Pandemie zeigte vielen Menschen, wie schnell man plötzlich nicht mehr dazugehören kann. 2G schloss einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von weiten Teilen des öffentlichen Lebens aus. Mit der Begründung, die einschneidende Maßnahme diene der Verhinderung weiterer Infektionen und der Entlastung der Krankenhäuser, schien die kosmische Gerechtigkeit zunächst wiederhergestellt zu sein. Doch schon bald kam es zur großen Impfenttäuschung: Infektionsprävention ist nicht vorrangiges Ziel der Präparate. 2G kippte trotzdem nicht. Über Monate blieb Ungeimpften der Zugang zu Kneipen, Kinos und Konzerten weiter verwehrt.

Der Ausschluss wird die meisten Ungeimpften schon hart getroffen haben. Als viel schlimmer haben sie aber wahrscheinlich empfunden, dass ihr Schicksal der Mehrheit am Allerwertesten vorbeiging. Es gab keinen lauten Aufschrei gegen diese Maßnahme, obwohl ihre Sinnhaftigkeit nach wissenschaftlicher Betrachtung von Anfang an in Zweifel stand. Viel bequemer war es, in den Kanon der Impfsolidarität einzusteigen, obwohl man sich durch die Impfung lediglich einen Teil der Freiheit zurückerkauft hatte. Der Starrsinn mancher Ungeimpfter war vielen angesichts des enormen Impfdrucks äußerst suspekt und so war man eher bereit dazu, über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit hinwegzusehen.

Der Impfopportunismus

Wie anfällig die Gesellschaft für diese Dynamik des Mitläufertums ist, zeigte sich bereits in der ersten Jahreshälfte 2021. Die Impfstoffe waren noch streng priorisiert, nicht jeder hatte sofortigen Zugang dazu. Die eigene potentielle Impfung war gefühlt Ewigkeiten entfernt, eine gewisse Skepsis gegenüber den neuen Präparaten galt als chic. Doch kaum fielen die lästigen Prio-Gruppen weg, gab es für viele kein Halten mehr. Die anfängliche Zurückhaltung wich schnell einer regelrechten Impfeuphorie.

Aus medizinischer Sich gibt es daran sicher nichts auszusetzen. Wer von dem Virus bedroht ist und sich dagegen schützt, handelt mindestens eigenverantwortlich. Schon bald allerdings brach sich ein regelrechter Impfwahn Bahn. Obwohl sich die Stimmen mehrten, die die Wirksamkeit der Impfstoffe stark eingrenzten, fielen auch Jugendliche und Kinder dem unerbittlichen Impfdruck zum Opfer. Diese Praxis konnte sich durchsetzen, weil es nur sehr wenige bestätigte Fälle von Impfschäden gab.

Es hat sich ein Politikstil durchgesetzt, der zwar gerne mit Fakten und Daten jongliert, einer wissenschaftlichen Überprüfung aber kaum standhält. Die Angst in der Krise hat die Menschen noch weiter in eine politische Sackgasse getrieben, die lange vor der Pandemie beschritten wurde. Der Spaltpilz der Gesellschaft verschwindet nicht einfach mit dem Ausrufen einer Endemie. Das Gift der Spaltung wird diese Krise überdauern. Die Linderung dieser Spaltung wird ein langwieriger Prozess – denn nichts ist schwerer wiederherzustellen als Vertrauen.


Mehr zum Thema:

Der falsche Weg

Überzeugungstäter

Auf der richtigen Seite

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Auf der richtigen Seite

Lesedauer: 9 Minuten

Die Demokratie ist bedroht – auch in Deutschland. Doch militante Nazis, fanatische Terroristen und paranoide Querdenker sind nur ein Teil des Problems. Die Coronakrise zeigte deutlich, dass auch ein lange totgeglaubtes demokratiefeindliches Phänomen schnell wieder zur Hochkonjunktur auflaufen kann. In diesen Tagen feiert das Mitläufertum sein zweifelhaftes Comeback. Kritik an den harten Maßnahmen gegen Ungeimpfte bleibt Sache der Betroffenen. Viel zu groß ist die Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Eine moralisch aufgeladene Debatte sorgt dafür, dass breiter Unmut gegen die restriktive Politik bislang ausbleibt.

Einmal und nie wieder

In keiner anderen Phase der Bundesrepublik diskutierten die Abgeordneten des Deutschen Bundestags so häufig über die Verteidigung der Demokratie und über den Kampf gegen Rechtsextremismus wie in Zeiten von Flüchtlingsströmen, Klimawandel und Coronakrise. Die Gefahr ist erschreckend real. Mit der AfD hat sich vor vier Jahren eine in Teilen offen rechtsextreme Partei im Reichstagsgebäude eingenistet. Was unter Historikern schon lange als sicher gilt, erleben auch viele Politiker heute hautnah: Es ist einmal passiert und es kann wieder passieren.

