Nachträglicher Blankoscheck

Lesedauer: 6 Minuten

Die Impfkampagne kommt in Deutschland allmählich in die Gänge. Eine beachtliche Zahl an Menschen hat bereits die Erstimpfung erhalten. Manche sind sogar bereits komplett durchgeimpft. Die Impfung ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. Der Bundestag hat darum jüngst beschlossen, dass Geimpfte und Genesene von einem Teil der Beschränkungen ausgenommen werden. Diese Lockerungen betreffen aber zunächst nur den privaten Bereich, in dem viele Menschen seit Monaten munter gegen die Auflagen verstoßen. Kaputtgesparte Krankenhäuser und unterbesetzte Gesundheitsämter lassen eine Öffnung des öffentlichen Bereichs weiter nicht zu.

Ein Stückchen mehr Freiheit

Worauf viele seit Monaten gehofft haben, hat der Bundestag nun in der vergangenen Woche beschlossen: Die Grundrechtseinschränkungen von Geimpften und Genesenen werden teilweise zurückgenommen. Wer vollständig gegen Covid-19 geimpft ist oder in den vergangenen sechs Monaten eine Erkrankung überstanden hat, ist fortan mit negativ getesteten Personen rechtlich gleichgestellt.

Die Entscheidung wurde von vielen sehnsüchtig erwartet. Immerhin gelten entsprechende Regelungen in an deren Ländern schon seit längerem. Im Gegensatz zu Deutschland haben in diesen Ländern bereits weit mehr Menschen eine vollständige Impfung gegen das Virus erhalten. Trotzdem ist es richtig, die Grundrechtseinschränkungen laufend zu überprüfen und zurückzunehmen, falls der Grund für die Einschränkungen wegfällt.

Testpflicht statt Impfpflicht

Bis zuletzt hat sich in diesem Zusammenhang besonders Bundesjustizministerin Christine Lambrecht gegen den Begriff „Privilegien“ gesperrt. Und sie hat völlig recht: Die Rückgabe elementarer Grundrechte ist keine edelmütige Tat, es ist keine staatliche Großzügigkeit, es ist eine Selbstverständlichkeit. Der Wegfall der umfassenden Einschränkungen ist auch verantwortbar, wenn ein adäquates Mittel gefunden ist, das Neuinfektionen verhindert, ohne dass Menschen auf einige ihrer Grundrechte verzichten müssen.

Eine vollständige Impfung gegen das Virus allein reicht hier nicht. Bislang ist weiter ungeklärt, mit welcher Wirksamkeit die Impfstoffe Infektionen und schwere Krankheitsverläufe verhindern. Die Zahlen, die dabei immer wieder in den Raum geworfen werden, basieren auf Testverfahren, die nach weniger als einem Jahr abgeschlossen wurden. Niemand kann bei einer solch verkürzten Forschungsphase seriös die Wirksamkeit oder die Unwirksamkeit eines Präparats belegen.

Nach aktuellem Kenntnisstand beugen die Impfstoffe zwar einem schweren Krankheitsverlauf vor, die Weitergabe des Virus wird aber nur unzureichend verhindert. Genau darum sollte es beim Kampf gegen die Pandemie aber gehen. Im Vordergrund sollte der Schutz der Gemeinschaft stehen. Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn man dafür sorgt, dass man möglichst wenige Menschen ansteckt. Eine Impfung kann ein erster Schritt dazu sein, reicht aber bei weitem nicht aus. Viel sinnvoller wäre die Aufrechterhaltung der Testpflicht für alle Menschen. Auch die Tests arbeiten nicht immer ganz zuverlässig, können im Zweifelsfall aber Infizierte gezielt isolieren, anstatt ihnen einen Freibrief auszustellen.

Es ist kein Wunder, dass viele Menschen die Lockerungen für Geimpfte als Privilegien verstehen, wenn für sie mit der Impfung der Kampf gegen die Pandemie endet. Solange nicht klar ist, dass Geimpfte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Überträger des Virus mehr sein können, muss auch für diese Gruppe die Testpflicht weiterhin gelten. Stattdessen dürfen sie nach der Impfung genau das wieder tun, was viele von ihnen seit Monaten sowieso wieder tun.

