Maßnahmen für’s Papier

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Auch die neue Ampelregierung vermag es nicht, den Flickenteppich der Coronamaßnahmen durch ein einheitliches und transparentes Regelwerk zu ersetzen. Die geltenden Verordnungen sind teilweise so undurchsichtig, dass sich viele Menschen nicht sicher sind, welche Maßnahmen in ihrer Region gelten. Selbst Behörden und andere Einrichtungen sind mit dem Maßnahmenkatalog überfordert und lassen stringente Kontrollen immer häufiger sausen. Reißt dieser lapidare Umgang mit der Situation ein, wirkt sich das zweifellos negativ auf die Pandemiebekämpfung aus.

Lokal gegen global

Was gilt in meiner Stadt? Mit wie vielen Leuten darf ich mich treffen? Muss ich auch im Freien eine Maske tragen? Gibt es eine Sperrstunde für Ungeimpfte? Was muss ich beim Friseur vorzeigen? Eigentlich wollte die neue Ampelkoalition mit diesen Fragen aufräumen. Zwei der drei Regierungsparteien haben in den vergangenen Monaten in zahllosen Oppositionsreden immer wieder angemahnt, dass eine effektive Pandemiebekämpfung nur mit einheitlichen und transparenten Regeln möglich wäre. Die Menschen müssten Sicherheit darüber haben, welche Maßnahmen in ihrem Umfeld gälten.

Mit 2G in der Gastronomie sorgte die neue Regierung zwar in einem Bereich für Einheitlichkeit, viele andere Bereiche erinnern je nach Region aber weiterhin an einen Flickenteppich. Weil es mit fortschreitender Pandemie immer schwieriger wurde, alle Bundesländer unter einen Hut zu bringen, verkam die Bund-Länder- Runde immer mehr zur zeitraubenden Beschäftigungstherapie. Kaum waren ein paar einheitliche Regelungen beschlossen, da scherten die ersten Bundesländer gleich wieder aus.

Das Mantra vieler Landeschefs: Man müsse der globalen Pandemie lokal begegnen. Bedeutende Maßnahmen wie eine mögliche Maskenpflicht im Freien, eine FFP2-Maskenpflicht in Innenräumen oder die spezifischen Regelungen im Einzelhandel delegierte man daher auf Landes- oder sogar auf Kommunalebene. Diese ortsgebundene Vorgehensweise brachte aber nicht den gewünschten Erfolg. Viele Menschen sind schlicht überfordert mit der Vielzahl an Regelungen, die in einem Stadtkreis gelten oder eben nicht.

Zahnlose Tiger

Mit der Überforderung kommt häufig Resignation. Geht man heute in einem beliebigen Supermarkt einkaufen, erinnert außer den Masken wenig daran, dass weiterhin eine Pandemie ihr Unwesen treibt. Die Menschen gehen vor dem Tiefkühlregal wieder auf Tuchfühlung miteinander, das Abstandsgebot wird in der Eile konsequent ignoriert, die dazugehörigen Klebestreifen im Kassenbereich waren bereits nach der dritten Welle weggewetzt.

Ohne klare Ansage, was wo gilt, schustern sich viele ihre eigenen Regeln, getreu dem alten FDP-Motto: Ich weiß selbst, was gut für mich ist. Da hilft es auch nicht, wenn nun endlich einige sinnvolle flächendeckende Maßnahmen eingeführt wurden. Um die sich erneut zuspitzende Infektionslage wieder in den Griff zu bekommen, führte die neue Regierung noch vor ihrer Vereidigung die flächendeckende 3G-Regelung ein. Viele Bereiche, die zuvor nicht vom Infektionsschutzgesetz abgedeckt waren, unterliegen nun ebenfalls den Corona-Zugangsbeschränkungen.

Beispielsweise darf den öffentlichen Personenverkehr fortan nur noch nutzen, wer entweder geimpft, genesen oder aktuell negativ getestet ist. Diese Maßnahme hat viel zu lange auf sich warten lassen. Angesichts der immer stärker um sich greifenden Pandemiemüdigkeit, verpufft ihr Effekt leider ziemlich offensichtlich. Kontrollen zu 3G finden in den meisten Verkehrsbetrieben kaum statt, das Personal wird an anderen Stellen benötigt. Bei Beschäftigten und Kundschaft scheint die Bereitschaft nicht besonders groß, auf die strikte Einhaltung aller Regeln zu achten.

