Auf dem Weg in die Postdemokratie?

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Die Demokratie ist eine jahrtausendealte Idee. So richtig angekommen ist sie aber erst vor einigen Jahrzehnten. In Deutschland erweist sie sich seit Ende der 1940er-Jahre als überaus erfolgreich und krisenfest. In den letzten Jahren kommen ihre Grundfesten aber immer weiter ins Wanken. Wir erleben eine Polarisierung und Radikalisierung, in deren Zusammenhang regelmäßig von den sozialen Medien die Rede ist. Tatsächlich scheint sich immer mehr zu bewahrheiten, dass ein demokratischer Konsens immer schwerer wird, je mehr Menschen daran teilhaben sollen.

Konsens im 18. Jahrhundert

Immanuel Kant gilt al seiner der bedeutendsten Philosophen und Denker des 18. Jahrhunderts. Auf ihn geht unter anderem der Kategorische Imperativ zurück, der in leicht abgewandelter Form heute bereits Kindern beigebracht wird. Kant äußerte sich aber auch politisch und traute es einer demokratischen Verfassung nicht zu, lange Bestand zu haben oder gar zu einem friedvollen Umgang miteinander zu führen. Stattdessen befürchtete er, dass in einer Demokratie die Mehrheit stets gegen die Minderheit agieren würde. Der Schritt zu einer Pöbelherrschaft ist nach dieser Logik nicht besonders groß.

Mit seiner Einschätzung stand Kant nicht allein da. Viele namhafte Staatstheoretiker der Neuzeit hegten ein tiefes Misstrauen gegen die aufkeimende Regierungsform der Demokratie. Sie hielten es für quasi unmöglich, dass in einer Gesellschaft, in der alle mitentscheiden, ein tragfähiger Kompromiss zustandekäme.

Eine Frage der Dimension

Die deutsche Demokratie prägt unser Land zwischenzeitlich seit mehr als 70 Jahren. In ihrer Blütezeit strafte sie die Köpfe von damals lügen und sorgte für Fortschritt und Wohlstand. Kant & Co. muss zugestanden sein, dass auch sie von ihrer jeweiligen Gegenwart gezeichnet waren. Die Demokratie war damals nichts weiter als ein ganz zartes Pflänzchen und stand im krassen Gegensatz zur vorherrschenden Monarchie, die in vielen Fällen noch absolutistisch war.

Trotzdem bezogen sich die Philosophen des 18. Jahrhunderts auf eine wesentlich kleinere Dimension als wir sie heute erleben. Andere Länder waren damals für die durchschnittlichen Bürger schier unerreichbar, selbst das nächste Dorf bedurfte gefühlt einer halben Weltreise. Heute ist das anders: In Zeiten der Globalisierung ist die Welt enger zusammengewachsen. Auslandsreisen sind für viele heute kein Luxus mehr. Allein Deutschland zählt über 80 Millionen Einwohner. Vor drei Jahrhunderten war eine solche Zahl unvorstellbar.

Wenn Protest in Mode kommt

Wir erleben dennoch, dass sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren verändert hat. Die Fähigkeit zum Konsens hat merklich nachgelassen, bei vielen Themen spüren wir eine regelrechte Polarisierung. Schon bei der Flüchtlingskrise ab 2015 standen sich manche Menschen unversöhnlich gegenüber. Die Coronakrise hat diese Spaltung in der Gesellschaft nur vorangetrieben.

Seit Pegida gehen Woche für Woche Menschen auf die Straße, um gegen die Herrschenden zu demonstrieren. Sie schwingen Transparente und Deutschlandfahnen und geben vor, eine politische Botschaft zu haben. In Wahrheit jedoch sind sie beherrscht von einer undefinierten Unzufriedenheit. Gründe für diesen Frust gibt es zuhauf, die Demonstrationen von Ex-Pegisten, Verschwörungstheoretikern und selbsternannten Querdenkern werden währenddessen zu Sammelbecken für alle Menschen, die im weitesten Sinne unzufrieden mit der Politik sind.

