Demokratisches Long Covid

Lesedauer: 9 Minuten

Einen Freedom Day wie in anderen Ländern wird es in Deutschland vorerst nicht geben. Trotzdem sind vor kurzem viele der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus gefallen – in manchen Bundesländern gilt noch eine Übergangsregelung. Überstanden ist die Pandemie damit noch nicht – und erst recht nicht ihre Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. Nach zwei Jahren Corona ist unsere Gesellschaft gespaltener als vor der Pandemie. Diese Spaltung lässt sich nicht durch die Abschaffung von Maskenpflicht und 2G überwinden. Wir müssen begreifen, dass der demokratische Schaden nachhaltiger ist als befürchtet.

Happy Freedom Day?

Das Ende der Pandemie ist zum Greifen nah. Viele Länder lockern bereits seit Monaten, in Dänemark und im Vereinigten Königreich scheint Corona keine Rolle mehr zu spielen. Von einer Vollimpfung sind auch diese Länder weit entfernt und trotzdem hält man den Wegfall sämtlicher Schutzmaßnahmen angesichts der Omikronvariante für geboten. Selbst das Nachziehen klappt in Deutschland nicht beim ersten Versuch. Der Freedom Day am 20. März ging in die Hose. Die meisten Bundesländer halten weitreichende Maßnahmen noch bis Anfang April aufrecht.

Auch wenn sich das Ende der Pandemie in Deutschland mit dem Ende der Pandemie in anderen Ländern nicht vergleichen lässt – die prominentesten Maßnahmen haben ein Verfallsdatum. Die Maskenpflicht beispielsweise wird auch hierzulande in vielen Bereichen fallen. Nur in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Umgang mit besonders vom Virus gefährdeten Personen ist das Tragen einer Mund-Nasen – Bedeckung weiterhin vorgeschrieben.

Routinierter Protest

Trotz dieser eindeutigen Lockerungsperspektive reißt ein Trend nicht ab. Noch immer gehen Menschen regelmäßig auf die Straße, um gegen die Einführung der allgemeinen Impfpflicht zu demonstrieren. Samstag für Samstag ziehen die Demonstrationszüge tausende Leute an, die sich lauthals gegen die Pflichtspritze aussprechen.

Vielen ist dieser anhaltende Widerstand nicht geheuer. Für sie ist Corona mit den anstehenden Lockerungen ein für alle Mal vom Tisch, eine Impfpflicht ist für sie kein Thema mehr. Sie verstehen nicht, warum diese Menschen weiterhin zu Tausenden auf die Straße gehen.

Der routinierte Protest ist Zeugnis einer fortgeschrittenen Entfremdung vieler Menschen von Wissenschaft und Politik, das Unverständnis, das ihnen entgegenschwemmt ein Symptom dessen. Viele Menschen, die am Samstag auf die Straße gehen, glauben nicht an das offensichtliche. Sie hinterfragen alles, was die Politik ihnen präsentiert.

Deswegen kümmert es sie kaum, dass es für eine allgemeine Impfpflicht derzeit keine Mehrheit im Bundestag gibt. Die verschiedenen Herangehensweisen zu diesem Thema haben sich dermaßen etabliert, dass sie kaum noch unter einen Hut zu bringen sind. Die Samstagsdemonstranten interessiert das wenig. Sie haben im Herbst 2021 gesehen, wie schnell absolute Gegner der Impfpflicht plötzlich deren ärgste Verfechter sein können. Der vielbeschworene Schaden für die Demokratie ist längst da.

Schlechte Kommunikation

Das Gebaren vieler Wissenschaftler und Politiker in der Coronapandemie hat eine Generation von Misstrauischen und Abspenstigen herangezüchtet, die kaum noch in den demokratischen Diskurs integrierbar ist. Auch bei der Impffrage haben viele Menschen gespürt, dass vieles nur Fassade ist. Die Impfkampagne bestand nur zweitrangig aus netten Clips, die zum Impfen motivieren sollten. Getrieben war diese Kampagne stattdessen von einer aufgebauschten Impfmoral und einem Ausschluss von Ungeimpften aus weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens ohne nachvollziehbaren medizinischen Grund. Geführt wurde sie mit teilweise offenen Drohgebärden, denen der Erziehungsgedanke mehr bedeutete als der Schutzauftrag gegenüber den Grundrechten.

