Dafür oder dagegen

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Der Ausgang der anstehenden US-Präsidentschaftswahl ist völlig ungewiss. Trump schwächelt zwar, ein möglicher Sieg für ihn ist aber weiterhin nicht vom Tisch. Sein Herausforderer Biden hat es bis heute nicht geschafft, den Menschen über Donald Trump die Augen zu öffnen. Das ist auch kein Wunder, wählen viele schließlich nicht FÜR Trump, sondern GEGEN Biden. Auch in der deutschen Parteienlandschaft zeichnet sich ein ähnlicher Trend ab. Viele wählen nicht für die Populisten, sondern gegen das Establishment.

And the next president is…

Ende des Jahres stehen die US-Amerikaner erneut vor der Wahl: Wer soll ihr Land in den nächsten vier Jahren regieren? Darf sich der amtierende Präsident Donald Trump weiter im Weißen Haus verschanzen, ein sinnvolles Anti-Kriegs – Abkommen nach dem anderen aufkündigen und viele weitere egoistische Wirtschaftsembargos verhängen? Oder soll zukünftig Joe Biden die Geschicke des Staatenbunds bestimmen – ein in die Jahre gekommener Hardcore- Establishmentverfechter, den außer fehlendem Haarvolumen und Make-up nicht viel von seiner glücklosen Vorgängerin Hillary Clinton unterscheidet?

Auch bei der US-Wahl 2020 zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf – Rennen zwischen den beiden Kontrahenten ab. Wie bereits vor vier Jahren ist vollkommen ungewiss, wer die Wahl gewinnen wird. Trump schwächelt zwar in Umfragen, sein Rückhalt ist aber weiterhin enorm. Eines ist allerdings jetzt schon klar: Wer sein Kreuz hinter Trump macht, der stimmt nicht zwangsläufig für den amtierenden Präsidenten. Denn jede Stimme, die Trump einheimsen kann, ist eine Ohrfeige für Biden.

Pest und Cholera

Das Wahlsystem in den USA lässt prinzipiell gar keinen anderen Schluss zu. Im Rennen sind in der Regel nur zwei aussichtsreiche Kandidaten, einer für die Demokraten, der andere für die Republikaner. Und doch ziehen viele Amerikaner den tobsüchtigen, egoisitischen, organenen Mann einem Kandidaten vor, der zwar auf den ersten Blick stinklangweilig wirkt, aber bestimmt auch über eine Menge Lebenserfahrung verfügt. Wie bereits 2016 wird für Trump nicht gestimmt, weil er ein so unfassbar geeigneter Präsident ist, sondern weil sein Gegenspieler ein so unfassbar ungeeigneter Kandidat ist.

Selbst wenn Hilary Clinton 2016 die Wahl gewonnen hätte: Ähnlich wie Trump hätte sie das nur mit einem hauchdünnen Vorsprung geschafft. Und das hat Gründe. Viele Wählerinnen und Wähler spürten, dass es mit einer Präsidentin Clinton nicht vorwärts gegangen wäre. Von ihrer Präsidentschaft versprachen sich viele viel zu wenig. Sie war die Kandidatin des Establishments, der sozialen Unsicherheit und der Reichen und Mächtigen. Es ist ein Trauerspiel, dass die Wähler selbst einem Donald Trump eher das Vertrauen aussprachen – einem offensichtlichen Chauvinisten, der Frauen beschimpft und es mit der Wahrheit überhaupt nicht genau nimmt.

Und auch bei der kommenden Wahl dürfte es eng werden. Es ist natürlich möglich, dass Joe Biden der nächste Präsident der USA wird. Dann aber ganz sicher nicht, weil seine Argumente so überzeugt haben. Auch die schlechten Umfragewerte von Donald Trump hängen direkt mit dessen Missmanagement der Corona-Krise zusammen. Joe Biden ist ein Kandidat, der ausschließlich von der Führungsschwäche Trumps profitiert. Er führt einen Wahlkampf gegen seinen Kontrahenten, aber nicht für seine eigene Sache. Dann müsste er nämlich zugeben, dass er wie Trump ohne echten Plan dasteht. Er müsste gestehen, dass seine Alternative alles andere als erstrebenswert ist. Denn eine Zukunft ohne Trump ist nicht unbedingt eine bessere Zukunft – schon gar nicht, wenn sie Joe Biden heißt.