Grundlos ausgeschlossen

Diese Unlust, sich länger der pandemischen Situation anzupassen, wird auch in anderen Bereichen deutlich. Die Böllerverbote der vergangenen zwei Jahre waren nichts weiter als ein Witz. In jeder noch so kleinen Ortschaft stiegen die Raketen gen Himmel. Erneut wurden viele Tiere an den Rand der Verzweiflung getrieben. Den Menschen wiederum fällt es bei vielen Maßnahmen immer schwerer, den Zusammenhang zwischen Pandemiebekämpfung und persönlichem Verzicht herzustellen. Stattdessen sehen sie, dass sich die Infektionszahlen mit Beginn der kalten Jahreszeit wie einem Naturgesetz folgend erheben, während der Staat die Lage bei aller Bemühung nicht in den Griff bekommt. Das ist bester Nährboden für das Präventionsparadoxon.

Die fehlende Bereitschaft, bestimmte Regeln ernstzunehmen und zu kontrollieren, hat aber noch einen weiteren Grund. Besonders bei den jüngsten Maßnahmen erkennen viele nicht mehr die wissenschaftliche Grundlage der beschlossenen Verordnungen. Grundsätzlich ist die Datenlage seit Beginn der Pandemie mehr als lückenhaft. 2G in der Gastronomie zum Beispiel gilt bundesweit einheitlich, ohne einen Beleg dafür zu erbringen, dass Gaststätten und Restaurants relevante Pandemietreiber sind.

Viele weitere Maßnahmen sind zwischenzeitlich von der Coronainzidenz weitgehend entkoppelt. In manchen Bereichen spielt die regionale Infektionslage kaum noch eine Rolle, bestimmte Personengruppen werden pauschal ausgeschlossen. Es dämmert immer mehr Menschen, dass es bei diesen Bemühungen nicht vorrangig darum geht, andere zu schützen, sondern darum, Ungeimpfte zu gängeln. Der Infektionsschutz ist lediglich Fassade dieser Eingriffe.

Die schwindende Seriosität der Maßnahmen hat zur Folge, dass sie im besten Falle stiefmütterlich behandelt werden. Das fällt bei weniger sinnvollen Maßnahmen nicht so stark auf den Kampf gegen die Pandemie zurück. Weitaus ernster wird die Lage, wenn diese Stimmung der laxen Handhabung auf die wirklich notwendigen Maßnahmen abfärbt. Sind Maßnahmen gegen die Pandemie wissenschaftlich nicht haltbar, bewirken sie oft das Gegenteil dessen, wofür sie augenscheinlich gemacht sind. Sie befördern ein Klima der Sorg- und Achtlosigkeit, obwohl erhöhte Wachsamkeit weiterhin das Gebot der Stunde ist.


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Epidemische Realitätsverweigerung

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Epidemische Realitätsverweigerung

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Mit dem 25. November 2021 endete in Deutschland die Pandemie offiziell. Die epidemische Lage von nationaler Tragweite wurde nicht wieder verlängert. Gleichzeitig geraten immer mehr Krankenhäuser und Intensivstationen ans Limit, mancher denkt laut über Triage nach. Die Infektionszahlen schnellen seit Wochen in die Höhe, eine neue Virusvariante aus Südafrika reißt das Zepter an sich. Die Antworten der Politik auf diese bedrohliche Lage grenzt an Realitätsverweigerung: 2G muss ausgeweitet werden. Die Ungeimpften sind schuld an den katastrophalen Zuständen. Durch falsche Akzente und eine fehlgeleitete Kommunikation erweist sich der Staat in der Krise als immer handlungsunfähiger.

Weihnachtsmarkt in 2G

In Deutschland tobt die vierte Welle der Pandemie und fordert täglich hunderte Menschenleben. Die Intensivstationen laufen voll, das Personal ist am Limit. Die Nachrichtensendungen überschlagen sich mit neuen Rekordinzidenzen und düsteren Prognosen für unser Gesundheitssystem. Lange war die pandemische Lage nicht so bedrohlich wie in diesem Herbst.

