Weniger Demokratie auf Raten

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Deutschland verroht. Die Kultur der sachlichen Diskussion ist vom Aussterben bedroht. Immer mehr gewöhnen wir uns an eine gesellschaftliche und politische Polarisierung und übersehen, was wir dabei opfern. Gesprochen wird von eingeschränkter Meinungsfreiheit, Demokratieabbau und Diktatur. Währenddessen macht sich eine Stimmung der moralischen Überheblichkeit breit, die Widerspruch nur in kleinen Dosen duldet und jeden aus dem Diskurs ausschließt, der zu sehr vom vorherrschenden Narrativ abweicht. Immer klarer wird, dass das Ende einer Demokratie nicht zwangsläufig eine gewaltsame Diktatur sein muss.

Vortrag mit Nachwehen

Vergangenen Monat hat die ehemalige ARD-Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz einen Vortrag an der Volkshochschule Reutlingen gehalten. Thema war das Verhältnis zu Russland, insbesondere angesichts des Kriegs in der Ukraine. Die Zeitungen waren tagelang voll davon. Auch heute wirkt der Auftritt der Russlandexpertin in Reutlingen noch nach. Wie konnte es dazu kommen?

In ihrem Vortrag warb Krone-Schmalz dafür, den Dialog mit Russland zu suchen, um ein Ende des Kriegs herbeizuführen. Sie plädierte außerdem für Sicherheitsgarantien im Interesse Russlands. Die Situation in der Ukraine sei auch deshalb eskaliert, weil man einen NATO-Beitritt des souveränen Staats nicht klar zurückgewiesen habe. Die Thesen von Frau Krone-Schmalz waren zweifellos provokativ. Sie boten aber auch ausreichend Stoff für eine kontroverse demokratische Debatte zum Thema.

Shitstorm mit Methode

Doch genau diese Debatte blieb aus. Stattdessen sah sich Gabriele Krone-Schmalz einer vernichtenden Kritik ausgesetzt, die jede sachliche Diskussion augenblicklich abwürgte. Schon vor ihrem Auftritt in Reutlingen war die 73-jährige eine umstrittene Persönlichkeit. Die Vehemenz der Reaktionen auf ihre jüngsten Ausführungen sprengten aber endgültig den Rahmen des Anständigen. Nicht nur Gabriele Krone-Schmalz wurde öffentlich für ihre Ansichten quasi geschlachtet, auch gegen die Volkshochschule Reutlingen entbrannte ein regelrechter Shitstorm. Andere Institutionen werden sich künftig sehr gut überlegen, welche Gäste sie einladen werden und wie weit sie vom vorherrschenden Narrativ abweichen werden.

Die Verärgerung über den Vortrag in Reutlingen weckte bei vielen ungute Erinnerungen ans Frühjahr 2021. Damals sprach sich ein Künstlerkollektiv auf satirische Weise gegen einen weiteren Lockdown zur Bekämpfung der Pandemie aus. Die Aktion #allesdichtmachen fiel vielen der 50 Künstlerinnen und Künstler böse auf die Füße. Angesichts des enormen Drucks aus Forschung, Politik und Teilen der Gesellschaft ruderten manche erschrocken zurück. Mit einem solch vernichtenden Urteil hatte keiner von ihnen gerechnet. So geschmacklos einige die Aktion auch fanden, der Zerstörungswille der Empörung darüber stand in keinem Verhältnis dazu.

Eine demokratische Katastrophe

In den letzten Jahren wurde viel und oft darüber gesprochen, was man in Deutschland noch sagen dürfte, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Zur Diskussion lud man meist Vertreter der entgegengesetzten Pole. Während die einen die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit in Deutschland über den grünen Klee lobten, ließen sich andere über diktatorische Verhältnisse á la DDR aus. Eine vernünftige Debatte fand auch hier viel zu selten statt.

Tatsächlich haben inzwischen rund 50 Prozent der deutschen Bürgerinnen und Bürger die ernsthafte Sorge, sie könnten nicht mehr all das sagen, was sie wollten, ohne deswegen in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen. Diese Angst gilt explizit auch für Äußerungen, die in einem funktionierenden Rechtsstaat eindeutig von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Zusammen mit einer sinkenden Beteiligung an Wahlen, besonders auf Landes- und Kommunalebene, sollten solche Tendenzen jeden echten Demokraten in blankes Entsetzen stürzen.