Eine zweite CDU

In Deutschland haben die Wähler traditionell die Wahl zwischen mehr als zwei Parteien. Man könnte meinen, dass die Wahl einer bestimmten Partei nicht dazu geeignet ist, einer anderen Partei eins auszuwischen. Spätestens seit die AfD am politischen Horizont erschienen ist, hat sich das aber geändert. Natürlich gibt es Menschen, die die AfD aus voller Überzeugung wählen. Das gilt aber nicht für die Mehrheit der AfD-Wähler. Die meisten wählen diese Partei, weil sie sich entweder von keiner der anderen Parteien vertreten fühlen oder weil sie es dem Establishment zeigen wollen.

Einige Parteien im Land tun auch wirklich alles, um die Serie an Wahlerfolgen der AfD nicht abreißen zu lassen. Jüngstes Beispiel ist vermutlich Olaf Scholz. Der stolze Olaf darf die SPD bei der nächsten Bundestagswahl als Kanzlerkandidat vertreten – es sei denn, die Partei besinnt sich rechtzeitig eines besseren.

Olaf Scholz ist nämlich der fleischgewordene Wahlgrund für die AfD. Er steht für alles, was die AfD-Wähler ablehnen. Er gilt als Wegbereiter der Hartz-Reformen, die viele Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse gestürzt haben. Und er war immer mit ganzem Herzen dabei, wenn es um die Errichtung einer großen Koalition ging. Zweimal war er bisher in einer solchen Regierung Minister. Mit Angela Merkel scheint es bisher keine größeren Reibereien gegeben zu haben. Viel eher hat man den Eindruck, Olaf Scholz will die SPD zur neuen Schwesterpartei der CDU umformen. Und genau dieser Mann soll ernsthaft einen Neuaufbruch verkörpern? Tatsächlich verkörpert dieser Mann nur eines: Er ist eine wandelnde Provokation an das wählende Volk. Seine Kandidatur wird keinen einzigen Wähler von der AfD zurückgewinnen. Eher gehen da die Menschen gar nicht zur Wahl.

Eine wandelnde Provokation

Denn auch um die Umfragewerte der AfD ist es seit Monaten nicht besonders gut bestellt. Seitdem die Lockerungen der Corona-Maßnahmen Fuß gefasst haben, steigen die Werte der Partei zwar allmählich wieder, an das Ergebnis der letzten Bundestagswahl kommen sie aber weiter nicht ran. Das hängt ähnlich wie bei Trump aber nicht mit der guten Performance der politischen Konkurrenz zusammen. Einzig die CDU konnte ihren Rückhalt in der Bevölkerung während der Corona-Krise merklich ausweiten. Alle anderen Parteien waren bisher nicht in der Lage, den AfD-Wählern ein besseres Angebot zu unterbreiten. Folglich bleiben diese Menschen bei der AfD – oder werden zu Nichtwählern. So sind die sinkenden Umfragewerte der AfD zu interpretieren. Mit Olaf Scholz und der SPD haben sie wenig zu tun.

Die Leute lassen sich nämlich nicht auf Dauer für blöd verkaufen. Hartz-IV und den maroden Arbeitsmarkt gibt es schon seit längerem, und ganz bestimmt ist Olaf Scholz nicht allein dafür verantwortlich. Doch die Sozialdemokraten haben da gerade jemanden zu ihrem Kanzlerkandidaten gekürt, der momentan bei gleich zwei Skandalen in den Seilen hängt. Zum einen ist da der Cum-Ex – Skandal. Der amtierende Finanzminister und frühere Bürgermeister Hamburgs hat sich in dieser Affäre bereits in zahlreichen Widersprüchen verheddert. Und auch beim noch aktuelleren Skandal um den Finanzdienstleister Wirecard macht Scholz kaum eine bessere Figur. Als Finanzminister hat er viel zu lange weggesehen und damit die kriminellen Geschäfte von Wirecard zumindest laufen lassen. Wie kann es so jemand eigentlich wagen, den Anspruch zu stellen, deutscher Regierungschef zu werden?