Den Erfolg dieser offensiven Strategie sieht man an der Impfentscheidung gerade von jungen Leuten. Sie wissen, dass sie von dem Virus weitaus weniger gefährdet sind als ihre Eltern und Großeltern. Ihre Impfentscheidung hängt direkt mit der Teilhabe an einem normalen Leben und ihrem Wunsch nach einer unbeschwerten Jugend zusammen. Dafür nehmen sie die Impfung in Kauf. Die medizinische Schutzwirkung der Maßnahme verkommt zum Beiwerk und dient bestenfalls als Legende, um der Gegenseite den Triumph vorzuenthalten.

Die Konsensgesellschaft

Es ist naiv zu glauben, Demokratien endeten mit dem plötzlichen Auftreten von Autokraten. Menschen wie Wladimir Putin und Parteien wie die AfD wachsen nicht einfach aus dem Boden und ihr Erscheinen ist keine zufällige Fügung. Die Demokratie ist dann besonders gefährdet, wenn sie nur noch im Schaufenster existiert. Seit Jahren sind die unterschiedlichsten Polittalks Sinnbild einer lebendigen Demokratie. Die geladenen Politiker und Experten diskutieren hier zu verschiedenen Themen.

Spätestens seit Corona ist das akzeptable Meinungsspektrum allerdings stark verengt. Die Positionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterscheiden sich nur noch in Nuancen. Es gibt einen gemeinsamen Konsens und keiner, dem die eigene Fernseh- oder Politkarriere wichtig ist, weicht davon ab.

Die Pandemie lässt sich nur mit einer nahezu flächendeckenden Impfquote überwinden. Punkt. Der Weg dorthin ist debattierbar, das Ziel aber steht für alle fest. Zweifel daran, dass Impfungen bei einer akuten Pandemie das gebotene Mittel sind, werden nicht zugelassen. Das gleiche Muster gilt mittlerweile auch in anderen Bereichen: Ein genereller Importstopp für Rohstoffe aus Russland ist notwendig. Den Menschen wird gebetsmühlenartig gepredigt, die Lösung der drängendsten Krisen sei alternativlos. Das mag in schwierigen Situationen der naheliegende Schluss sein. Er schwächt aber die Demokratie, weil diese Herrschaftsform die Kunst der Alternativen ist.

Plötzlich ausgeschlossen

Diese Entwicklung ist real und wurde durch die Pandemie weiter beschleunigt. Auch damit müssen wir nach Erreichen der Endemie umgehen. Denn schon heute gibt es Beispiele, wie sehr das eigene Ansehen durch legitime Meinungen beschädigt werden kann, nur weil man Abweichler ist. Der ungeimpfte Joshua Kimmich kam mit der Häme angesichts seiner Coronaerkrankung vergleichsweise gut weg. Wer sich an der kontroversen Aktion #allesdichtmachen beteiligte, bekam den Zorn des Konsens deutlich stärker zu spüren. Und auch die Kabarettistin Lisa Fitz erlebte wegen ihrer Äußerungen keine Kritik, sondern blanke Ablehnung.

Der politische Umgang mit der Pandemie zeigte vielen Menschen, wie schnell man plötzlich nicht mehr dazugehören kann. 2G schloss einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von weiten Teilen des öffentlichen Lebens aus. Mit der Begründung, die einschneidende Maßnahme diene der Verhinderung weiterer Infektionen und der Entlastung der Krankenhäuser, schien die kosmische Gerechtigkeit zunächst wiederhergestellt zu sein. Doch schon bald kam es zur großen Impfenttäuschung: Infektionsprävention ist nicht vorrangiges Ziel der Präparate. 2G kippte trotzdem nicht. Über Monate blieb Ungeimpften der Zugang zu Kneipen, Kinos und Konzerten weiter verwehrt.

Der Ausschluss wird die meisten Ungeimpften schon hart getroffen haben. Als viel schlimmer haben sie aber wahrscheinlich empfunden, dass ihr Schicksal der Mehrheit am Allerwertesten vorbeiging. Es gab keinen lauten Aufschrei gegen diese Maßnahme, obwohl ihre Sinnhaftigkeit nach wissenschaftlicher Betrachtung von Anfang an in Zweifel stand. Viel bequemer war es, in den Kanon der Impfsolidarität einzusteigen, obwohl man sich durch die Impfung lediglich einen Teil der Freiheit zurückerkauft hatte. Der Starrsinn mancher Ungeimpfter war vielen angesichts des enormen Impfdrucks äußerst suspekt und so war man eher bereit dazu, über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit hinwegzusehen.

