Prävention statt Abschreckung

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Der Mord an der 12-jährgen Luise erschüttert Deutschland. Viele sind entsetzt darüber, zu welchen Untaten selbst Kinder in der Lage sind. Kontrovers diskutiert wird seitdem eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters. Die Befürworter möchten verhindern, dass solch schwere Straftaten künftig ungesühnt bleiben, weil die Täter zu jung sind. Viel zu wenige fragen sich währenddessen, wie es zu der Tat kommen konnte und ob es nicht andere Mittel als das Strafrecht gibt, sie in Zukunft zu verhindern.

Eine unfassbare Tat

Am 18. März wurde die 12-jährige Luise von zwei Schulkameradinnen getötet. Sie haben Luise zunächst mit einer Plastiktüte fast erstickt und dann mehrfach mit einem Messer auf sie eingestochen. Beide Täterinnen waren jünger als 14 und können deshalb nicht strafrechtlich belangt werden.

Zum Entsetzen über diese grausame Tat und der Trauer um Luise mischte sich bald die Wut darüber, dass keine der beiden Täterinnen jemals wegen des Mords an Luise vor Gericht stehen wird. Stattdessen werden die beiden Mädchen von der Öffentlichkeit abgeschirmt, ihre Familien haben Freudenberg bereits verlassen.

Keine neue Debatte

Keine der beiden Täterinnen wird jemals ein normales Leben führen, geschweige denn ihre Angehörigen. Auch wenn sie mit neuen Identitäten ausgestattet werden, sind sie vor unangenehmen Fragen nicht gefeit. Sie werden fortan in der Angst leben, enttarnt zu werden.

Vielen selbsternannten Rechtsexperten reicht das nicht. Der Ruf nach einer Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters wird nach der unfassbaren Tat in Freudenberg immer lauter. Nicht vieles ist währenddessen über die Tat bekannt. Die Ermittlungsbehörden halten sich bedeckt und verweisen auf den Jugendschutz, der auch für die beiden Täterinnen gilt. Solche Erklärungen heizen die Stimmung weiter auf. Die Debatte um das Eintrittsalter in die Strafmündigkeit ist so intuitiv und vehement, dass sie einfach falsch sein muss.

Zu viel Täter, zu wenig Opfer

Geraten schwere Straftaten in den Blick der Öffentlichkeit, darf eines nicht fehlen: Zuhauf echauffieren sich die Menschen darüber, dass viel zu viel über die Täter, aber fast gar nicht über die Opfer gesprochen wird. Die hitzige Debatte um das Alter der Strafmündigkeit tut aber genau das. Strafe ist für die Täter da, für die 12-jährige Luise ist dabei kein Platz. Die Tat rückt in den Hintergrund. Es geht um Vergeltung und nicht um Prävention.

Die einzige Prävention, von der die Befürworter eines gesenkten Strafmündigkeitsalters sprechen, ist die Abschreckung. Das Strafgesetz soll fortan auch Jugendliche, die jünger als 14 Jahre sind, von der Begehung von Straftaten abhalten. Diese Forderung ist plump populistisch und bricht mit mehreren Grundsätzen in der deutschen Rechtsgeschichte.

Erziehung statt Abschreckung

Abschreckung hat im Jugendstrafrecht nichts zu suchen. Stattdessen setzt es auf die Erziehung straffälliger Jugendlicher und will ihnen einen Weg ebnen in ein künftig straffreies Leben. Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht billigen es die Jugendgerichte den Angeklagten zu, dass sie sich in einer Phase der Entwicklung und Selbstorientierung befinden. Die Rechtswissenschaft hat früh erkannt, dass ein zu massives strafrechtliches Einwirken verheerende Folgen für die Entwicklung oftmals labiler jugendlicher Straftäter haben könnte.

Auch Gefängnisstrafen haben im deutschen Rechtssystem stets die Aufgabe, die Täter zu resozialisieren, sie also wieder in ein gesellschaftliches Leben ohne Straftaten zu integrieren. Resozialisierung kann aber nur gelingen, wenn zuvor eine Sozialisierung stattgefunden hat. Man kann davon ausgehen, dass ebendieser Prozess bei jugendlichen Straftätern noch nicht abgeschlossen ist und andere Mittel geboten sind, ihnen ein straffreies Leben zu ermöglichen. Wer eine Herabsetzung des Eintrittsalters in die Strafmündigkeit fordert, muss sich darüber im Klaren sein, dass er unter Umständen Zwölfjährige mit Zwanzigjährigen gleichsetzt.