Alles auf Volksnähe

Gerade die Regierung sollte das gesamte Volk im Blick haben. Aber nicht nur in Deutschland wird seit Jahren am Volk vorbeiregiert. Die Interessen der einzelnen jucken die Politiker schon lange nicht mehr. Natürlich spüren das die Wählerinnen und Wähler. Und dann suchen sie sich Alternativen. Die Populisten geben den Enttäuschten zumindest das Gefühl, an ihrer Seite zu stehen. Mit ihren platten Parolen und ihren rassistischen Ressentiments täuschen sie vielen eine Volksnähe vor, die angeblich den Interessen der Bevölkerung dient. In Wahrheit allerdings machen Politiker wie Donald Trump eine fast noch wirtschaftshörigere Politik als das verhasste Establishment. Unter dem Deckmantel des Bürgerverständnisses können sie das aber meist gut verstecken.

Die deutsche Bundesregierung hingegen gibt sich immer weniger Mühe, die beinahe symbiotische Beziehung zur Wirtschaft zu verschleiern. Immer offensichtlicher kommuniziert sie an die Bürger, in wessen Auftrag sie wirklich handelt. Nach dem Dieselskandal machte die Regierung rege von der freien Meinungsäußerung Gebrauch und erklärte, dass ein solches Vorgehen nicht akzeptabel wäre. Schlagkräftige Konsequenzen blieben aber bis heute aus. Stattdessen knickte die Regierung vor dem augenscheinlichen Rechtsbruch der Autokonzerne ein und ließ die Autofahrer bluten. Plötzlich waren umweltpolitische Maßnahmen zur Bekämpfung des Feinstaubs Priorität Numero uno. Um die Umwelt ging es der Regierung allerdings nicht. Sie hatte einfach Schiss, sich mit den Konzernen anzulegen.

Gegen den politischen Mainstream

Auch bei den Cum-Ex – Geschäften agierte die Regierung nicht im Sinne der Steuerzahler. Anstatt die ergaunerten Steuermilliarden zurückzufordern, pfeifen die Verantwortlichen bis heute darauf, den betrogenen Steuerpflichtigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und auch die angebliche Rettung von Lufthansa ist das, was sie vorgibt zu sein: die Rettung eines Konzerns, nicht aber der darin prekär Beschäftigten. Die Regierung pumpte gewaltige Steuersummen in das Unternehmen, kann die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichzeitig aber nicht vor Arbeitsplatzverlust schützen.

Moment, eigentlich sollte es eher heißen: Die Regierung will die Beschäftigten nicht schützen. Können tut sie es. Denn was wir in den letzten Jahren erleben, ist kein schlichtes Missmanagement der Politik. Im Prinzip managt die Politik ihre Angelegenheiten sogar ziemlich gut. Die Regierung versagt nicht in ihrem Auftrag, den Willen des Volkes umzusetzen. Sie missachtet ihn. Sie macht keine schlechte Politik für die Menschen im Land; sie macht überhaupt keine Politik für die Menschen im Land. Im Ergebnis ist das dann natürlich auch eine schlechte Politik für die Menschen.

Das schlimme daran: Auch wenn sich die GroKo in letzter Zeit zum Normalzustand der Regierung entwickelt hat, erleben wir das gleiche Trauerspiel in unterschiedlichen Konstellationen. Und plötzlich steht eine neue Partei bereit, die verspricht, den Wählern all das zu geben, was ihnen in den letzten Jahren vorenthalten blieb. Eine Partei, die alle anderen Parteien und Meinungen als politischen Mainstream geißelt und vorgibt, die einzig gute politische Alternative zu sein. Und immer deutlicher wird: Wer diese Menschen wählt, wählt vor allem die anderen nicht.


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Mit Wumms in den Abgrund

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Falsche Schlüsse

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Rechtsextreme mit Reichsflaggen versuchen, ins Herz der deutschen Demokratie vorzudringen, in Leipzig werden Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern beworfen, Stuttgart wird Schauplatz beispielloser Ausschreitungen. Viele holen bei solchen Bildern erst recht instinktiv den Rohrstock heraus, um diesen Aufständischen zu zeigen, was Zucht und Ordnung bedeutet. Das mag kurzfristig helfen, treibt die selbsternannten Querdenker aber nur noch weiter ins Abseits. Sie folgen einer kleinen Minderheit, die ihnen zumindest für einen Moment das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Die Politik hat damit bereits vor langer Zeit aufgehört und sollte die längerfristigen Konsequenzen aus den gewaltvollen Zusammenstößen jüngerer Zeit ziehen.