Infektionen im Verborgenen

Ausgerechnet die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen fallen für Geimpfte als erstes. Dabei tummeln sich die Menschen seit Monaten eng an eng in deutschen Wohnzimmern. Die bisher geltenden Besuchsregelungen handhaben viele äußerst lax oder setzen sich grundsätzlich darüber hinweg. Aus rein menschlicher Sicht fällt es schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Als soziales Wesen braucht der Mensch die Begegnungen und den Austausch mit anderen. Regelmäßige Skype-Sessions und Telefonate können das auf Dauer nicht ersetzen. Eine Infektionsnachverfolgung im privaten Raum ist allerdings wesentlich schwieriger als in öffentlichen Einrichtungen.

Wenn der Staat als erstes diese Regelungen zurücknimmt, tut er sich damit keinen Gefallen. Schon jetzt entziehen sich die privaten Haushalte völlig zurecht der staatlichen Kontrolle. Anstatt möglichen Infektionstreibern mit den nun zugesprochenen Lockerungen einen Blankoscheck auszustellen, würde es deutlich mehr Sinn machen, sie aus den schwer kontrollierbaren Bereichen herauszuholen. Kombiniert mit den jetzt beschlossenen Lockerungen führt der schwache Infektionsschutz der Impfungen zu einer Reihe nicht erkannter Infektionen, die das Infektionsgeschehen weiter anheizen werden. Hätten die Menschen stattdessen die Möglichkeit, sich in Bereiche zu begeben, in denen Infektionen zumindest teilweise nachverfolgt werden können, würde das die Infektionslage deutlich schneller beruhigen.

Experimentieren mit Halbwissen

Bei solchen Lockerungen wäre allerdings der Staat in der Pflicht. Das öffentliche Leben bedeutet auch öffentliche Verantwortung. Der Staat müsste dafür sorgen, dass die Gastronomie und kulturelle Einrichtungen die ihnen auferlegten Maßnahmen effektiv umsetzen können. Unterbesetzte Gesundheitsämter und kaputtgesparte Krankenhäuser führten jedoch bereits in der ersten Welle der Pandemie dazu, dass die Hygienemaßnahmen in diesen Betrieben in vielen Fällen ins Leere liefen. Dort entstandene Infektionen konnten bald nicht mehr nachverfolgt werden, weil den Behörden schlicht das Personal fehlte.

Die großzügigen Öffnungen im privaten Bereich entlassen den Staat aus dieser Pflicht. Die Geimpften und Nur-so-halb-Corona-Immunen tragen die Verantwortung allein. Trotz fehlender fundierter Erkenntnisse, gaukelt man dieser Gruppe vor, dass von ihr eine weitaus geringere Infektionsgefahr ausgeht als von Ungeimpften. Das kann sogar stimmen. Gesichert ist dieses Wissen aber nicht.

Auf wackeligen Beinen

Gerade in dieser Situation wäre es umso nötiger, die Lockerungen kontrolliert zu vollziehen. Es muss nachvollziehbar bleiben, an welchen Stellen sich Menschen weiterhin anstecken und in welcher Häufigkeit das geschieht. Im privaten Bereich wird das selbst mit stark besetzten und hochdigitalisierten Gesundheitsämtern nur schwer möglich sein. Die voranschreitende Impfkampagne wäre in Kombination mit einer strikten Testpflicht ein großer Schritt zu mehr Normalität gewesen. Gleichzeitig hätten viele gastronomische und kulturelle Betriebe und Geschäfte des Einzelhandels aus ihrer Zwangssiesta erwachen können.

Man hat diese Chance nicht genutzt. Stattdessen lässt man den Zug der Lockerungen ähnlich unkontrolliert rollen wie bereits in der ersten Welle der Pandemie. Die gebeutelte Wirtschaft lässt man damit erneut im Stich. Wenn beizeiten keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, ist der nächste Lockdown nur eine Frage der Zeit.


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Wirken die bisher zugelassenen Impfstoffe gegen Corona? Wogegen genau wirken sie? Wie lange wirken sie? Sind Geimpfte ansteckend? Diese Fragen dürfen derzeit in keiner Debatte um die Impfstoffe von AstraZeneca, BioNTech & Co. fehlen. Sie alle eint, dass es unbeantwortete Fragen sind – und dass ihre Beantwortung wohl noch einige Zeit auf sich warten lässt. Verkürzte Testverfahren haben dazu geführt, dass die Skepsis gegen die neuentwickelten Präparate dieses Mal ungewöhnlich groß ist. Währenddessen sprechen sich immer mehr Politiker für Privilegien für Geimpfte aus. Doch das ist der völlig falsche Weg.