Unendliche Möglichkeiten, keine Regeln

Und die Kunde verbreitet sich rasend schnell. Im Zeitalter der sozialen Medien bestehen fast endlos viele Vernetzungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Politisierung der Massen findet nicht mehr nur am Küchentisch oder in der Tagesschau statt. Facebook, Telegram, Instagram und andere Plattformen geben den Nutzern das Gefühl, wichtig und gefragt zu sein. Viel eher ist man dann geneigt, neben Urlaubsfotos und Foodporn auch seine politische Meinung bekanntzugeben.

Das Problem an diesem technologischen Geniestreich: Die Menschen sind größtenteils auf sich allein gestellt. Die Politik hat es schlicht versäumt, diese Räume angemessen zu erschließen oder sie in einen Rahmen einzubetten, welcher einer gesunden Demokratie zuträglich ist. Bei anderen technologischen Fortschritten war das anders. Gezielt nutzte die Politik seinerzeit Zeitungen, Radio und das Fernsehen, um einen Bezug zu den Wählerinnen und Wählern herzustellen. Da sie damit nur indirekt in einen Dialog mit der Bevölkerung eintraten und damit allein die Macht und Verantwortung über das Gesprochene besaßen, mussten sie sich viel weniger Gedanken darum machen, welche Kreise das ganze ziehen würde.

Diese Dynamik machen sich bestimmte politische Strömungen gezielt zunutze. In den letzten Jahren wurde die manipulative Komponente der sozialen Medien regelmäßig offensichtlich. Fake News machten als scheinbare Tatsachen die Runde und heizten die Stimmung der Nutzer weiter an. Zusammen mit einer schlechten Politik der Bundesregierung ergibt sich eine toxische Mischung, die sich aktuell in vielen Demonstrationen und Aufmärschen niederschlägt. Legitimer Protest und aggressive Hetze sind in manchen Fällen nicht mehr voneinander unterscheidbar. Besonders im Internet herrscht eine Stimmung aus Wut und Unzufriedenheit.

Es ist unsagbar schwer, diesen Unmut wieder einzufangen. Eine Regulierung der sozialen Medien ist nur in einer idealen Welt erreichbar. Mit Eingriffen in private Chats erreicht man sehr schnell die Grenzen dessen, was in einem demokratischen Rechtsstaat möglich ist.


Anders als vor 250 Jahren spielt sich die Kommunikation nicht nur im unmittelbaren Umfeld ab. Das Internet ist zugleich Produkt und Treiber der Globalisierung. Durch diese Entdimensionalisierung von Kommunikation, Gesellschaft und Politik scheint es eine unlösbare Herausforderung zu sein, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. In gewisser Weise erleben wir heute das, was die Philosophen von damals nur ahnten. Die Konsensbildung wird umso schwerer, je größer die Masse an Beteiligten ist. Kant und andere mögen bei der Einschätzung der Bezugsgröße mächtig danebengegriffen haben, aber offenbar stimmt es, dass eine demokratische Gesellschaft nicht beliebig vergrößert werden kann. Sie ist in einem fest definierten Rahmen mit klaren Regeln durchaus erfolgreich. Greifen diese Normen jedoch nicht mehr, lässt die Ochlokratie, also die Herrschaft des Pöbels, nicht lange auf sich warten.


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Protest aus Routine

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Protest aus Routine

Lesedauer: 7 Minuten

Die große Errungenschaft der Demokratie ist, dass man sich immer dann zu Wort melden kann, wenn man mit bestimmten Entwicklungen nicht einverstanden ist. Findet man dann noch Mitstreiter, die gleiche Ansichten vertreten, kann man besonders effektiv auf seine Sache aufmerksam machen. Dieser Protest war über Jahrzehnte ein wichtiger Bestandteil der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik. In den letzten Jahren spüren wir aber, dass sich legitimer Protest gewandelt hat. Immer lautstärker tritt eine Gruppe in den Vordergrund, denen es nicht um Veränderung geht, sondern einzig darum, ihren Unmut kundzutun. Für die Demokratie ist dieser inhaltslose Protest auf Dauer eine Zumutung.