Zwischen Entsetzen und Jubel

Historikerinnen und Historiker sind sich seit langem einig: Weimar scheiterte nicht in erster Linie an den Nazis oder an den Kommunisten, die die Demokratie von rechts und links in die Zange nahmen. Weimar scheiterte hauptsächlich am Mangel an überzeugten Demokratinnen und Demokraten. Dazu kam, dass es eine solche Machtergreifung wie 1933 in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Wenigstens daraus kann unsere Generation heute wichtige Lehren ziehen – glaubt man zumindest.

Erschüttert müssen wir aber gerade in den letzten Monaten und Jahren feststellen, dass unsere demokratische Gesellschaft erneut bedroht wird. Da ist der NSU-Komplex der jahrelang schier unbehelligt einen Mord nach dem anderen beging. Da sind die Ausschreitungen von Stuttgart, Leipzig und Berlin, die die Polizei an die Grenzen des machbaren treibt. Walter Lübcke wird hinterrücks auf seiner eigenen Terrasse erschossen. Rechtsextremisten ziehen mordend durch Hanau und Halle. Alle diese Taten sind furchtbar und entsetzlich. Und sie alle werden von einer nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen bejubelt und gefeiert.

Rückhalt durch Nichtstun

Eines vorweg: Alle diese Täter müssen natürlich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wer aber denkt, die Sache ist erledigt, sobald eine Beate Zschäpe oder ein Stephan Ernst verurteilt sind, der irrt gewaltig. Die Menschen, die durch solch grausamen Taten immer wieder in den Medien erscheinen, sind nämlich eine verschwindend geringe Minderheit in unserem Land. Wissenschaftlich ausgedrückt, sind sie vielleicht sogar vernachlässigbar. Sie werden allerdings durch eine stetig wachsende Sympathisantenszene gestärkt und können meist nur aufgrund dieses Rückhalts ihre Taten begehen.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland zwingend immer mehr Rechts- und Linksextremisten gibt. Es gibt vor allem Leute, die ihrem Frust dadurch Luft machen, dass sie an manchen Stellen zumindest nicht einschreiten. Das Gute an der Sache: Sie alle kann die Demokratie zurückgewinnen und die wenigen eingefleischten Anti-Demokraten alt aussehen lassen. Denn wer tatsächlich Steine auf Polizisten wirft oder versucht, das Reichstagsgebäude zu erstürmen, der hat die Demokratie nicht begriffen und wird es auch niemals tun.

Fehler von damals, Fehler von heute

Das Credo dieser Gewalttäter ist eine perverse Umkehr dessen, was Willy Brandt 1969 gesagt hat: Sie wollen weniger Demokratie wagen. Das Verb „wagen“ spielt hier eine große Rolle. Nur wer die Risiken eines Fehlschlags als relativ gering einschätzt, der wagt es, eine bestimmte Sache zu tun. Wir sind inzwischen so weit, dass sich diese Täter tatsächlich aus der Deckung wagen und unser Land durch ihre Gewaltexzesse weiter destabilisieren.

Oft passiert das fast beiläufig und ohne dass man wirklich etwas merkt. Da werden rechtsextreme Taten locker flockig mal gegen linksextreme Taten aufgewogen. Das ist kontraproduktiv, weil es die Aufmerksamkeit gezielt nur auf eine von vielen Bedrohungen lenkt. Und es ist der gleiche Fehler wie zu Weimarer Zeiten. Die wenigen Demokratinnen und Demokraten von damals haben es versäumt, sich zu einem starken Bollwerk gegen die Extreme zusammenzuschließen. Durch gegenseitige Schuldzuweisungen haben sie es Blutrot und Kackbraun sogar noch leichter gemacht, zerrieben zu werden.

Hetzjagden?

Ähnliches erleben wir heute. Da werden die schlimmsten Taten gegenüber anderen Taten mutwillig relativiert, man spricht Täter durch Verweis auf die Umstände beinahe heilig, andere laufen bei Demos der Reichsflagge blind hinterher und bilden sich gleichzeitig ein, ganz besonders mutige Demokraten zu sein. Eine penetrante Würze erhält das ganze durch die konstanten Hetzereien und Verschwörungstheorien á la Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Oder auch direkt von Abgeordneten aus dem Bundestag: So empfindet es manchein Abgeordneter aus der AfD als gerechten Zorn, wenn Menschen anderer Meinung der Bauch aufgeschlitzt wird. Das ist im besten Fall rhetorische Brandstiftung und im schlimmsten Aufruf zu Straftaten.