Romantisches Diktaturverständnis

Es hilft dabei wenig, wenn man reflexartig von einer Diktatur redet, weil die Meinungsfreiheit in Zweifel steht. Im Sommer 2019 stellte sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Ein AfD-Anhänger meldete sich und warf der Kanzlerin vor, das Land in eine Diktatur umgebaut zu haben, in der er nicht mehr das sagen könnte, was er gerne wollte. Merkel entgegnete ihm, dass sein Auftritt bester Beleg dafür sei, dass wir eben nicht in einer Diktatur lebten.

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Angela Merkel im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern: Wir leben nicht in einer Diktatur.

Sie hatte damit vollkommen recht. Kein Mensch wird in Deutschland dafür eingesperrt, weil er seine Meinung sagt. Das sind Methoden, die wir aus Ländern wie Russland oder China kennen. Eine Diktatur existiert in Deutschland formal nicht. Das Problem ist, dass viele Menschen eine viel zu naive Vorstellung davon haben, was eine Diktatur ist und wie sie entsteht.

In nahezu grenzenloser moralischer Überlegenheit warten manche heutzutage auf eine Partei oder auf eine Bewegung, die sie aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen bekämpfen können. In der AfD haben viele dieser Moralisten Sinn und Grund für diesen Kampf erkannt. Und tatsächlich ist die AfD eine Partei, die mit Verfassungstreue und Demokratie wenig am Hut hat. Sie ist aber weit davon entfernt, einen echten Umsturz herbeizuführen oder dem Land eine Diktatur überzustülpen. Wer sich ausschließlich auf diese Kämpfer verlässt, die das Problem exklusiv außerhalb eines bestimmten Spektrums sehen, der wird früher oder später in ebendieser unfreien Gesellschafft erwachen, die er immer beseitigt sehen wollte.

Die halbdemokratische Gesellschaft

Der größte Feind der Demokratie ist nämlich nicht die Diktatur. Es ist die Ignoranz und die Gleichgültigkeit, mit der sich immer mehr Menschen von einer demokratischen Gesellschaft abwenden. Die Geschichte zeigt genügend Beispiele dafür, wie eine Diktatur gegen den Willen der Bevölkerung und manchmal auch gewaltsam eingeführt wurde. Die DDR war ein System, das keiner wollte, aber in dem viele sich notgedrungen eingerichtet hatten. Der Machtübernahme der Nazis gingen zwar demokratische Wahlen voraus, der letztendliche Umsturz gelang aber nur durch den exzessiven Einsatz von Gewalt, der sich in den Folgejahren weiter steigern sollte.

Den Todesstoß versetzten Weimar allerdings die vielen Menschen, die mit Sicherheit keine diktatorische Gewaltherrschaft unter Hitler im Sinn hatten, den Glauben in die Demokratie aber lange aufgegeben hatten. Auch heute befinden wir uns in einer Situation, in der immer weniger Menschen, der Demokratie zutrauen, mit den Krisen unserer Zeit fertigzuwerden. Fast die Hälfte der Deutschen glaubt nicht mehr an die Meinungsfreiheit, einen Grundpfeiler jeder Demokratie.

Ohne Sinn und Verstand

Wenn Menschen den Leitspruch „Nie wieder“ hören, dann denken sie daran, sich Naziaufmärschen entgegenzustellen und Zivilcourage zu beweisen, wenn Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund drangsaliert werden. Das ist mutig und richtig. Dieses Engagement leistet einen wichtigen Beitrag zu einem gesunden Rechtsstaat. Trotzdem werden diese Menschen nicht so schnell das Zepter übernehmen. Eine Gewaltherrschaft wie im Dritten Reich ist heute eine Dystopie. Sie war aber möglich – und dafür gab es Gründe. Die Methoden der Nazis von damals funktionieren heute nicht mehr. Dafür waren ihre Taten zu grauenvoll. Die Mechanismen, wie es zu einer unfreien Gesellschaft kommen kann, bestehen aber weiterhin.