Protest als Erfolgsrezept

„Opposition ist das Salz in der Suppe der Demokratie.“ – Mit diesem Satz bekundete der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel seine Loyalität gegenüber unserer Verfassung. Er wusste, dass eine Demokratie nur dann auf Dauer funktioniert, wenn man den Widerspruch nicht nur erträgt, sondern auch wertschätzt. In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass unsere Gesellschaft am Widerstand einiger gewachsen ist. Es war gut, dass die Studierenden Ende der 1960er gegen die Notstandsgesetze auf die Straße gingen. Sie befürchteten zurecht, dass ein ausgerufener Notstand viel zu leicht zur Abschaffung der Demokratie missbraucht werden könnte.

Aus den Protesten gegen die Atomenergie erwuchs sogar eine Partei, die zwischenzeitlich mehrfach an der Bundesregierung beteiligt war. Und auch die heutige Linkspartei ging aus einer Protestbewegung gegen die unsozialen Hartz-Gesetze hervor. Bis vor einigen Jahren gingen die Menschen immer dann auf die Straße, wenn sie ein besonderes Anliegen hatten. In Demonstrationszügen und Aufmärschen zeigten sie den Regierenden, dass sie mit deren Politik nicht einverstanden waren. Die Politik richtete ihren Kurs danach aus – mal mehr, mal weniger.

1001 Gründe zum Demonstrieren

Mittlerweile hat sich allerdings eine Protestkultur entwickelt, bei der die konkrete Zielsetzung nicht mehr erkennbar ist. Schon bei den Pegida-Demonstrationen war die Zusammensetzung der Proteste einigermaßen diffus. Bei den Hygienedemos des Jahres 2020 und den heutigen Querdenkerveranstaltungen tummeln sich aber Menschen verschiedener Altersgruppen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit vielfältigen nationalen Hintergründen.

Während der genaue Zweck der Demo bis vor einiger Zeit eindeutig war, sind die Aufmärsche auch in diesem Punkt mittlerweile absolut heterogen. Im Laufe der Pandemie gingen viele Menschen zunächst gegen die Maskenpflicht auf die Straße. Monate später argwöhnten sie die Einschränkungen gegen Ungeimpfte und schließlich positionierten sie sich gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Die Bewegung wuchs mit der Zeit stetig an. Anfang des Jahres zählten die Demonstrationszüge teilweise mehrere Tausend Teilnehmer. Ein beträchtlicher Teil von ihnen waren völlig normale Bürger ohne nennenswerten Hang zu Verschwörungstheorien.

Nach dem russischen Einfall in die Ukraine brachen dann jedoch auch bei den Demonstrationen sämtliche Dämme. Plötzlich fanden auch ukrainische Flaggen Einzug in die Protestmärsche. Völlig unklar war dabei, was die Demonstrierenden an der deutschen Ukrainepolitik störte. Finden sie den Kurs der Bundesregierung zu lasch oder lehnen sie Waffenlieferungen ab? Sind die Flaggen eine Aufforderung zum Handeln oder bekunden sie grundsätzliches Mitgefühl für ein Land, das momentan völkerrechtswidrig überrannt wird?

Auch die gestiegenen Energiepreise treiben viele Menschen auf die Straße. Sie machen sich Sorgen darum, wie sie die nächste Heizkostennachzahlung stemmen sollen. Die Politik liefert darauf bislang kaum vernünftige Antworten. Es fällt dem Konglomerat aus Verschwörungstheoretikern, Rechtsextremen und Hobbyprotestlern darum umso leichter, die Menschen zu ködern.

Von der Realität zur Verschwörungstheorie

Schon zu Pegida-Zeiten stellte man schnell fest, dass viele der Demonstrierenden für logische Argumente überhaupt nicht mehr zugänglich waren. Sie hatten sich in eine fixe Idee verrannt. Ihnen ging es hauptsächlich darum, ihre Wut und ihren Frust zum Ausdruck zu bringen und nicht im klassischen Sinne nach Veränderung zu streben. Weil sie lange nicht gehört wurden, verwiesen sie immer wieder auf eine angeblich eingeschränkte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, obwohl ihre personenstarken Aufmärsche das Gegenteil offensichtlich machten.