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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) knöpft sich die AfD vor.

Der Rückhalt von extremistischen Gewalttätern ist aber auch noch konkreter erlebbar. Zwiespältige und polarisierte Debatten bestimmen seit Jahren den gesellschaftlichen Diskurs. Gab es in Chemnitz Hetzjagden oder gab es sie nicht? Trotz eindeutigen Videomaterials, das in den deutschen Medien wochenlang rauf- und runterlief, verwahrte sich selbst der damalige Vorsitzende des Verfassungsschutzes gegen den Begriff „Hetzjagden“. War der Attentäter von Halle hartgesottener Rechtsextremist oder lediglich psychisch krank? Als ob das eine das andere ausschlösse. Den absoluten Tiefpunkt der medialen Debatte haben wir aber spätestens erreicht, als immer wieder die viel gezeigte Rede von Walter Lübcke als der Moment gepriesen wurde, als Stephan Ernst den Entschluss fasste, den verhassten Politiker zu töten. Dieser Moment ist strafrechtlich durchaus relevant. Und da gehört er auch hin: ins Strafverfahren. Aber nicht als Dauergast in die politische Aufarbeitung des Mordes. Das suggeriert nämlich, dass Lübcke noch leben würde, hätte er den Mund gehalten und vor den Nazis gekuscht. Als wäre er selbst schuld.

Eine andere Gesellschaft

Obwohl natürlich nur die krassesten Taten besonders große mediale Aufmerksamkeit bekommen, spüren wir, dass sich die Stimmung im Land verändert. Gerade die Krawalle von Stuttgart versinnbildlichen die Langeweile und den Frust der Leute, die sich an den Ausschreitungen beteiligten. Denn eine konkrete politische Botschaft hatten diese Menschen nicht. Anders als in Leipzig oder bei Coronademos ging es ihnen einzig darum, auszubrechen und Stunk zu machen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und nicht ernstgenommen. Deshalb haben sie mit Gewalt erzwungen, erhört zu werden. Die Polizisten erlebten sie als Symbolfiguren einer Gesellschaft, die ihnen viele Beteiligungsmöglichkeiten vorenthält. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht mehr willkommen, die andere Seite reagiert mit Abscheu gegen die Täter. Eine schier unaufhaltsame Entfremdung ist im Gange.

Und auch diese Menschen sind eine Minderheit. Denn Frust und Hilflosigkeit äußern sich nicht immer durch Gewaltexzesse wie in Stuttgart. Viele andere haben längst resigniert. Ihnen ist es egal, ob Merkel noch Kanzlerin ist oder die AfD eine Hassrede nach der anderen hält. Das ist nicht ihre Gesellschaft. In ihr haben sie nichts zu sagen. Doch das lässt sich ändern. Die Menschen müssen die Gewissheit haben, dass ihre Meinung und ihre Worte tatsächlich Veränderung bewirken. Anstatt ihnen ständig mit fadenscheinigen Ausreden die Demokratiereife abzusprechen und sie in regelmäßigen Abständen zum Wahlvieh zu degradieren, sind gerade in der jetzigen Situation vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten gefragt.

Durch Kopfschütteln, reaktionäre Bestrafungen und noch weniger Beteiligung lassen sich die Herausforderungen von heute nämlich nicht lösen. Mehr Beteiligung führt allerdings dazu, dass die, die heute die Füße stillhalten, morgen nicht in Stuttgart, Leipzig, Berlin oder sonstwo mitmarschieren. Mit mehr direkter Demokratie spüren die Leute, dass ihre Meinung gefragt ist und andere ihre Haltung wertschätzen. Denn überall da, wo direkte Demokratie gewagt wurde, entwickelten sich regelrechte politische Hotspots. Urplötzlich standen sämtliche Parteien und politische Interessensvertretungen vor den Toren und warben für ihre Sache. Das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass direkte Demokratie unsere Gesellschaft nicht ad absurdum führt, sondern sie nach vorne bringt.