Der Impfopportunismus

Wie anfällig die Gesellschaft für diese Dynamik des Mitläufertums ist, zeigte sich bereits in der ersten Jahreshälfte 2021. Die Impfstoffe waren noch streng priorisiert, nicht jeder hatte sofortigen Zugang dazu. Die eigene potentielle Impfung war gefühlt Ewigkeiten entfernt, eine gewisse Skepsis gegenüber den neuen Präparaten galt als chic. Doch kaum fielen die lästigen Prio-Gruppen weg, gab es für viele kein Halten mehr. Die anfängliche Zurückhaltung wich schnell einer regelrechten Impfeuphorie.

Aus medizinischer Sich gibt es daran sicher nichts auszusetzen. Wer von dem Virus bedroht ist und sich dagegen schützt, handelt mindestens eigenverantwortlich. Schon bald allerdings brach sich ein regelrechter Impfwahn Bahn. Obwohl sich die Stimmen mehrten, die die Wirksamkeit der Impfstoffe stark eingrenzten, fielen auch Jugendliche und Kinder dem unerbittlichen Impfdruck zum Opfer. Diese Praxis konnte sich durchsetzen, weil es nur sehr wenige bestätigte Fälle von Impfschäden gab.

Es hat sich ein Politikstil durchgesetzt, der zwar gerne mit Fakten und Daten jongliert, einer wissenschaftlichen Überprüfung aber kaum standhält. Die Angst in der Krise hat die Menschen noch weiter in eine politische Sackgasse getrieben, die lange vor der Pandemie beschritten wurde. Der Spaltpilz der Gesellschaft verschwindet nicht einfach mit dem Ausrufen einer Endemie. Das Gift der Spaltung wird diese Krise überdauern. Die Linderung dieser Spaltung wird ein langwieriger Prozess – denn nichts ist schwerer wiederherzustellen als Vertrauen.


Mehr zum Thema:

Der falsche Weg

Überzeugungstäter

Auf der richtigen Seite

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Keine leichte Rückkehr

Lesedauer: 7 Minuten

Die Masken, sie fallen – in manchen Ländern früher, in anderen Ländern später. Deutschland gehört zu den Schlusslichtern, was die Lockerung der Coronamaßnahmen betrifft. Während sämtliche Infektionsschutzregeln in Ländern wie Dänemark und Schweden schon vor Wochen gefallen sind, setzt die deutsche Regierung lieber auf einen Drei-Stufen – Plan, der bis Ende März Schritt für die Schritt viele Maßnahmen lockert oder sogar ganz aussetzt. Doch selbst wenn die epidemische Lage es zuließe, alle Maßnahmen sofort zu beenden, stellt sich ein weiteres unterschätztes Problem: Sind die Menschen bereit für ein Leben ohne Pandemie?

Nicht ohne meine Maske

Fakt ist: Nach zwei Jahren Corona wird es vielen Menschen nicht leichtfallen, wieder auf Normal zu schalten. Viele haben es verlernt, einen unbeschwerten Alltag zu führen. Das fängt bei einer zentralen Maßnahme an, über die 2020 viele die Augen verdrehten, an die sich mittlerweile aber fast alle gewöhnt haben. Der Wegfall der Maskenpflicht würde für viele Bürgerinnen und Bürger einen empfindlichen Eingriff in ihre festgefahrene Routine bedeuten. Wie selbstverständlich ziehen sich viele inzwischen einen Mund-Nasen – Schutz auf, wenn sie geschlossene Räume betreten. Zum wöchentlichen Einkauf und zum Kinobesuch gehört die Maske zwischenzeitlich einfach dazu.

Früh erkannten die Menschen den wertvollen Beitrag der Maske im Kampf gegen die Pandemie. Voller Überzeugung trugen sie sie im Supermarkt, in Bus und Bahn und in überfüllten Innenstädten. Der Tragekomfort vieler Masken sprach sich ebenso schnell herum wie ihre aufbauende Wirkung auf die Ohrenmuskulatur. In mehreren Städten und Gemeinden haben sich daher Bürgerverbände zusammengefunden, die unter dem Motto „Nicht ohne meine Maske“ gegen die Abschaffung der liebgewonnenen Maßnahme protestieren.