Ein Meilenstein?

Am 21. Dezember 2020 war es soweit: Mit dem Wirkstoff von BioNTech und Pfizer wurde der erste Impfstoff gegen Covid-19 in der EU zugelassen. Nach nicht einmal neun Monaten Pandemie war ein Meilenstein im Kampf gegen das Virus erreicht. Wer vom Virus besonders bedroht ist, darf sich seit Ende Dezember impfen lassen. In den vergangenen Monaten erhielten dann immer mehr Wirkstoffe die Zulassung.

Über die Impfstoffe wurde schon lange gesprochen. Die WHO hatte Corona noch nicht einmal zur Pandemie erklärt, da setzten viele ihre Hoffnungen bereits auf einen aussichtsreichen Impfstoff. Doch spätestens seit die Zulassung in die heiße Phase ging, wurde eine Gruppe immer lauter: Zahlreiche Impfskeptiker meldeten Bedenken gegen die Impfstoffe an. Den Wissenschaftlern und Politikern ist es bisher nicht gelungen, diese Kritik zu entkräften.

Infektiologische Frühgeburt

Das können sie auch gar nicht. In seinem Buch Corona Impfstoffe – Rettung oder Risiko? setzt sich der österreichische Biologe Clemens G. Arvay mit ebendieser Skepsis gegenüber den Impfstoffen sehr sachlich und differenziert auseinander. Sein Fazit nach etwa 130 Seiten ist eindeutig: Die Testphasen waren viel zu kurz, um überhaupt verlässliche Aussagen bezüglich der Impfstoffe zu treffen.

In äußerst verständlicher Weise führt der Autor den Lesern vor Augen, was es bedeutet, wenn ein Impfstoff in weniger als einem Jahr entwickelt und zugelassen wird. Immer wieder verweist er dabei auf das Vakzin gegen Mumps, das mit stolzen vier Jahren den bisherigen Weltrekord des am schnellsten entwickelten Impfstoffs hielt. Allerdings handelte es sich bei diesem Wirkstoff um einen konventionellen Impfstoff. Die neuen Corona-Impfstoffe jedoch basieren auf einem Verfahren, das bisher kaum oder noch gar nicht am Menschen zum Einsatz kam.

Arvay ist es daher besonders ein Dorn im Auge, dass das Zulassungsverfahren trotzdem derart gerafft vonstattenging. Selbst wenn es zu unerwünschten Auffälligkeiten kam, so kann man diese aufgrund der äußerst mageren Datenlage unmöglich auf die Wirkstoffe zurückführen. Es kann aber genau so wenig ausgeschlossen werden, ob nicht vielleicht doch der Impfstoff dahintersteckt.

Wider die Vernunft

Der Biologe Arvay geht aber noch einen Schritt weiter. Die niedrige Zahl an Probandinnen und Probanden, der generelle Ausschluss von Risikogruppen aus dem Testverfahren und die Zusammenlegung verschiedener Testphasen lassen keine seriösen Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der Präparate zu, von der Wirkdauer ganz zu schweigen. Solange diese offenen Fragen durch ausgiebige und angemessene Forschung nicht zweifelsfrei geklärt sind, verbietet sich jede Debatte über eine Impfpflicht oder über Privilegien für bereits Geimpfte.

Wider die menschliche Vernunft erwägen nun aber immer mehr Politikerinnen und Politiker, über gewisse Vergünstigungen für Geimpfte zumindest zu diskutieren. Jüngst erwog auch Justizministerin Christine Lambrecht, Geimpften bei einer gewissen Wirksamkeit der Impfstoffe entsprechende Lockerungen in Aussicht zu stellen. Anscheinend soll so von den Bedenken gegenüber den Impfstoffen abgelenkt werden.

Ein politisches Armutszeugnis

Wie schwach muss das Vertrauen der Politik in die Vernunft der Menschen sein, wenn sie es nötig hat, solch schwere Geschütze aufzufahren? Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass die Impfstoffe eine Wirksamkeit von um die 95 Prozent besitzen, dann wäre eine solch aggressive Werbekampagne überhaupt nicht notwendig. Die Menschen würden sich dann in großer Zahl nämlich aus eigenem Antrieb impfen lassen.