In der krisengeschüttelten Zeit, in der wir leben, ist die Angst unser ständiger Begleiter. Angst ist aber kein guter Ratgeber. Besonders die Coronapandemie hat gezeigt, wie wenig Verlass auf den gesunden Menschenverstand ist, wenn eine existenzbedrohende Angst um sich greift. Die Hamsterkäufe im ersten Pandemiejahr, die massenhaften Aufmärsche selbsternannter Querdenker und die gefühlte Impfpflicht sind sicher keine Meisterleistungen menschlicher Intelligenz.

Im Laufe des Jahres 2021 ist die Stimmung bedenklich gekippt. Die ersten Dosen der neuen Impfstoffe waren kaum an ein paar ausgewählte Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen verabreicht, da kamen manche Politiker schon mit Privilegien für Geimpfte und Sanktionen für Ungeimpfte um die Ecke. Das Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung wurde auch dann konsequent infrage gestellt, als immer klarer wurde, dass die viel angepriesenen Wundermittel Grenzen in ihrer Wirkung und Effektivität hatten.

Eine neue Superwaffe

Für viele Ungeimpfte war der Herbst 2021 eine schwere Zeit. Sie waren durch 2G nicht nur von vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, sie spürten eine latente Feindseligkeit, die ihnen aus dem Rest der Bevölkerung entgegenschlug. Forscher, Politiker und Prominente schürten eine Stimmung, die bei Betroffenen das Vertrauen in den Rechtsstaat nachhaltig erschüttert hat. Spätestens seitdem den Ungeimpften die Verantwortung für überfüllte Intensivstationen zugeschoben werden sollte, ist klar, dass die Demokratie nicht naturgegeben ist.

Möglich ist das, weil sich viele antidemokratische Strömungen heute eine neue Superwaffe zu eigen gemacht haben: die Moral. Lange in der Politik verpönt und belächelt, läuft sie in diesem Geschäft inzwischen zur neuen Höchstform auf. Gegen Widerspruch jedweder Form scheint sie gefeit. Jeder, der sich ihr widersetzt, steht sogleich im Verdacht, etwas Böses im Schilde zu führen. Ehe man sich versieht, ist man AfD-nah, ein Covidiot oder ein Kremlpropagandist. Die Moralisierung der Debatte teilt die Lager in Gut und Schlecht. Es ist absolut menschlich, dass man auf der guten Seite stehen möchte. Den Mut, die moralische Seite zu verlassen und für sich in Anspruch zu nehmen, eben nicht zu den Bösen zu gehören, haben nicht viele. Sie bleiben lieber stumm. Zu bequem ist es doch, auf der richtigen Seite zu stehen. Unsere Vorfahren werden das ähnlich gesehen haben. Demokratisch ist das nicht.

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Gabriele Krone-Schmalz an der VHS Reutlingen


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Demokratisches Long Covid

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Einen Freedom Day wie in anderen Ländern wird es in Deutschland vorerst nicht geben. Trotzdem sind vor kurzem viele der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus gefallen – in manchen Bundesländern gilt noch eine Übergangsregelung. Überstanden ist die Pandemie damit noch nicht – und erst recht nicht ihre Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. Nach zwei Jahren Corona ist unsere Gesellschaft gespaltener als vor der Pandemie. Diese Spaltung lässt sich nicht durch die Abschaffung von Maskenpflicht und 2G überwinden. Wir müssen begreifen, dass der demokratische Schaden nachhaltiger ist als befürchtet.

Happy Freedom Day?

Das Ende der Pandemie ist zum Greifen nah. Viele Länder lockern bereits seit Monaten, in Dänemark und im Vereinigten Königreich scheint Corona keine Rolle mehr zu spielen. Von einer Vollimpfung sind auch diese Länder weit entfernt und trotzdem hält man den Wegfall sämtlicher Schutzmaßnahmen angesichts der Omikronvariante für geboten. Selbst das Nachziehen klappt in Deutschland nicht beim ersten Versuch. Der Freedom Day am 20. März ging in die Hose. Die meisten Bundesländer halten weitreichende Maßnahmen noch bis Anfang April aufrecht.