Ungeachtet dieser dramatischen Entwicklungen locken die Weihnachtsmärkte vielerorts mit Glühwein, Bratwürsten und gebrannten Mandeln. Auch wenn vereinzelte Städte in diesem Jahr komplett auf das Spektakel verzichten, ließen sich Großstädte wie Frankfurt, Karlsruhe oder Stuttgart lange Zeit nicht beirren. Um dem ganzen einen Hauch von Sicherheit beizufügen, gibt es auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt einen exklusiven 2G-Bereich. In dieser Schutzzone können sich Geimpfte und Genesene so richtig austoben, bevor sie sich wieder unter den ungeimpften Pöbel begeben und die gerade aufgeschnappten Viren unkontrolliert an ihre Mitmenschen abgeben.

Auch die feierliche Eröffnung der fünften Jahreszeit wollten sich viele Karnevalsliebhaber nicht noch einmal nehmen lassen. Standesgemäß läuteten sie am 11. November um 11:11 Uhr die Narrenzeit ein – Schunkeln, Küsschen und Alkohol inklusive. Auch diese Sause stieg unter 2G-Bedingungen. Dem Virus war das herzlich egal.

Anonyme Infizierte

Und wie reagiert die Politik auf die sich zuspitzende Infektionslage? Obwohl die Inzidenzen bereits im Sommer wieder nach oben tendierten, schaffte die Regierung pünktlich zum Beginn der kalten Jahreszeit die kostenlosen Schnelltests ab. Die Begründung ist so fadenscheinig wie dünn: Weil fast allen Menschen im Land ein Impfangebot gemacht werden kann, sind flächendeckende Testmöglichkeiten nicht mehr nötig.

Dabei ist ein breites Testangebot gerade bei hoher Impfquote besonders wichtig. Bleiben schwere Verläufe oder sogar Symptome aufgrund der Impfung aus, können Infektionen fast ausschließlich von Tests aufgedeckt werden. Wer sich nicht impfen lassen kann oder will, ist ansonsten unnötig schwer gefährdet.

Das Ende der Pandemie

Im Bund schwelte aber über Wochen noch eine weitere brisante Diskussion. Schon in der zurückliegenden Legislaturperiode mehrten sich die Stimmen, die ein Ende der epidemischen Notlage herbeisehnten. Diese Strömungen haben sich nun durchgesetzt. Die noch nicht vereidigte Ampelkoalition nutzte ihre Mehrheit im Parlament, um die epidemische Notlage von nationaler Tragweite Ende November auslaufen zu lassen. Der zukünftigen Regierung war dieses Anliegen wohl besonders wichtig. Immerhin ist die alte Regierung der GroKo noch geschäftsführend im Amt. Die Union hat dem Ende der Notlage bezeichnenderweise widersprochen.

Diese weitreichende Entscheidung kam zum völlig falschen Zeitpunkt. Seit Monaten steigen die Inzidenzen und unterschieden sich zeitweise nicht all zu sehr von den Werten ein Jahr zuvor. Zwischenzeitlich toppen die Infektionszahlen aber sogar den bisherigen Höchststand in der dritten Welle. Es leuchtet nicht ein, warum der Bundestag gerade in dieser kritischen Phase diesen Weg einschlägt.

Indirekt haben die Abgeordneten bestätigt, dass die Lage weiterhin bedrohlich ist. Die Länder behalten weitreichende Kompetenzen zur Eindämmung der Pandemie. Auch das Infektionsschutzgesetz hat die neue Mehrheit geändert. Ein solcher Eingriff in die Grundrechte bei gleichzeitiger Beendigung einer akuten Notlage ist eines Rechtsstaats unwürdig. Keine andere Regierung der Bundesrepublik hat sich so schnell dermaßen undemokratisch verhalten – und das noch vor der offiziellen Zusammensetzung.

Staatsoberhaupt auf Irrwegen

In ihrem Handeln ist die neue Regierung auch ausgesprochen unehrlich. Sie verweist auf die hohe Impfquote, die viele Maßnahmen angeblich nicht mehr nötig mache. Abgesehen davon, dass erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben bestehen, wird die Wirkdauer der neuen Impfstoffe von vielen seriösen Wissenschaftlern mittlerweile in Frage gestellt. Bei einigen Präparaten scheint bewiesen zu sein, dass die Schutzwirkung bereits nach wenigen Monaten rapide abnimmt. In dieser Situation von einem Ende der epidemischen Notlage zu sprechen, grenzt an fahrlässige Körperverletzung.