Sie gingen auf die Straße, weil viele von ihnen das Vertrauen in die Politik vollends verloren hatten. Sie spürten, dass sich ihre Lage kaum nennenswert zum Positiven veränderte, obwohl verschiedene Parteien an der Regierung beteiligt waren. Immer hatten sie das Gefühl, die Regierenden würden Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg machen. Tatsächlich hat sich während der Coronapandemie und insbesondere mit Anlaufen der ersten Impfkampagne gezeigt, dass Politik und Wissenschaft verlernt hatten, ihre Entscheidungen zu erklären und populär zu machen.

Für viele Querdenker gilt die Pandemie weiterhin als staatseigene Schikane, welche die Bürgerinnen und Bürger nur kleinhalten soll. Die Existenz des Virus bestreiten diese Menschen. Wissenschaft und Politik haben den Draht zu ihnen verloren. Immerhin ziehen es diese Menschen ernsthaft in Erwägung, die politisch Verantwortlichen könnten eine medizinische Krise konstruieren, um ihre Macht zu festigen.

Politisch heimatlos

Mit Ausnahme der AfD schafft es bislang keine bedeutende Partei, den Frust der Bürgerinnen und Bürger zu kanalisieren. Während die Linke krampfhaft versucht, bei den Protesten zum heißen Herbst die Oberhand zu gewinnen, haben sich die übrigen Parteien damit abgefunden, dass Protest und Widerstand längst Sache der AfD ist – und treiben damit unweigerlich noch mehr Menschen in die Fänge der Rechtspopulisten.

Die Querdenkerszene bietet damit ein Sammelbecken für alle Menschen, die in unterschiedlichem Ausmaß von der Politik enttäuscht sind. Die Initiatoren solcher Demonstrationszüge schaffen eine parallele Gesellschaft, die Platz bietet für all jene, die in der Realität abgehängt wurden. Willkommen ist jeder, den an der aktuellen Politik etwas stört. Das ist besonders gut daran zu erkennen, dass die Themenpalette der Märsche immer bunter wird.

Blinder Frust und routinierter Protest

Ohne die Ziele der Demonstrationen zu hinterfragen, beteiligen sich heute viele Bürgerinnen und Bürger an den sogenannten Spaziergängen. Die Motive der Initiatoren sind ihnen weitgehend egal, es zählen einzig ihre eigenen Beweggründe, auf die Straße zu gehen. Sie sind überzeugt davon, dass sie besonders erfolgreich protestieren – und tun genau das nicht. Sie protestieren nicht, sie leben ihren Frust aus.

Dieser inhaltslose vom Frust getragene Protest ist auf Dauer schädlich für die Demokratie. Viele der Themen, welche die Menschen auf die Straße treiben, sind ernstzunehmende Probleme, die einer weitaus differenzierteren und professionelleren Betrachtung und Organisation bedürfen als die Querdenkerszene es jemals leisten kann. Die Demos treten jedoch seit vielen Monaten auf der Stelle, ohne politisch etwas zu bewirken. Sollte eine Änderung der Verhältnisse jemals das Ziel der Querdenker gewesen sein, haben sie sich lange von dieser Vision verabschiedet. Die Samstagsaufmärsche sind mittlerweile zu einem routinierten Protest geworden und Routine hat keine Durchschlagskraft.


Es ist noch nicht zu spät: Die regierenden Parteien und Teile der Opposition dürfen auf den Frust und den Protest der Bürger nicht ebenso routiniert mit Unverständnis und Ablehnung reagieren. Die Menschen machen zuhauf darauf aufmerksam, dass sie ein Anliegen haben. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, sie der Straße zu überlassen, wo sie Teil eines Durcheinanders aus Frust und Enttäuschung werden und verlernen, wie echte Demokratie funktioniert.

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Weimar forever

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Seit einer Woche ist der Rechtsrutsch in Italien besiegelt. Das Rechtsbündnis um Giorgia Meloni erreichte bei den Wahlen vom 25. September die absolute Mehrheit. Das Wahlergebnis übertraf sogar die Umfragewerte. Nicht nur das erschreckend gute Abschneiden rechter Parteien bei der Wahl ist ein Alarmsignal: Im Gegensatz zu 2018 nahm die Wahlbeteiligung erneut ab. Wie lange sich Meloni an der Spitze der Regierung hält, wird die Zeit zeigen. Ihre Wahl zur Regierungschefin wird die demokratischen Verhältnisse in dem südeuropäischen Land jedoch nicht festigen.