Auch wenn sich das Ende der Pandemie in Deutschland mit dem Ende der Pandemie in anderen Ländern nicht vergleichen lässt – die prominentesten Maßnahmen haben ein Verfallsdatum. Die Maskenpflicht beispielsweise wird auch hierzulande in vielen Bereichen fallen. Nur in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Umgang mit besonders vom Virus gefährdeten Personen ist das Tragen einer Mund-Nasen – Bedeckung weiterhin vorgeschrieben.

Routinierter Protest

Trotz dieser eindeutigen Lockerungsperspektive reißt ein Trend nicht ab. Noch immer gehen Menschen regelmäßig auf die Straße, um gegen die Einführung der allgemeinen Impfpflicht zu demonstrieren. Samstag für Samstag ziehen die Demonstrationszüge tausende Leute an, die sich lauthals gegen die Pflichtspritze aussprechen.

Vielen ist dieser anhaltende Widerstand nicht geheuer. Für sie ist Corona mit den anstehenden Lockerungen ein für alle Mal vom Tisch, eine Impfpflicht ist für sie kein Thema mehr. Sie verstehen nicht, warum diese Menschen weiterhin zu Tausenden auf die Straße gehen.

Der routinierte Protest ist Zeugnis einer fortgeschrittenen Entfremdung vieler Menschen von Wissenschaft und Politik, das Unverständnis, das ihnen entgegenschwemmt ein Symptom dessen. Viele Menschen, die am Samstag auf die Straße gehen, glauben nicht an das offensichtliche. Sie hinterfragen alles, was die Politik ihnen präsentiert.

Deswegen kümmert es sie kaum, dass es für eine allgemeine Impfpflicht derzeit keine Mehrheit im Bundestag gibt. Die verschiedenen Herangehensweisen zu diesem Thema haben sich dermaßen etabliert, dass sie kaum noch unter einen Hut zu bringen sind. Die Samstagsdemonstranten interessiert das wenig. Sie haben im Herbst 2021 gesehen, wie schnell absolute Gegner der Impfpflicht plötzlich deren ärgste Verfechter sein können. Der vielbeschworene Schaden für die Demokratie ist längst da.

Schlechte Kommunikation

Das Gebaren vieler Wissenschaftler und Politiker in der Coronapandemie hat eine Generation von Misstrauischen und Abspenstigen herangezüchtet, die kaum noch in den demokratischen Diskurs integrierbar ist. Auch bei der Impffrage haben viele Menschen gespürt, dass vieles nur Fassade ist. Die Impfkampagne bestand nur zweitrangig aus netten Clips, die zum Impfen motivieren sollten. Getrieben war diese Kampagne stattdessen von einer aufgebauschten Impfmoral und einem Ausschluss von Ungeimpften aus weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens ohne nachvollziehbaren medizinischen Grund. Geführt wurde sie mit teilweise offenen Drohgebärden, denen der Erziehungsgedanke mehr bedeutete als der Schutzauftrag gegenüber den Grundrechten.

Den Erfolg dieser offensiven Strategie sieht man an der Impfentscheidung gerade von jungen Leuten. Sie wissen, dass sie von dem Virus weitaus weniger gefährdet sind als ihre Eltern und Großeltern. Ihre Impfentscheidung hängt direkt mit der Teilhabe an einem normalen Leben und ihrem Wunsch nach einer unbeschwerten Jugend zusammen. Dafür nehmen sie die Impfung in Kauf. Die medizinische Schutzwirkung der Maßnahme verkommt zum Beiwerk und dient bestenfalls als Legende, um der Gegenseite den Triumph vorzuenthalten.

Die Konsensgesellschaft

Es ist naiv zu glauben, Demokratien endeten mit dem plötzlichen Auftreten von Autokraten. Menschen wie Wladimir Putin und Parteien wie die AfD wachsen nicht einfach aus dem Boden und ihr Erscheinen ist keine zufällige Fügung. Die Demokratie ist dann besonders gefährdet, wenn sie nur noch im Schaufenster existiert. Seit Jahren sind die unterschiedlichsten Polittalks Sinnbild einer lebendigen Demokratie. Die geladenen Politiker und Experten diskutieren hier zu verschiedenen Themen.