Die deutschen Wähler wurden seitdem mehrfach Zeuge von flammenden Reden, mit denen verschiedene Abgeordnete inbrünstig die Demokratie beschworen und sich klipp und klar von den Feinden der Demokratie auf der rechten Seite des Saals distanzierten.  Eines durfte dabei nicht fehlen: Das berühmte Zitat von Bertolt Brecht, mit dem er bereits Ende der1950er-Jahre auf ein faschistisches Potenzial hinwies. Pegida, Klimaleugner und Querdenker beweisen tatsächlich: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Gegen die Mehrheit

Rassismus, Homophobie und Antisemitismus sind die bekanntesten Auswüchse des rechten Extremismus. Dieser systematische Menschenhass war leider nie ganz weg. Die Flüchtlingswelle von 2015 hat gezeigt, dass viele fremdenfeindliche Ressentiments weiter vorhanden sind. Besonders männliche Homosexuelle können sich in einigen Gegenden nicht angstfrei küssen. Alle zwei Wochen wird in Deutschland ein jüdischer Friedhof geschändet.

Im öffentlichen Bewusstsein blieben vor allem die Anschläge von Halle und Hanau und der Mord an Walter Lübcke als rechtsextreme Gewalttaten haften. Einige der Täter waren mit der rechtsextremen Szene vernetzt. Trotzdem handelten sie allein. Ihre menschenverachtenden Verbrechen waren nicht dazu geeignet, den Umsturz des Systems herbeizuführen. Sie stießen auf blankes Entsetzen, auf Trauer und auf Wut.

Auch die neuerdings 10 Prozent der AfD-Wähler sind zwar frustriert und unzufrieden, die wenigsten unter ihnen sind aber bereit dazu, den Staat mit der Waffe zu bekämpfen. Die Erzählung vom rassistischen AfD-Wähler ist und bleibt eine Legende. Selbst wenn die AfD immer unverhohlener ihr wahres Gesicht zeigt, gilt das für die Mehrheit ihrer Wähler nicht. Die meisten von ihnen sind keine Rassisten und Menschenfeinde. Es ist fraglich, woher eine so große Zahl an Rassisten plötzlich herkommen sollte. Rassistische und antisemitische Tendenzen waren über viele Jahrzehnte in der deutschen Gesellschaft vorhanden. Blinder Rassismus und Antisemitismus sprießt aber nicht wie wild aus dem Boden.

Sehenden Auges

Viele Wählerinnen und Wähler geben der AfD trotzdem ihre Stimme. Sie nehmen für sich in Anspruch, keine Rassisten zu sein und wählen sehenden Auges eine Partei, die sich mit jedem Tweet und jedem Talkshowauftritt ein Stück weiter vom Rechtsstaat entfernt. Willfährig versuchen sie, eine Partei auf den Thron zu heben, die von der großen Mehrheit der Gesellschaft weiterhin abgelehnt wird.

Spätestens mit der Flüchtlingskrise haben die Rechtspopulisten ein Bindemittel gefunden, dass diesen Nicht-Rassisten das Maul stopft. Mit Horrorszenarien von kriminellen Asylsuchenden und einem importierten Terrorismus machen sie es ihren Wählern leicht, über ihre offensichtlichen rechtsextremen Tendenzen hinwegzusehen oder diese sogar billigend in Kauf zu nehmen. Geschickt machte sich die AfD die existenziellen Ängste ihrer potenziellen Wähler zunutze, um an ihre Stimmen zu kommen. Dieses Spiel hatte die Rechte schon immer gut drauf, egal ob sich die Gesellschaft mit einem Krieg, einer Wirtschaftskrise oder mit einer Pandemie konfrontiert sah.

Keine vertrauensbildende Maßnahme

Am 3. November 2021 riefen die baden-württembergischen Behörden die Corona-Warnstufe aus. Bereits in den Tagen zuvor spekulierten die Medien über eine anstehende Verschärfung der Maßnahmen. Ausführlich kündigten sie an, welche Einschränkungen Ungeimpfte in der Warnstufe zu erwarten hätten. Spätestens in der Unterüberschrift fiel das Stichwort.

Zwar setzten sich viele Artikel auch mit steigenden Inzidenzen und überlasteten Krankenhäusern auseinander, im Fokus standen aber viel zu oft die Ungeimpften. Das sendete ein falsches Signal an alle anderen. Eine solche Berichterstattung entlässt die Geimpften und Genesenen aus der medizinischen und gesellschaftlichen Verantwortung. Mit der Impfung erhalten die Menschen keinen Freibrief, sondern einen umfangreichen Schutz vor dem Coronavirus. Die Medien unterstützen diese Sichtweise leider nicht.