Triumph für Rechts

Giorgia Meloni wird die nächste Ministerpräsidentin Italiens. Das gilt als sicher. Sie ist damit die erste Frau in diesem Amt, aber nicht die erste Rechtspopulistin. Viele stufen die Politikerin sogar als rechtsextrem ein. Der Sieg von Giorgia Meloni ist für einige ein Schlag ins Gesicht. Ihr Triumph kommt aber nicht überraschend.

Der fulminante Sieg des Rechtsbündnisses setzt einen Trend fort, der sich seit Jahren immer weiter aufbaut. Nicht nur in Italien sind die Rechten auf dem Vormarsch. Auch in anderen Ländern Europas gibt Rechtsaußen bei vielen Themen den Ton an.  Die AfD hat sich mittlerweile in der deutschen Parteienlandschaft fest etabliert, mit Marine Le Pen war für eine waschechte Rechtsextremistin das französische Präsidentschaftsamt zum Greifen nah, in Polen regiert seit einigen Jahren die nationalistische PiS-Partei. Letztere setzt sich vehement gegen das Recht auf Abtreibung ein und befördert die Diskriminierung von Homosexuellen und Transmenschen. Die Politik dieser Parteien spricht wahrlich Bände.

Mehrheit für die Nichtwähler

Der rechte Rand erlebt auch außerhalb Europas einen regelrechten Höhenflug. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro baut sein Land Schritt für Schritt in ein autokratisches Regime um und auch den US-Amerikanern wird die Präsidentschaft Donald Trumps wohl noch lange nachhängen.

All diese politischen Entwicklungen eint, dass sie anhand der Wahlergebnisse auf eine erschreckend große Resonanz treffen. Teilweise unterstützen mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler die Politik von Trump, Gauland, Meloni und Co.. Dass die Wahlbeteiligung in vielen Ländern gering ist, macht die Sache nur schlimmer. Anscheinend ist es einem Großteil der Bevölkerungen egal, wie stark die extreme Rechte in ihren Ländern ist. Sie nehmen ihr Recht auf politische Einflussnahme nicht wahr. Die Wahlergebnisse in fast allen Ländern mit Rechtsruck sind daher nicht repräsentativ, aber leider real.

Rechte Rattenfänger

Georgia Meloni ist eine Postfaschistin. Zahlreiche ihrer Äußerungen weisen darauf hin. Benito Mussolini will sie als fähigen Staatsmann verstanden wissen, der neben vielen Erfolgen ein paar Fehler gemacht hat. Es ist erschreckend, wie eine solche Person das bedeutendste Staatsamt Italiens bekleiden darf.

Fairerweise muss dazugesagt werden, dass nicht alle rechten Wähler Melonis Fratelli d’Italia ihre Stimme gaben. Viele von ihnen wählten auch die anderen Parteien des Bündnisses, setzten durch ihre Wahl von Personen wie Silvio Berlusconi aber dennoch ein deutliches Zeichen.

Trotzdem ist es nicht so, dass die Mehrheit dieser Wählerinnen und Wähler faschistisch eingestellt sind. Die meisten von ihnen sind verzweifelt und enttäuscht. Sie merken, dass viele politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sie überfordern und ihre Vertreterinnen und Vertreter in den Parlamenten keine angemessenen Lösungen dagegen anbieten. Sie fühlen sich zurecht abgehängt und im Stich gelassen.

Besonders enttäuscht sind viele von ihnen von der EU, die es sich in ihren Augen zum Sport gemacht hat, schwächere Mitgliedländer wie Italien oder Griechenland an der kurzen Leine zu halten und zu gängeln. In der Folge sind viele Bürgerinnen und Bürger nationalistischen Strömungen zugeneigt, die ihnen einen abgesicherten Raum ohne nennenswerte Einflussnahme von äußeren Kräften vorgaukeln.