Spätestens seit Corona ist das akzeptable Meinungsspektrum allerdings stark verengt. Die Positionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterscheiden sich nur noch in Nuancen. Es gibt einen gemeinsamen Konsens und keiner, dem die eigene Fernseh- oder Politkarriere wichtig ist, weicht davon ab.

Die Pandemie lässt sich nur mit einer nahezu flächendeckenden Impfquote überwinden. Punkt. Der Weg dorthin ist debattierbar, das Ziel aber steht für alle fest. Zweifel daran, dass Impfungen bei einer akuten Pandemie das gebotene Mittel sind, werden nicht zugelassen. Das gleiche Muster gilt mittlerweile auch in anderen Bereichen: Ein genereller Importstopp für Rohstoffe aus Russland ist notwendig. Den Menschen wird gebetsmühlenartig gepredigt, die Lösung der drängendsten Krisen sei alternativlos. Das mag in schwierigen Situationen der naheliegende Schluss sein. Er schwächt aber die Demokratie, weil diese Herrschaftsform die Kunst der Alternativen ist.

Plötzlich ausgeschlossen

Diese Entwicklung ist real und wurde durch die Pandemie weiter beschleunigt. Auch damit müssen wir nach Erreichen der Endemie umgehen. Denn schon heute gibt es Beispiele, wie sehr das eigene Ansehen durch legitime Meinungen beschädigt werden kann, nur weil man Abweichler ist. Der ungeimpfte Joshua Kimmich kam mit der Häme angesichts seiner Coronaerkrankung vergleichsweise gut weg. Wer sich an der kontroversen Aktion #allesdichtmachen beteiligte, bekam den Zorn des Konsens deutlich stärker zu spüren. Und auch die Kabarettistin Lisa Fitz erlebte wegen ihrer Äußerungen keine Kritik, sondern blanke Ablehnung.

Der politische Umgang mit der Pandemie zeigte vielen Menschen, wie schnell man plötzlich nicht mehr dazugehören kann. 2G schloss einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von weiten Teilen des öffentlichen Lebens aus. Mit der Begründung, die einschneidende Maßnahme diene der Verhinderung weiterer Infektionen und der Entlastung der Krankenhäuser, schien die kosmische Gerechtigkeit zunächst wiederhergestellt zu sein. Doch schon bald kam es zur großen Impfenttäuschung: Infektionsprävention ist nicht vorrangiges Ziel der Präparate. 2G kippte trotzdem nicht. Über Monate blieb Ungeimpften der Zugang zu Kneipen, Kinos und Konzerten weiter verwehrt.

Der Ausschluss wird die meisten Ungeimpften schon hart getroffen haben. Als viel schlimmer haben sie aber wahrscheinlich empfunden, dass ihr Schicksal der Mehrheit am Allerwertesten vorbeiging. Es gab keinen lauten Aufschrei gegen diese Maßnahme, obwohl ihre Sinnhaftigkeit nach wissenschaftlicher Betrachtung von Anfang an in Zweifel stand. Viel bequemer war es, in den Kanon der Impfsolidarität einzusteigen, obwohl man sich durch die Impfung lediglich einen Teil der Freiheit zurückerkauft hatte. Der Starrsinn mancher Ungeimpfter war vielen angesichts des enormen Impfdrucks äußerst suspekt und so war man eher bereit dazu, über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit hinwegzusehen.

Der Impfopportunismus

Wie anfällig die Gesellschaft für diese Dynamik des Mitläufertums ist, zeigte sich bereits in der ersten Jahreshälfte 2021. Die Impfstoffe waren noch streng priorisiert, nicht jeder hatte sofortigen Zugang dazu. Die eigene potentielle Impfung war gefühlt Ewigkeiten entfernt, eine gewisse Skepsis gegenüber den neuen Präparaten galt als chic. Doch kaum fielen die lästigen Prio-Gruppen weg, gab es für viele kein Halten mehr. Die anfängliche Zurückhaltung wich schnell einer regelrechten Impfeuphorie.