Maskenpflicht unter der Hand

Nicht jeder Mitbürger tritt so energisch gegen den Wegfall dieser Maßnahme ein. Viele Experten sind sich allerdings sicher, dass die meisten Menschen das Tragen der Maske beibehalten werden, auch wenn es nicht mehr vorgeschrieben ist. Gerade in infektionsrelevanten Situationen wie Demos und Großveranstaltungen erwarten sie ein diszipliniertes Weiterleben der Maskenpflicht.

Trotzdem erwarten sie auch negative Auswirkungen durch die Abschaffung der Maßnahme. Einzelne Verhaltensforscher skizzieren schon jetzt regelrechte Entzugserscheinungen. Diese beinhalten sowohl psychosomatische Reaktionen wie Unruhe, Orientierungslosigkeit und Schlafstörungen als auch körperliche Beschwerden wie Atemprobleme und eine ständig laufende Nase.

Es lebe der Sündenbock

Die Aufhebung sämtlicher Maßnahmen zur Eindämmung des Virus bedeutet faktisch das Ende der Pandemie. Sicher werden sich auch in den kommenden Monaten Menschen infizieren. Viele Wissenschaftler setzen ihre Hoffnungen aber auf die Erreichung eines endemischen Zustands. Maskenpflicht und Zugangsbeschränkungen zu Restaurants, Kinos und Kultureinrichtungen spielen dann keine Rolle mehr. Doch auch die Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht müsste in der Folge ausgesetzt werden.

Das Ende der Pandemie würde also besonders für Ungeimpfte der Freedom Day werden. Denn ohne akute Pandemie könnte man diese Gruppe kaum zu einer Impfung drängen oder sie weiterhin für die katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen verantwortlich machen. Auch das würde für viele eine echte Umstellung bedeuten.

Viel zu sehr haben sich manche daran gewöhnt, die Schuld für die missliche Lage fast ausschließlich den ungeimpften Mitbürgerinnen und Mitbürgern in die Schuhe zu schieben. Da Menschen in schwierigen Situationen immer dazu neigen, einen Sündenbock auszumachen, stellt sich die Frage, wer als nächstes dran glauben muss.

Zweifelhaftes Comeback

Es ist gut möglich, dass die Klimakrise wieder stärker ins Bewusstsein der Gesellschaft rutscht. Es kann daher leicht zu einem Revival des Konflikts Jung gegen Alt kommen. Besonders gefährdet sind ältere Menschen, die ihre Renten mit selbstgesammelten Pfandflaschen aufbessern müssen und sich bestenfalls das Steak vom Discounter leisten können. Die hohe Inflationsrate verwehrt ihnen künftig sogar den Zugang zu gesundem Obst und Gemüse. Auch hier müssen sie auf klimaschädliche Alternativen zurückgreifen.

Die Gründe ihrer Kaufentscheidung spielten schon vor zwei Jahren keine Rolle. Offene Diskriminierung gedeiht auch, wenn es nachvollziehbare Gründe für ein bestimmtes Handeln gibt. Welchen besseren Beweis gibt es dafür als die Stimmung gegen Ungeimpfte in der Coronapandemie?

Nervenkitzel und Wirtschaftseinbruch

Auch viele Psychologinnen und Psychologen schlagen angesichts der nahenden Lockerungswelle Alarm. Sie vermuten, dass es den meisten Menschen sehr schwerfallen wird, sich wieder an einen geregelten Alltag zu gewöhnen. In der Pandemie wusste man nie, was der nächste Tag bringt. Großzügiges Vorausplanen war schlicht nicht möglich. Die Menschen mussten sich quasi täglich an neue Regeln und Gegebenheiten anpassen. Der drohenden Planungssicherheit sehen die Experten mit Sorge entgegen. Sie befürchten, dass der triste Alltag zu einem signifikanten Anstieg von psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Bore-Out, dem Gegenteil von Burn-out, führen kann.

Hinzu kommt, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie alles andere als einheitlich waren. Sie waren teilweise auf Landkreise beschränkt und richteten sich nach der aktuellen Bedrohungslage durch das Virus. Es verlangte den Menschen viel ab, wenn sie wissen wollten, welche Maßnahmen aktuell für sie galten. Es war für viele durchaus mit einer gewissen Spannung verbunden, ob sie ins Einkaufszentrum oder zum Friseur durften und was sie bei dem Besuch zu beachten hatten. Dieser fehlende Nervenkitzel kann sich spürbar auf das Konsumverhalten der Menschen auswirken. Manche werden in ausgedehnten Shoppingtouren oder feuchtfröhlichen Clubbesuchen keinen Sinn mehr sehen, wenn sie vorher nicht die Bestätigung erhalten, dass sie zu einer exklusiven Gruppe gehören. Die Folgen für die Wirtschaft liegen auf der Hand.