Von Krise zu Krise

Dazu kommen aktuelle Entwicklungen und die Krisen der letzten Jahre. Wie kein anderes Land ist Italien weiterhin von den Folgen der Coronapandemie gezeichnet. Die Bilder von Leichensäcken, die aus italienischen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen getragen wurden, gingen um die Welt. Die gestiegenen Energiepreise aufgrund des russischen Einfalls in der Ukraine treffen Italien ebenfalls besonders hart. Auch dieses Land wird von kalten Wintertagen nicht verschont bleiben und viele Menschen wissen nicht, wie sie die anstehenden Kosten stemmen sollen.

Wie bei der PiS-Partei in Polen spielt auch die Fratelli d’Italia die religiöse Karte aus. Italien ist ein vom strengen Christentum geprägtes Land und reagiert anders auf religiöse Chiffren als das in Ländern wie Deutschland oder Frankreich der Fall ist. Die Menschen haben außerdem gesehen, dass sich an ihren alltäglichen Problemen kaum etwas ändert, obwohl die Regierungen am laufenden Band wechselten. Für einige war das ein Grund mit der Wahl von Melonis Rechtsbündnis härtere Geschütze aufzufahren, für manch andere war es Anlass, daheimzubleiben.

Keine politische Konstante

Italien ist seit Jahren eines der Sorgenkinder der EU. Nicht nur die Finanzkraft des Landes bereitet der Union ernsthafte Sorgen, auch die demokratische Verfasstheit des Landes ist weniger gefestigt als in anderen Ländern. Die Menschen in Italien haben keine politische Konstante, an denen sie sich orientieren können. Während es in Deutschland keine Seltenheit ist, dass ein Bundeskanzler mehr als zehn Jahre durchregiert, kam in Italien kein einziger Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg auf eine so lange Amtszeit. Die Machtwechsel und Kabinettsumbildungen hatten teilweise nicht einmal ein Jahr lang Bestand.

Auch wenn die Demokratie bekanntlich vom Wechsel lebt, überfordert ein zu häufiger Wechsel die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Wahlentscheidung verkommt zum Glücksspiel und ihre Stimme ist wenige Monate später nichts mehr wert. Diese Uneinigkeit in der italienischen Demokratie ist auf Dauer schädlich für das Land.

Dazu kommt, dass einige Regierungswechsel nicht darauf zurückzuführen sind, weil sich die Entscheidungsträger nicht einig waren. Silvio Berlusconi beispielsweise ist korrupt und hat sein Amt deswegen verloren. Es dürfte viele Italienerinnen und Italiener dennoch irritieren, dass er trotzdem mehrfach Regierungschef ihres Landes war und nun wahrscheinlich erneut hohe Staatsämter bekleiden wird. Man kann es den rund 16 Millionen angesichts dieser demokratischen Schieflage nicht übelnehmen, dass sie auf ihr Wahlrecht verzichteten.

Weimar in Dauerschleife

Die Demokratie in Italien konnte seit dem Zweiten Weltkrieg kaum fußfassen. Neben den ständigen Regierungswechseln, dem Rechtsrutsch und den zahlreichen Politskandalen gab es in Italien nie eine ernsthafte Aufarbeitung des Faschismus. Bei Giorgia Melonis Äußerungen zu Benito Mussolini dürfte ein Herr Gauland vor Neid erblasst sein. So viel Vogelschiss hat nicht einmal die AfD zustandegebracht.

Im Grunde erleben die Italiener ein Weimar in Dauerschleife. Während in den 1920ern dauerhaft die Kriegsschuld und der Versailler Vertrag wie ein Damoklesschwert über der deutschen Republik hing, verhindert in Italien die nicht abgetragene Hypothek des Mussolinifaschismus seit Jahrzehnten eine funktionierende Demokratie. Manche Medien schreiben von einer Demokratiemüdigkeit der Italiener. Aber wie soll man von etwas müde sein, was man nie in seiner vollen Blüte erlebt hat? Die Menschen in Italien sind müde davon, sich immer wieder Hoffnungen auf Stabilität und Sicherheit zu machen, um dann doch enttäuscht zu werden. Von der Demokratie sind sie verdrossen und nicht müde.

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