Aus medizinischer Sich gibt es daran sicher nichts auszusetzen. Wer von dem Virus bedroht ist und sich dagegen schützt, handelt mindestens eigenverantwortlich. Schon bald allerdings brach sich ein regelrechter Impfwahn Bahn. Obwohl sich die Stimmen mehrten, die die Wirksamkeit der Impfstoffe stark eingrenzten, fielen auch Jugendliche und Kinder dem unerbittlichen Impfdruck zum Opfer. Diese Praxis konnte sich durchsetzen, weil es nur sehr wenige bestätigte Fälle von Impfschäden gab.

Es hat sich ein Politikstil durchgesetzt, der zwar gerne mit Fakten und Daten jongliert, einer wissenschaftlichen Überprüfung aber kaum standhält. Die Angst in der Krise hat die Menschen noch weiter in eine politische Sackgasse getrieben, die lange vor der Pandemie beschritten wurde. Der Spaltpilz der Gesellschaft verschwindet nicht einfach mit dem Ausrufen einer Endemie. Das Gift der Spaltung wird diese Krise überdauern. Die Linderung dieser Spaltung wird ein langwieriger Prozess – denn nichts ist schwerer wiederherzustellen als Vertrauen.


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Noch ganz dicht?

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Mit ihrer Aktion #allesdichtmachen haben 52 Künstlerinnen und Künstler einen Shitstorm erster Güte losgetreten. Mit einer kontroversen Debatte über ihre Videos haben sie mit Sicherheit gerechnet, mit solch vernichtender Kritik bestimmt nicht. Über die Inhalte der Kurzclips spricht kaum jemand. Immerhin waren sich die Medien und weite Teile der Öffentlichkeit schnell einig, dass es den Darstellerinnen und Darstellern nicht zusteht, auf diese Weise Kritik zu üben. Von dem künstlich erzeugten Scharmützel zwischen Befürwortern und Gegnern profitieren vor allem diejenigen, die die unhaltbaren Zustände in Krankenhäusern mitzuverantworten haben.

Einig wie selten

Seit Böhmermanns Ziegenficker-Affront aus dem Jahr 2016 schlug wohl keine satirische Überspitzung so hohe Wellen wie die Aktion #allesdichtmachen. Mehr als 50 Künstlerinnen und Künstler aus dem deutschsprachigem Raum üben mit der Aktion Kritik an dem gefühlt endlosen Lockdown, den die Regierung immer wieder verlängert. Die Promis bezweifeln in ihren Kurzvideos, dass die harten Maßnahmen gegen die Pandemie noch verhältnismäßig sind. Die Diskussion über diese Aktion erinnert in Teilen tatsächlich an den Vorwurf der Majestätsbeleidigung, der seinerzeit gegen Jan Böhmermann im Raum stand. Es gibt allerdings einen gravierenden Unterschied: Während sich 2016 die öffentliche Meinung über Böhmermanns Schmähgedicht in zwei mehr oder weniger ausgeglichenen Lagern verortete, ist im Falle der Aktion #allesdichtmachen für die Medien die Sache klar: Das geht gar nicht. Es ist absolut deplatziert und verachtenswert.

Die deutschen Leitmedien sind sich bei der Einschätzung des satirischen Fehlgriffs einig wie selten. Die Kritik, die über die Aktion hereinbrach, kam wie aus einem Guss. Unerbittlich verurteilten die großen Nachrichtensender, namhafte Zeitungen und andere Medien die Videoclips, die ihr Anliegen in etwa einer Minute deutlich machen. Zumindest dieses Ziel haben die Macher hinter der Aktion erreicht. Jeder redet darüber. Die Öffentlichkeit für das Thema ist definitiv hergestellt.

Steilvorlage für Rechts

Ein weiteres und weitaus wichtigeres Ziel haben die Initiatoren allerdings auch erreicht. Sie haben bravourös dargestellt, wie eingeengt der geduldete Diskurs in unserem Land zwischenzeitlich ist. Die Kritik an den Videos fiel mitunter so heftig und vernichtend aus, dass die Sachlichkeit an vielen Stellen darunter litt. Mit teilweise brachialer verbaler Gewalt rückte man die Künstlerinnen und Künstler unreflektiert in die Nähe der Querdenkerszene, die sich hauptsächlich aus Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen formatiert. Es geht daneben leicht unter, dass das in Kauf genommene Horrorszenario, in der Folge von der AfD vereinnahmt zu werden, ebenfalls eingetreten ist.