Extreme Hilflosigkeit

Jeder, der in Stuttgart oder anderswo Krawall gemacht hat, muss die Konsequenzen dafür tragen. Aber das Problem ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung lange nicht erledigt. Es hat eine viel weitreichendere Dimension, bei der harte Strafen wenig Wirkung zeigen werden. Wie unmotiviert und isoliert muss ein Mensch sein, um sich an diesen bürgerkriegsähnlichen Aufständen zu beteiligen? Eine Mauer des Unverständnisses und der Zurückweisung ist in dieser Situation genau so falsch wie im Fall der Flüchtlinge in Moria. Anstatt die rasche Aufnahme von Flüchtlingen als Nachgeben gegenüber den Brandstiftern zu bezeichnen, sollte man diese humanitäre Hilfe lieber als das sehen, was sie ist: eine eindeutige Distanzierung von den Zuständen in Moria vor dem Brand. Denn nicht das angebliche Einknicken, also die Aufnahme von Flüchtlingen, provoziert weitere Brände, sondern das Verharren auf dem Istzustand.

Eine schnelle Aufnahme von Flüchtlingen ist auch deshalb richtig, weil man dann einsieht, dass die Zustände in den Lagern auch ohne Feuer und ohne Aufstände unhaltbar sind. Mit der Befreiung dieser Menschen aus den Lagern setzt man ein unmissverständliches Zeichen gegen Isolation, gegen Hilflosigkeit und gegen das Ausgeliefertsein.

Denn eines ist völlig klar: Was in Moria passiert ist, war der extremste Ausdruck von Hilflosigkeit und Frust, den man sich vorstellen kann. Kein Mensch lässt sich auf Dauer einsperren und sämtlicher Rechte berauben, ohne irgendwann selbst zum Rechtsbrecher zu werden. Der Brand im Flüchtlingslager in Moria ist schlimm. Schlimmer sind die Umstände, die ihn begünstigten. Am schlimmsten sind aber die Lehren, die einige Menschen nun daraus ziehen.


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Das Extrem ist bequem

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Protest aus der Komfortzone

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Sie sind laut, sie sind bunt und sie sind unbequem. Sie sind aber auch realistisch, vernünftig und angepasst. An den Grünen scheiden sich die Geister. Viele sehen in der Partei den Ausweg aus der Klimakrise, andere den Untergang des Abendlands. Kaum eine andere Partei muss solch unterschiedlichen Rufen gerecht werden. Und nicht viele Parteien haben einen solch bemerkenswerten Wandel durchgemacht wie die Grünen. Früher verschriener Protestverein für abgehobene Vögel, heute eine Partei, die auch Mainstream kann. Dieser Wandel ebnete den Grünen den Weg in verschiedene Regierungsämter. Doch alles hat seinen Preis.

Politische Kindheitserinnerungen

Ich war zehn Jahre alt, als bei der Bundestagswahl 2002 Edmund Stoiber von der CSU gegen den amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder von der SPD antrat. Es war die erste Bundestagswahl, die ich bewusst wahrnahm. Am Wahlabend fragte ich meine Eltern gespannt, wem sie ihre Stimme gegeben hatten. Hatten sie Schröder oder Stoiber gewählt? Meine Eltern blickten sich merkwürdig an. Vielleicht erkannten sie durch ihren Blick, dass sie unterschiedlich gewählt hatten. Vielleicht flehten sie den anderen aber auch nur wortlos an, eine kindgerechte Erklärung für das deutsche Wahlsystem zu finden. Denn woher soll ein Zehnjähriger denn wissen, dass man in seinem Ort weder den einen noch den anderen direkt wählen kann?

Ob meine Eltern überhaupt antworteten und wenn ja, was sie mir entgegneten, weiß ich heute nicht mehr. Doch eines weiß ich noch immer: der Showdown lief zwischen Union und SPD, aber da war noch eine dritte Kraft, die um Gedeih und Verderb mitmischen wollte. Es war die Partei, die sämtliche ihrer Wahlplakate mit der Blüte einer Sonnenblume schmückte. Den Wahlkampf vor achtzehn Jahren erlebte ich als ein Kräftemessen zwischen den beiden großen Volksparteien und der grünen Partei, die irgendwie da war, die ich aber damals nur halbernst nahm.