Stattdessen unterstützen sie mit solchen Beiträgen die Kampagne gegen Ungeimpfte. Seit Monaten versucht die Regierung, bislang Ungeimpfte durch finanziellen und gesellschaftlichen Druck zu einer Impfung zu bewegen. Eine vertrauensbildende Maßnahme ist das nicht. Stattdessen empfinden viele Betroffene diese Agitationen als Zwang. Beugen sie sich dem Druck, dann nur unter Protest. Besonders erfolgreich waren die staatlichen Maßnahmen bisher auch nicht: Die Mehrheit der Ungeimpften gab an, sich trotz des Drucks auf keinen Fall impfen zu lassen. Die Entscheidung gegen die Impfung scheint in Stein gemeißelt zu sein.

Bedrohliche Entwicklungen

Moralisch aufgeladene Debatten vertiefen die Gräben zusätzlich. Wer die explodierenden Infektionszahlen und die Überlastung des Gesundheitswesens ausschließlich oder vorrangig auf die Minderheit der Ungeimpften zurückführt, suggeriert damit, dass die Ungeimpften schlechte Menschen sind. Solche Schlussfolgerungen werfen den Ungeimpften vor, ihnen wären schwer kranke und leidende Menschen egal. Ließen sich die Ungeimpften aufgrund dieser Schein-Argumente doch impfen, würden sie diesen Vorwurf indirekt bestätigen. Weil aber kein Mensch schlecht sein will, verfestigt sich ihre Entscheidung gegen die Impfung.

Tatsächlich bricht sich immer mehr eine Rhetorik der offenen Drohgebärde Bahn. Nicht der Schutz der Ungeimpften steht im Vordergrund, sondern deren Bestrafung. Wenn der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) ankündigt, der Ausbau mobiler Impfstationen in der Stadt diene vorrangig dem Zweck, „auch den Rest der Ungeimpften [zu] kriegen“, dann ist diese Drohung nicht mehr subtil.

Augen zu und durch

Immer unverhohlener werden die Ungeimpften für die aktuelle Situation verantwortlich gemacht. Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery sprach erst am vergangenen Sonntag bei Anne Will von einer „Tyrannei der Ungeimpften“. Warum regt sich gegen solche Diffamierungen kein breiter Widerstand? Es ist im Grunde ganz leicht: Die Geimpften haben Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Die Impfung wird als solidarischer Akt angepriesen. Diese Legende ist das Bindemittel, damit die Mehrheit der Geimpften den Mund hält, wenn die Minderheit der Ungeimpften mit fragwürdigen Methoden unter Druck gesetzt wird. Weitreichende Lockerungen machen es den Geimpften zusätzlich leicht, vor solchen Offensichtlichkeiten die Augen zu verschließen. Wer in einem schicken 2G-Restaurant sitzt, hat die Ausgeschlossenen schnell vergessen.

Mit ihren Maßnahmen erhöht die Regierung die Geimpften auf eine Position, von der es sich leicht auf die angeblich unsolidarischen Impfverweigerer herabsehen lässt. Geschickt lenkt die Politik dadurch von der Tatsache ab, dass sie selbst in der Vergangenheit alles andere als solidarisch war. Es ist ausgesprochen unsozial, Pflegekräfte mit mickrigen Löhnen abzuspeisen und allein im ersten Jahr der Pandemie zwanzig Krankenhäuser samt Intensivstationen dichtzumachen. Solche Entscheidungen tragen deutlich stärker zu einer Überlastung des Gesundheitswesens bei als der Entschluss, sich nicht impfen zu lassen. Die viel diskutierte Impfpflicht im Pflegebereich kommt nur deshalb nicht, weil die Regierung weiß, dass die Lage in Krankenhäusern und Heimen schon jetzt katastrophal ist.

Die Mehrheit der Geimpften begehrt gegen solche Ungerechtigkeiten nicht auf. Für sie sind die Ungeimpften die Buhmänner. Wegen persönlicher und sozialer Verlustängste schweigen sie lieber und reden sich ein, dass alles halb so wild sei: Die Ungeimpften können diesen Zustand schließlich jederzeit durch eine Impfung beenden. Dieses Mitläufertum war schon immer das Erfolgsrezept von Staaten, die nicht demokratisch verfasst sind. Einmal mehr steht fest: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.


Mehr zum Thema:

Der Ton wird rauer

Hauptargument Moral

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!