Die reflexartige Ausgrenzung der 52 Promis lässt den Rechten doch auch überhaupt keine andere Wahl, als deren Aktion für sich zu vereinnahmen. Erneut hat eine blauäugige und naive Weltsicht der AfD ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema auf dem Silbertablett serviert. In einem schier neurotischen Distanzierungswahn von der AfD haben bestimmte Meinungsmacher die Promis aus den Videos und deren wichtiges Anliegen auf dem Altar des Nicht-Sagbaren geopfert. Es ist völlig richtig, dass die AfD manche der angesprochenen Maßnahmen ebenfalls kritisiert. Das nun zum Maßstab des Tolerierbaren zu machen, übersteigert die Relevanz dieser rechten Gruppierung allerdings bis ins Wahnwitzige. Bloß weil die AfD auf Sonnenschein hinweist, ist das noch lange kein Grund, trotz frühlingshaften Wetters Regen zu propagieren.

Über’s Ziel hinaus

Einige der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler haben sich bereits laut gefragt, ob Ironie und Sarkasmus die richtigen Stilmittel für die Botschaft der Aktion gewesen wären. Tatsächlich kann man über die Geschmackhaftigkeit der Aktion streiten. Auch dass sich einige mit den Videos vor den Kopf gestoßen fühlen, war ein kalkulierbares Risiko. Hier kann man den Machern sicher noch zugutehalten, dass jede Form der Kunst, wenn sie gut gemacht ist, unbequeme Ausmaße für bestimmte Personen annimmt. Der Kreis dieser Personen ist in diesem Fall unerwartet groß und auch der Zeitpunkt der Aktion war zeitlich bestimmt nicht optimal. Auch vor einigen Wochen und Monaten lebten wir in einem gefühlt ewigen Lockdown bei zwischenzeitlich moderat anmutenden Infektionszahlen. Solche Videos zu verbreiten, wenn die Zahl der Infizierten wieder ganz knapp an der 30.000 kratzt, war auf keinen Fall ein Geniestreich.

Man kann den Künstlerinnen und Künstlern darum durchaus vorwerfen, über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Mit diesem überambitionierten Gebaren sind sie mit ihren Kritikern aber in allerbester Gesellschaft. Die Herabwürdigung der Aktion reichte von Rückzugsforderungen über persönliche Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen. Das geht so einfach nicht. Das ist nicht die logische Antwort auf etwas, was man als unangebracht und geschmacklos empfindet.

Besonders erschütternd ist aber der Vorwurf des Geschichtsrevisionismus. So wirft Meron Mendel, Direktor des Zentrums für politische Bildung, den Darstellerinnen und Darstellern vor, sie würden eine Verharmlosung der NS-Verbrechen befördern und damit Geschichtsrevisionismus betreiben. Mit dieser infamen Unterstellung wird die in weiten Teilen berechtigte Kritik in selbstgerechter und verantwortungsloser Weise sogleich in Grund und Boden gestampft. Es ist doch genau andersrum: Nicht die Kritik an der Regierung entspricht Nazi-Methoden, sondern die Gleichsetzung von kritischem Zeitgeist mit den Methoden der extremen Rechten.

Schneller Rückzug

Leider ließen sich von dieser regelrechten Hetzkampagne inzwischen einige der Künstlerinnen und Künstler beeindrucken. Bei manchen blieb es nicht bei hilflosen Erklärungs- und Distanzierungsversuchen. Sie nahmen die Videos gefolgsam vom Netz. Die Feierstimmung darüber in der AfD-Parteizentrale soll angeblich alle Ausmaße bisher dokumentierter Corona-Partys gesprengt haben.

So standfest und überzeugt die Darstellerinnen und Darsteller zunächst schienen, so umfallerisch wirken sie nun, nachdem sie ihre Videos zurückgezogen haben. Die heftige Kritik auf ihre Aktion hat alle Dimensionen des Denkbaren in den Schatten gestellt. Nun aber Videos tatsächlich zu löschen, gibt die Aktion dem Verdacht des Opportunismus und der Selbstdarstellung preis. Die Künstler ziehen dabei selbst in Zweifel, wie ernst es ihnen mit der Aktion war. Bemerkenswert ist dabei, wie rasant schnell einige der Videos verschwunden waren.