Privilegien für Geimpfte hängen den Menschen allerdings eine Karotte vor den Kopf. Eventuell führt das zwar auch zu einer hohen Impfquote, die Debatte um die Impfsicherheit ist damit aber lange nicht beigelegt. Was wäre denn, wenn sich in einigen Jahren doch in großer Zahl Spätfolgen durch die neue Impftechnik einstellten? Der Staat trüge die Verantwortung dafür. Schließlich hat er durch seine Impfprivilegien die Menschen in ihrer Entscheidung maßgeblich beeinflusst.

Sozialer Druck und gesellschaftliche Spaltung

Natürlich ist es bei Spätfolgen immer schwer, die Ursache zu ermitteln. Und wenn sich fast alle Menschen impfen lassen, wird sich ein Kausalzusammenhang auch nur schwer herstellen lassen. Trotzdem ist es eine an Vorsatz grenzende Fahrlässigkeit, wenn Menschen durch die Aussicht auf mehr Freiheiten geködert werden und an einer Impfung kein Weg vorbeiführt, um ein normales soziales Leben zu führen. Selbst wenn die Impfstoffe die Infektionsketten zu fast 100 Prozent unterbrechen würden, wäre eine solche Kampagne nicht vertretbar. Immerhin handelt es sich um neuartige Impfverfahren, die noch nicht ausreichend am Menschen erprobt sind.

Ich bin mir sicher: Versprochene Lockerungen für Geimpfte würden zu einer hohen Impfquote führen. Die meisten werden dem sozialen Druck nicht standhalten können. Wer sehnt sich schließlich nicht danach, endlich mal wieder in ein Restaurant zu gehen oder bei einer zünftigen Shoppingtour gepflegt ein Geschäft nach dem anderen abzuklappern? Die Impfentscheidung wäre aber eine unaufrichtige, weil sie größtenteils auf sozialen Druck zurückzuführen wäre. Viele würden sich widerwillig impfen lassen, einige aus Protest auf die Impfung verzichten. Durch solche Vorgehensweisen spaltet man die Gesellschaft eher, anstatt sie in so schweren Zeiten zu einen.

Testen, testen, testen

Wie zielführender wäre es stattdessen, die Öffnung von Geschäften, von Kneipen und Restaurants und von Einrichtungen des Kulturbetriebs an eine Testpflicht zu koppeln? Nur wer einen negativen Corona-Test vorweisen kann, darf am öffentlichen Leben teilnehmen. Einen solchen Test über sich ergehen zu lassen, ist immerhin jedem zumutbar.

Natürlich haben auch solche Tests eine Fehlerquote, die nicht von der Hand zu weisen ist. Es ließen sich dadurch aber einige Infizierte gezielt isolieren. Nach allem, was wir wissen, lässt sich derzeit nämlich nicht belegen, dass die Impfungen vor einer Ansteckung mit dem Virus schützen. Es ist daher das Gebot der Stunde, das Infektionsgeschehen ohne ein solches Wundermittel unter Kontrolle zu bringen.

Wir brauchen Daten

Auch mit einer Testpflicht wird es zu weiteren Infektionen kommen. Deswegen kann das nicht das Ende der Fahnenstange sein. Mindestens genau so wichtig ist ein massiver Stellenausbau im Gesundheitswesen, sowohl in der medizinischen Versorgung als auch in den Gesundheitsämtern. Gerade durch eine hoffnungslose Unterbesetzung in den Behörden können die Infektionsketten mittlerweile nicht mehr nachverfolgt werden. In der Folge stecken sich auch mehr Menschen an. Kaputtgesparte Krankenhäuser kommen an ihr Limit.

Bis heute ist unklar, wo die meisten Infektionen entstehen. Die meisten Wissenschaftler sind sich zwar einig, dass die meisten Menschen sich drinnen anstecken. Drinnen kann aber in der Schule sein, auf der Arbeit, in Bus und Bahn, im Wohnzimmer oder in einer Höhle. Genau wie bei den Testverfahren zu den Impfstoffen reicht die Datenlage hier nicht aus, um irgendwelche verlässliche Aussagen zu treffen. Es scheint, als wäre die katastrophale Datenlage ein omnipräsentes Problem in der Krise.


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