Eine Partei für die Bauern

Als zehnjähriger Junge musste man mir nicht erklären, wofür eine Partei stand, welche die Farbe der Natur im Namen trägt. Das musste eine Partei sein, die sich den Schutz derselben und den Erhalt einer lebenswerten Umwelt auf die Fahne geschrieben hatte. Aber trotzdem nahmen viele sie nicht ganz ernst, war sie doch auch ein Auffangbecken für Ökos, Menschen mit alternativem Lebensstil und solchen Leuten, deren Sinn für Natur und Umwelt fanatische Ausmaße erreichte. Ich stempelte die Grünen für mich als eine Partei ab, die hauptsächlich von Bauern gewählt wurde. Immerhin verstand ich, dass Bauern auf eine intakte Natur angewiesen waren. Außerdem blühten auf dem Land häufig ganz besonders prächtige Sonnenblumen.

Meine Einstellung zu der Partei hat sich im Laufe der Jahre genau so verändert wie die allgemeine Akzeptanz, die sie heute erfährt. Die Wahlergebnisse der einstigen Nischenpartei sprechen wahrlich Bände. Auf Bundesebene tut sie sich nach wie vor schwer, auf zweistellige Ergebnisse zu kommen, doch in den Bundesländern sind die Grünen längst hinter den Regierungsbänken angekommen. In Baden-Württemberg sind sie sogar regierungsführend. Die Splitterpartei von gestern ist zur Regierungspartei von heute herangewachsen.

Umweltschutz und ganz viel anderes

Auch wenn die Grünen in manchen Punkten unbequem geblieben sind, den Rang als Alternative hat ihnen eine andere Partei abgelaufen. Auch wenn die AfD mitnichten eine erstrebenswerte Alternative ist, hat es die rechtspopulistische Partei geschafft, den Begriff „Alternative“ umzudeuten. Heute gelten viele Wähler der Grünen nicht mehr als Menschen, die einen alternativen Lebensstil pflegen. Der Lebensstil derer, die damals als versponnen galten, drängt sich heute mehr und mehr in den Mainstream. Wurden die Grünen früher als eine Partei wahrgenommen, denen es fast ausschließlich um Frieden und Umweltschutz ging, haben sie sich im Laufe der Jahre zu Vorreitern für einen hippen grünen Lebensstil entwickelt.

Der Erhalt unserer Natur ist den Grünen nach wie vor eine Herzensangelegenheit geblieben. Doch abgesehen von einigen verstärkten Bemühungen während der Fridays-for-Future – Phase rutschte das für diese Partei einst so wichtige Thema immer weiter in den Hintergrund. Verschwunden ist es selbstverständlich nie, doch wirtschafts- oder finanzpolitische Entscheidungen hätte man der Partei vor gut 25 Jahren sicher nicht zugetraut.

Bürgerlich und links in einem

Die Grünen konnten ihren Wählerstamm von damals um viele weitere Stimmen erweitern. Wählerschichten, denen die Grünen in den 1990ern noch mindestens suspekt waren, geben der Partei, die sich offiziell dem Frieden und den Sonnenblumen verschrieben hat, heute wohlwollend ihre Stimme. Immer deutlicher lassen sich im großen und ganzen zwei Wählerlager unterscheiden.

Da sind zum einen die Überzeugungswähler, denen Artenerhalt und Friedensbemühungen wirklich über alles gehen. Vielen von ihnen würde nicht im Traum einfallen, einer der anderen kriegstreiberischen und umweltfeindlichen Parteien die Stimme zu geben. Auf der anderen Seite stehen die Wähler, die mit der generellen Stoßrichtung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zwar übereinstimmen, dem ganzen aber gerne einen grünen Anstrich verpassen würden. Ihnen macht es keine Umstände, eine Partei zu wählen, die für viele andere für höhere Stromkosten und teureres Autofahren steht. Diese Gewissenswähler haben das Gefühl mit der Wahl der Grünen etwas gutes zu tun, weil sie es sich leisten können.

Regieren hat seinen Preis

Die Protestpartei der 1980er hat sich zu einer angepassten, beinahe konformistischen Partei gewandelt. Der Weg dorthin war lang und sicherlich auch steinig. Paradebeispiel für diesen Wandlungsprozess ist Joschka Fischer. Der ehemalige Außenminister und Vizekanzler verkörperte am Ende der Ära Rot-Grün fast nichts mehr von dem, für was er Jahre zuvor noch gestanden hatte. Machte er im Jahr 1984 noch durch seinen berüchtigten Zwischenruf von sich reden, hat er sich auch äußerlich dem Regieren angepasst. Der legere Auftritt mit Turnschuhen war Jackett und Hemd gewichen. Noch heute erlaubt der Aufzug mancheines Grünen Rückschlüsse darauf, ob er den bürgerlich-liberalen Flügel der Partei vertritt oder zum eher linken Flügel gehört.