Das Unsagbare

Ein besonders beliebtes Totschlagargument, um die unliebsame Kritik am Corona-Management der Bundesregierung moralisch zu entmündigen, kam auch in diesem Fall zum Einsatz. Mit ihrer Aktion würden die Promis die Pandemie verharmlosen und die Maßnahmen ins Lächerliche ziehen. Außerdem würden sie sich über die zahlreichen Opfer der Erkrankung lustig machen, ungeachtet dessen, ob diese die Krankheit überlebt haben oder nicht. Diese Unterstellung ist so bösartig, dass spätestens jetzt klar wird, dass es nicht um sachliche Kritik, sondern um die öffentliche Demontage und Vernichtung der Künstlerinnen und Künstler geht.

Denn mit keiner Silbe stellen die Darsteller die Gefährlichkeit der Krankheit in Abrede. Sie bezweifeln lediglich die Verhältnismäßigkeit und die Zielgenauigkeit der geltenden Maßnahmen. Sie legen damit den Finger in eine offene Wunde. Nach über einem Jahr Pandemie gibt es kaum gesicherte Erkenntnisse darüber, wo die Infektionsherde liegen. Jedem dürfte klar sein, dass das Infektionsrisiko in überfüllten Bahnen und Bussen viel höher liegt, als wenn zwei Personen ein Picknick unter freiem Himmel abhalten. Aber selbst dazu gibt es kaum verwertbare Zahlen.

Natürlich war es im Frühjahr 2020 richtig, provisorisch alles dichtzumachen. Wir hatten es mit einem unbekannten Virus zu tun, dessen Folgen nicht abschätzbar waren. Die gleiche Aktion hätte die Opfer der Pandemie vor einem Jahr tatsächlich verachtet, weil sie den gesunden Menschenverstand ins Lächerliche gezogen hätte. Diesen Job hat die Bundesregierung mit ihrem kläglichen Krisenmanagement in der Zwischenzeit aber selbst übernommen.

Rabatz auf dem Nebenschauplatz

Mit der ausufernden Kritik an der Aktion erweisen die Empörten der Bundesregierung übrigens einen großen Dienst. Erneut ist es der Politik gelungen, die Menschen an einen Nebenschauplatz zu verweisen, um sie von den wirklichen Problemen fernzuhalten. Getreu dem Motto „Zerfleischt euch gegenseitig, dann haben wir den Rücken frei“ sprechen die wenigstens über die Gründe dafür, warum ein anhaltender Lockdown leider nötig ist.

Lange vor der Pandemie war der Gesundheitssektor so heruntergewirtschaftet, dass er selbst bei gewöhnlichen Grippewellen an seine Grenzen stieß. Die Gesundheitsämter sind seit Jahren so kaputtgespart, dass es auch nach mehr als einem Jahr Corona kaum verwundert, dass niemand so recht weiß, wo die Infektionen eigentlich herkommen. Wer nun aber glaubt, dieser Missstand stagniert seit der Pandemie, der irrt gewaltig. Tatsächlich mussten im vergangenen Jahr zwanzig Krankenhäuser ihre Pforten für immer schließen. Das ist der Grund dafür, warum die Politik die Pandemie nicht unter Kontrolle bekommt. Das ist der Grund dafür, warum viele Menschen erkranken und die meisten Geschäfte weiterhin zuhaben.

Währenddessen lassen sich viele börsennotierte Unternehmen mit krisengeschüttelten Zwei-Mann – Betrieben gleichstellen und kassieren freudig die Coronahilfen ab. Dieses hart erwirtschaftete Steuergeld fließt dann fast ohne Umwege in Form von Dividenden an die Aktionäre. Die Kritik an diesem unhaltbaren Zustand schimpft sich dann Neiddebatte. In Wahrheit ist es allerdings genau diese Praxis, die die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und in den Heimen verhöhnt. Es ist genau dieser Umgang mit Steuergeld, der die Menschen fassungslos zurücklässt. Es ist genau diese falsche Prioritätensetzung, die der Pandemie Tür und Tor öffnet.


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