In einer Fernsehansprache wandte sich der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 15. November direkt an die Bevölkerung. Er rief die bisher Ungeimpften eindringlich dazu auf, sich schnellstmöglich impfen zu lassen, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Er stellte ihnen die Frage, was denn noch passieren müsste, damit sie ihre Entscheidung endlich überdenken würden. Das Staatsoberhaupt schob mit dieser Frage ungeniert den Ungeimpften allein die Schuld an den bedrohlichen Verhältnissen zu.

Eingebildet gesund

Steinmeiers Appell kann 1:1 auf die regierende Politik umgemünzt werden. Was muss denn noch passieren, damit die Damen und Herren Politiker endlich begreifen, dass ihre derzeitige Coronapolitik die Lage eher verschärft als beruhigt? Der generelle Ausschluss von Ungeimpften aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens führt dazu, dass sich diese Menschen in den privaten Bereich zurückziehen. Das Virus kann sich dort viel leichter ausbreiten, was besonders im Herbst und Winter fatal ist.

Die 2G-Regelung schafft außerdem eine trügerische Scheinsicherheit. Der Wegfall der Testplicht für Geimpfte und Genesene suggeriert, dass von ihnen keine Infektionsgefahr mehr ausgeht. Obwohl viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieser These mittlerweile widersprechen, hält die Politik stur an dieser kontraproduktiven Maßnahme fest. Sie sucht die Schuld für die steigenden Fallzahlen lieber bei den Nicht-Geimpften, obwohl deren Zahl aufgrund der weiter steigenden Impfquote rückläufig ist.

Der Frust der Geimpften

Auch bei einem weiteren Phänomen machen sich die Politikerinnen und Politiker, aber auch Teile der Wissenschaft inzwischen vollkommen lächerlich. Die steigende Zahl an Impfdurchbrüchen begründen sie ausschließlich damit, dass immer mehr Menschen geimpft sind. Beharrlich weigern sie sich einzusehen, dass auch die abnehmende Schutzwirkung der Impfung zur steigenden Zahl an Durchbrüchen beiträgt. Stattdessen konstruieren sie lieber hanebüchene Zusammenhänge zwischen der Zahl an Ungeimpften und den steigenden Inzidenzen.

Es liegt längst auf der Hand, dass die Minderheit der Ungeimpften bei der sich zuspitzenden Lage nur eine untergeordnete Rolle spielt. Mit ihrer Kampagne gegen die Ungeimpften hat die Politik alle anderen quasi zur Unvorsicht aufgerufen. Die meisten sind diesem unverantwortlichen Aufruf zum Glück nicht gefolgt. Es wird aber ein hartes Stück Arbeit werden, auch diese Menschen davon zu überzeugen, dass auch sie von den harten Maßnahmen des nahenden Winters nicht ausgenommen sein werden.

Die Regierung ist vor der Herausforderung eingeknickt, viele sinnvolle Maßnahmen auch für Geimpfte und Genesene aufrechtzuerhalten. Zu groß war die Angst, der hohen Impfmotivation dadurch einen Dämpfer zu verpassen.  Das zeugt von fehlendem Vertrauen auf beiden Seiten. Der künftigen Ampelregierung wird es aber viel schwerer fallen, auch bei Geimpften und Genesenen zu teils harten Einschränkungen zurückzukehren. Die voreilige Entlassung dieser Bevölkerungsgruppe aus dem Kampf gegen die Pandemie wird sich in den kommenden Monaten bitter rächen.


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Schuldfrage

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Der Weltärztebund-Chef Montgomery spricht von einer „Tyrannei der Ungeimpften“, Bundespräsident Steinmeier macht die Ungeimpften indirekt für die Lage auf den Intensivstationen verantwortlich und die Medien berichten vorrangig über die Einschränkungen für Ungeimpfte. Wenn eine Personengruppe derzeit überrepräsentiert ist, dann sind es die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich beharrlich einer Impfung gegen das Coronavirus verweigern. Mit der unfreiwilligen Aufmerksamkeit kommen allerdings auch die Wut und der Frust. Durch ständiges Wiederholen wird eine Lüge nicht automatisch zur Wahrheit, aber sie wird geglaubt. Dabei ist längst offensichtlich, dass die Ungeimpften allein nicht für die aktuelle Lage verantwortlich sind.