Die Rückkehr in den Alltag ist aber auch mit einem nicht zu unterschätzenden Frustrationspotenzial verbunden. Viele Menschen haben sich Gepflogenheiten abgewöhnt, die vor Corona völlig selbstverständlich waren. Das fängt bei einem sozialverträglichen Umgang miteinander an, betrifft aber auch die tägliche Garderobe. Dr. Merle Gutzeit vom Psychologischen Institut der Universität Mannheim führt dazu aus: „Einige Menschen werden mit Sicherheit Schwierigkeiten haben, sich wieder angemessen anzukleiden. Mancheiner hat im Home Office vielleicht sogar schon vergessen, dass das Tragen einer Hose zum guten Stil gehört.“ Die Psychologin rechnet damit, dass sich diese Menschen den gesellschaftlichen Konventionen zwar beugen werden, aber mit der Zeit ein Ventil für den damit verbundenen Frust benötigen. „Möglich wären hier Demonstrationen von Menschen, die das Tragen einer Hose als Grundrechtseingriff verstehen und dagegen protestieren – unten ohne übrigens.“ Auch sie fordert von der Politik, solche unerwünschten Nebeneffekte der Lockerungen einzukalkulieren.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Maßnahmen für’s Papier

Lesedauer: 6 Minuten

Auch die neue Ampelregierung vermag es nicht, den Flickenteppich der Coronamaßnahmen durch ein einheitliches und transparentes Regelwerk zu ersetzen. Die geltenden Verordnungen sind teilweise so undurchsichtig, dass sich viele Menschen nicht sicher sind, welche Maßnahmen in ihrer Region gelten. Selbst Behörden und andere Einrichtungen sind mit dem Maßnahmenkatalog überfordert und lassen stringente Kontrollen immer häufiger sausen. Reißt dieser lapidare Umgang mit der Situation ein, wirkt sich das zweifellos negativ auf die Pandemiebekämpfung aus.

Lokal gegen global

Was gilt in meiner Stadt? Mit wie vielen Leuten darf ich mich treffen? Muss ich auch im Freien eine Maske tragen? Gibt es eine Sperrstunde für Ungeimpfte? Was muss ich beim Friseur vorzeigen? Eigentlich wollte die neue Ampelkoalition mit diesen Fragen aufräumen. Zwei der drei Regierungsparteien haben in den vergangenen Monaten in zahllosen Oppositionsreden immer wieder angemahnt, dass eine effektive Pandemiebekämpfung nur mit einheitlichen und transparenten Regeln möglich wäre. Die Menschen müssten Sicherheit darüber haben, welche Maßnahmen in ihrem Umfeld gälten.

Mit 2G in der Gastronomie sorgte die neue Regierung zwar in einem Bereich für Einheitlichkeit, viele andere Bereiche erinnern je nach Region aber weiterhin an einen Flickenteppich. Weil es mit fortschreitender Pandemie immer schwieriger wurde, alle Bundesländer unter einen Hut zu bringen, verkam die Bund-Länder- Runde immer mehr zur zeitraubenden Beschäftigungstherapie. Kaum waren ein paar einheitliche Regelungen beschlossen, da scherten die ersten Bundesländer gleich wieder aus.

Das Mantra vieler Landeschefs: Man müsse der globalen Pandemie lokal begegnen. Bedeutende Maßnahmen wie eine mögliche Maskenpflicht im Freien, eine FFP2-Maskenpflicht in Innenräumen oder die spezifischen Regelungen im Einzelhandel delegierte man daher auf Landes- oder sogar auf Kommunalebene. Diese ortsgebundene Vorgehensweise brachte aber nicht den gewünschten Erfolg. Viele Menschen sind schlicht überfordert mit der Vielzahl an Regelungen, die in einem Stadtkreis gelten oder eben nicht.

Zahnlose Tiger

Mit der Überforderung kommt häufig Resignation. Geht man heute in einem beliebigen Supermarkt einkaufen, erinnert außer den Masken wenig daran, dass weiterhin eine Pandemie ihr Unwesen treibt. Die Menschen gehen vor dem Tiefkühlregal wieder auf Tuchfühlung miteinander, das Abstandsgebot wird in der Eile konsequent ignoriert, die dazugehörigen Klebestreifen im Kassenbereich waren bereits nach der dritten Welle weggewetzt.