Als Protestpartei waren die Grünen unbequem und verschrieen. Allgemein wurden sie gemieden. Sie wollten die Gesellschaft von Grund auf verändern, etwas bewegen im Land. Eine reine Protestpartei ist zum Regieren allerdings denkbar ungeeignet. Die Grünen haben das begriffen. Sie haben verstanden, dass man das Land erst dann verändern kann, wenn man bei sich selbst damit anfängt. Sie sind die vielleicht flexibelste Partei, die derzeit im Bundestag sitzt. Wie bereits die SPD mit dem Godesberger Programm von 1959 hat sie eine Metamorphose angestoßen, die zwar Opfer kostete, aber letzten Endes in Regierungsfähigkeit mündete.

Trotzdem wenden sich viele ehemalige Stammwählerinnen und -wähler von den Grünen ab. In ihren Augen ist die Partei zu einem Pappaufsteller geworden, der umkippt, sobald man ihn nur leicht anpustet. Von Beliebigkeit und Machtgier ist die Rede. Winfried Kretschmann beispielsweise wird vorgeworfen, er hätte seine Partei bis zur Unkenntlichkeit an die CDU angenähert, ein Unterschied wäre immer schwerer erkennbar. Nicht nur die Wandlung hin zu einer regierungsfähigen Partei haben die Grünen mit der SPD gemeinsam. Auch der ihnen vorauseilende Ruf, viel zu versprechen, nur um die Regierungssessel einzusitzen, wird ihnen immer mehr zum Hindernis.

Von der Protest- zur Verbotspartei

In aktuellen Umfragen sind die Grünen weiterhin zweitstärkste Kraft hinter der Union. Corona hat ihre Zustimmungswerte zwar etwas gedämpft, deutlich zweistellig sind sie in den Befragungen aber weiterhin. Es gibt also immer mehr Menschen, die den Grünen ihre Stimme geben würden. Bei vielen anderen Wählerinnen und Wählern allerdings wächst der Unmut gegen die Partei ins beinahe unermessliche. Für sie mutiert die grüne Partei immer mehr zum roten Tuch. Sie verstehen sie als Verbotspartei, die daran arbeitet, Deutschland abzuschaffen. Der von den Grünen propagierte linksliberale Lifestyle wirkt abstoßend auf sie.

Und das liegt tatsächlich weniger an den konkreten Zielen der Grünen, sondern eher daran, wie sie die Message transportieren. Ihre Botschaften klingen bevormundend und abgehoben. Lange haben sie den Bezug zu den Menschen verloren, für sie einst in den Parlamenten stritten. Das ist eigentlich wirklich tragisch. Denn viele der sogenannten Protestwähler der AfD wären bei den Grünen wunderbar aufgehoben. Stattdessen malen sie die Partei in den schwärzesten Farben und werfen ihnen vor, Volksverräter zu sein.

Sozialpolitisch stehen die Grünen für eine gestärkte öffentliche Daseinsvorsorge. Sie wenden sich gegen prekäre Beschäftigungen und Ausbeutung in den Betrieben. Kurzum wollen sie, dass es gerecht zugeht und dass jeder die gleichen Rechte hat. Das wollen sicherlich auch viele, die ihr Kreuzchen inzwischen bei den Rechtspopulisten gemacht haben. Aber indem die Grünen jeden, der billiges Fleisch kauft oder gegen Fahrverbote auf die Straße geht, ins Schäm-dick – Eck verweist, bauen sie eher Mauern auf als sie niederzureißen.

Mit ihrer Rhetorik haben sie den Kontakt zur Lebensrealität vieler Menschen verloren, die zwar gerne Mustermenschen sein würden, sich das aufgrund ihrer konkreten Lebensverhältnisse aber nicht leisten können. Es ist sehr einfach, auf Dinge zu verzichten, wenn man die Alternative kennt und nutzen kann. Wer allerdings weniger hat, der schreit völlig zurecht auf, wenn man ihn für das wenige kritisiert. Und deswegen haben die Grünen vor langer Zeit aufgehört, eine Partei für die Bauern zu sein.


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