Die Infektionszahlen in Deutschland sind auf einem Rekordhoch. Noch nie haben sich so viele Menschen innerhalb von 24 Stunden mit SARS-Cov-2 infiziert wie diesen Herbst. Die aktuellen Zahlen übersteigen sogar die Werte vom letzten Winter und Frühjahr bei weitem. Immer lauter wird die Frage nach den Gründen dafür. Und immer stärker geraten dabei die Ungeimpften in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit.

Bequemer Sündenbock

Die derzeitige Situation hat sich lange abgezeichnet. Trotz hoher Impfbereitschaft und steigender Impfquote lagen schon vergangenen Sommer die Infektionszahlen nicht bedeutend unterhalb der Werte aus dem Vorjahr. Im Vergleich zu den erfassten Neuinfektionen im ersten Quartal 2021 hatte sich die Infektionslage zum Sommer hin zwar spürbar beruhigt, Entwarnung konnte aber zu keinem Zeitpunkt gegeben werden. Die Impfquote mag seit Sommer kontinuierlich gestiegen sein – die Infektionszahlen folgten allerdings einem ähnlichen Trend, wenn auch zeitlich verzögert.

Schon im letzten Sommer hatte sich die Legende durchgesetzt, die Ungeimpften seien dafür verantwortlich, dass in vielen Bereichen des Lebens weiterhin Einschränkungen gelten. Die fehlende Impfmotivation von zu vielen sei der Grund dafür, dass an Schulen, in Restaurants und im Kino weiterhin die Maskenpflicht bestehe. Zwischenzeitlich ist die Impfquote auf wahrscheinlich über 80 Prozent gestiegen. Der Sündenbock „Ungeimpfter“ hat trotzdem nichts von seiner Popularität eingebüßt.

Immer aggressiver versuchen Politik, Medien, aber auch Teile der Wissenschaft, die Minderheit der Ungeimpften für die erschreckend hohen Infektionszahlen und die katastrophale Lage auf deutschen Intensivstationen verantwortlich zu machen. Es leuchtet allerdings nicht ein, wie die knapp 20 Prozent der Nicht-Geimpften für mehr als 60.000 Infizierte und völlig überlastete Kliniken verantwortlich sein sollen. In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens gilt seit Monaten die 2G-Regel. Wer nicht gegen Covid-19 immunisiert ist, hat folglich keinen Zutritt zu teilnehmenden Restaurants, Kneipen und Theatern. Die Infektion an diesen Orten bleibt aus – zumindest für die Ungeimpften.

Kein Ende in Sicht?

Insgesamt wird der Einfluss der Ungeimpften auf das Infektionsgeschehen dramatisch überbewertet. Es steht außer Frage, dass von Ungeimpften ein höheres Infektionsrisiko ausgeht als von Geimpften. Wer doppelt geimpft ist, erkrankt seltener an Covid-19. Schwere Verläufe mit Impfung sind weiterhin äußerst selten. Auch die Weitergabe des Virus wird durch eine Impfung unwahrscheinlicher. Trotzdem gibt es Faktoren, die im Infektionsgeschehen weitaus schwerer zu Buche schlagen als der noch überschaubare Kreis der Ungeimpften.

Zum einen haben wir es mittlerweile mit einer aggressiveren und infektiöseren Virusvariante zu tun als noch vor einem Jahr. Auf die Deltavariante waren die Impfstoffhersteller bei der Entwicklung ihrer Präparate nur unzureichend vorbereitet. Vermutlich ist diese dominante Virusmutation auch für die steigende Zahl an Impfdurchbrüchen verantwortlich. Ungeimpfte haben durch sie ein noch höheres Risiko, an Covid-19 zu erkranken.

Die Deltavariante des Coronavirus hat die Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Pandemie zunichtegemacht. Die steigende Impfquote konnte dagegen kaum etwas ausrichten. Die zugelassenen Impfstoffe versprachen immerhin zu keinem Zeitpunkt eine sterile Immunisierung. Geimpfte Personen konnten sich weiterhin mit dem Virus infizieren und erkranken. Offensichtlich lässt der Impfschutz auch schneller nach als zunächst erwartet. Bereits nach wenigen Monaten steigt das Risiko einer Erkrankung deutlich an. Folglich müsste die Frequenz der Impfung erhöht werden, um den Schutz aufrechtzuerhalten. Dies steht allerdings unter finanziellem und medizinischem Vorbehalt.