Ohne klare Ansage, was wo gilt, schustern sich viele ihre eigenen Regeln, getreu dem alten FDP-Motto: Ich weiß selbst, was gut für mich ist. Da hilft es auch nicht, wenn nun endlich einige sinnvolle flächendeckende Maßnahmen eingeführt wurden. Um die sich erneut zuspitzende Infektionslage wieder in den Griff zu bekommen, führte die neue Regierung noch vor ihrer Vereidigung die flächendeckende 3G-Regelung ein. Viele Bereiche, die zuvor nicht vom Infektionsschutzgesetz abgedeckt waren, unterliegen nun ebenfalls den Corona-Zugangsbeschränkungen.

Beispielsweise darf den öffentlichen Personenverkehr fortan nur noch nutzen, wer entweder geimpft, genesen oder aktuell negativ getestet ist. Diese Maßnahme hat viel zu lange auf sich warten lassen. Angesichts der immer stärker um sich greifenden Pandemiemüdigkeit, verpufft ihr Effekt leider ziemlich offensichtlich. Kontrollen zu 3G finden in den meisten Verkehrsbetrieben kaum statt, das Personal wird an anderen Stellen benötigt. Bei Beschäftigten und Kundschaft scheint die Bereitschaft nicht besonders groß, auf die strikte Einhaltung aller Regeln zu achten.

Grundlos ausgeschlossen

Diese Unlust, sich länger der pandemischen Situation anzupassen, wird auch in anderen Bereichen deutlich. Die Böllerverbote der vergangenen zwei Jahre waren nichts weiter als ein Witz. In jeder noch so kleinen Ortschaft stiegen die Raketen gen Himmel. Erneut wurden viele Tiere an den Rand der Verzweiflung getrieben. Den Menschen wiederum fällt es bei vielen Maßnahmen immer schwerer, den Zusammenhang zwischen Pandemiebekämpfung und persönlichem Verzicht herzustellen. Stattdessen sehen sie, dass sich die Infektionszahlen mit Beginn der kalten Jahreszeit wie einem Naturgesetz folgend erheben, während der Staat die Lage bei aller Bemühung nicht in den Griff bekommt. Das ist bester Nährboden für das Präventionsparadoxon.

Die fehlende Bereitschaft, bestimmte Regeln ernstzunehmen und zu kontrollieren, hat aber noch einen weiteren Grund. Besonders bei den jüngsten Maßnahmen erkennen viele nicht mehr die wissenschaftliche Grundlage der beschlossenen Verordnungen. Grundsätzlich ist die Datenlage seit Beginn der Pandemie mehr als lückenhaft. 2G in der Gastronomie zum Beispiel gilt bundesweit einheitlich, ohne einen Beleg dafür zu erbringen, dass Gaststätten und Restaurants relevante Pandemietreiber sind.

Viele weitere Maßnahmen sind zwischenzeitlich von der Coronainzidenz weitgehend entkoppelt. In manchen Bereichen spielt die regionale Infektionslage kaum noch eine Rolle, bestimmte Personengruppen werden pauschal ausgeschlossen. Es dämmert immer mehr Menschen, dass es bei diesen Bemühungen nicht vorrangig darum geht, andere zu schützen, sondern darum, Ungeimpfte zu gängeln. Der Infektionsschutz ist lediglich Fassade dieser Eingriffe.

Die schwindende Seriosität der Maßnahmen hat zur Folge, dass sie im besten Falle stiefmütterlich behandelt werden. Das fällt bei weniger sinnvollen Maßnahmen nicht so stark auf den Kampf gegen die Pandemie zurück. Weitaus ernster wird die Lage, wenn diese Stimmung der laxen Handhabung auf die wirklich notwendigen Maßnahmen abfärbt. Sind Maßnahmen gegen die Pandemie wissenschaftlich nicht haltbar, bewirken sie oft das Gegenteil dessen, wofür sie augenscheinlich gemacht sind. Sie befördern ein Klima der Sorg- und Achtlosigkeit, obwohl erhöhte Wachsamkeit weiterhin das Gebot der Stunde ist.


Mehr zum Thema:

Epidemische Realitätsverweigerung

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!