Unterschätztes Risiko

Wer heute doppelt geimpft ist, der ist von den meisten Einschränkungen ausgenommen. Zugangsbeschränkungen und horrende Kosten für Tests treffen fast ausschließlich die Ungeimpften. Bei den Geimpften entsteht so schnell ein trügerisches Gefühl der absoluten Sicherheit. Es häufen sich allmählich die Berichte über Superspreader-Events, die unter 2G-Bedingungen stattfanden. Immer mehr seriöse Studien weisen darauf hin, dass Geimpfte im Falle einer Infektion fast genau so ansteckend sind wie Ungeimpfte. Ungefähr ein Fünftel der Corona-Intensivpatienten sind doppelt geimpft.

Trotzdem hält die Politik an ihrer Strategie fest, ausschließlich den Ungeimpften harte Einschränkungen aufzuerlegen. Diese notorische Fokussierung auf vermeintliche Querdenker und Spinner suggeriert allen anderen, aus dem Kampf gegen die Pandemie entlassen zu sein. Zu viele nehmen dieses Angebot gerne an. Es kommt zu Leichtsinnigkeit und einem laxen Umgang mit Maßnahmen wie Abstandhalten und Maskenpflicht.

Fataler Fehler

Der mit Abstand größte Infektionstreiber war aber die Abschaffung kostenloser Testmöglichkeiten. Diese sinnvolle Maßnahme, schnell Infektionsketten zu durchbrechen, wurde dem Ziel geopfert, möglichst viele Menschen durch Einschränkung ihrer Bequemlichkeit zum Impfen zu bewegen. Ohne Übertreibung handelte es sich dabei um die fatalste politische Entscheidung seit Jahrzehnten.

Die Folgen sind bereits nach einigen Wochen spürbar. Die Zahlen schnellen nicht nur wegen sinkender Temperaturen in die Höhe, sondern weil alle, Geimpfte wie Ungeimpfte, das Virus völlig unkontrolliert weitergeben. Besonders bei Menschen mit doppelter Impfung rächt sich das nun bitter. Im Falle einer Infektion schöpfen sie aufgrund ausbleibender Symptome keinen Verdacht. Das Virus hat es so spielend einfach.

Ansteckung im Verborgenen

Die Ungeimpften hingegen gehen zwar nicht mehr ins Restaurant, dafür aber weiterhin zur Arbeit. Die besonders umsichtigen unter ihnen müssten für regelmäßige Tests vor Dienstbeginn ein kleines Vermögen ansparen. Die Androhung, dass Ungeimpften im Quarantänefall der Lohn gestrichen wird, kann ebenfalls als Punkt für das Virus gezählt werden.

Solche Regelungen verlagern das Infektionsgeschehen fast ausschließlich auf den privaten Raum. Anders als im öffentlichen Bereich sind hier keine kostenpflichtigen Tests vorgeschrieben, um sich zu treffen. Auf diese Weise kann sich die Pandemie ungehindert ausbreiten. Wieder einmal zeigte sich die Politik ausgesprochen lernresistent. Schon in der dritten Welle verbannte sie das Infektionsgeschehen durch Ausgangssperren ins Verborgene.

Die Wiedereinführung kostenfreier Test war ein Schritt in die richtige Richtung. Für viele Bundesländer kam er aber zu spät. In Baden-Württemberg gilt seit Mittwoch die Alarmstufe. Schnelltests sind kaum noch etwas wert. Es ist an der Zeit im Kampf gegen die Pandemie umzusteuern. Corona ist und bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe. Keine Gruppe trägt pauschal mehr Verantwortung an der Lage als andere. Solidarität bedeutet Zusammenhalt. Die derzeitige Kampagne gegen das Virus setzt aber auf Spaltung, Moral und Privilegierung. Neid und Hass sind schlechte Wegweiser in der Krise. Wir müssen auf einen gemeinsamen Pfad zurückfinden, auf dem sich jeder seiner Verantwortung stellt.


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