Eine rechtsstaatliche Lösung?

Die gesamte Debatte ist entfacht worden durch eine entsetzliche Straftat, die ein Menschenleben ausgelöscht hat. Es ist verständlich, dass diese Tat Wut und Entsetzen auslöst. Wer sich nun für eine Verurteilung von Kindern starkmacht, sollte sich dennoch fragen, ob Jahrzehnte erfolgreicher Rechtsprechung durch eine Bauchentscheidung ad acta gelegt werden sollte.

Manche fordern daher lediglich, dass unter 14-Jährige nur für schwerste Straftaten wie Mord und Totschlag juristisch belangt werden können. Die partielle Zersetzung des Jugendstrafrechts ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten äußerst bedenklich. Diese Herangehensweise suggeriert, dass Kinder und Jugendliche reihenweise Tötungsdelikte begehen, die Zahl von leichteren Straftaten wie Diebstählen aber vernachlässigt werden könnte.

Und was geschieht bei Tötungsdelikten, die nicht Mord oder Totschlag sind? Der Effekt einer fahrlässigen Tötung oder einer Körperverletzung mit Todesfolge ist derselbe. Die Hinterbliebenen der Opfer werden auch bei solchen Straftaten auf eine strafrechtliche Verfolgung drängen, wenn die Täter unter 14 sind. Diese Tür bekommt man nie wieder zu, wenn man sie nur einen Spaltbreit öffnet.

Keine Extreme als Maßstab

Die Tötung eines Menschen ist eine der grausamsten Dinge, zu denen wir fähig sind. Es ist richtig, dass solche Taten Entsetzen auslösen. Es ist Ausdruck eines gesunden Rechtsempfindens, wenn wir dafür härtere Strafen erwarten als für Schmuggel oder Einbruch. Und es ist selbstverständlich ein großes Problem, wenn strafunmündige Jugendliche sich zusammentun und eine Mitschülerin umbringen. Solche Taten sind aber die absolute Ausnahme, egal was manche Petitionen oder Teile der Medien verbreiten.

Belastbare Daten zur Häufigkeit solcher Taten gibt es nicht. Sie existieren nicht, weil sie zum Glück nicht notwendig sind. Schaut man sich den Hergang der Tat von Freudenberg an, wird umso deutlicher, dass es sich um eine besonders ungewöhnliche Tat handelt. Nachdem die beiden Täterinnen Luise mit einer Plastiktüte fast erstickt hatten, stachen sie insgesamt 75-mal auf ihr Opfer ein. Sowohl bei Erwachsenen, und erst recht bei Jugendlichen, sprengt dieses Verbrechen den Rahmen des juristisch „üblichen“. Diesen extremen Fall als Blaupause für die künftige Rechtsprechung zu verwenden, kann nicht der richtige Weg sein.

Gesellschaftliche Entfremdung

Es ist offensichtlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Das Strafrecht ist allerdings nicht die richtige Antwort auf den Mordfall Luise. Es war eben nicht die Abwesenheit einer Strafandrohung, welche die Tat ermöglicht hat. Wenn es das Ziel ist, auch unter 14-Jährige für strafmündig zu erklären, dann normalisiert dies solche Taten wie in Freudenberg ein Stück weit. Man nimmt solche gewaltvollen Zwischenfälle als gegeben hin, mit der unsere Gesellschaft zu leben hat. Man darf sich aber niemals damit abfinden, wenn selbst Kinder sich gegenseitig umbringen.

Die Frage muss stattdessen lauten, wie es zu dem Mord kommen konnte. Was ist in unserer Gesellschaft schiefgelaufen, wenn so junge Menschen ihre Konflikte auf derart brutale Weise angehen? Es ist viel zu verkürzt, bei der Antwort auf diese Frage nur die Jugendlichen in den Blick zu nehmen. Ähnliche Gewaltexzesse kennen wir leider inzwischen aus den Medien zuhauf. Es gibt Familienväter, die durchdrehen und Frau und Kinder erstechen. Wir wissen von Fanatikern, die Andersdenkende in aller Öffentlichkeit hinrichten. Man rechnet fast damit, dass in den Nachrichten von Autos berichtet wird, die in Menschenmengen rasen.

Die Gewalt ist überall, auch unter Kindern und Jugendlichen. Frust und Wut manifestieren sich immer wieder in solchen Taten, weil Alarmsignale nicht gesehen werden. Wir haben verlernt, aufeinander Acht zu geben und uns gegenseitig zuzuhören. Der Schlüssel zur Überwindung solcher Zustände sind nicht drakonische Strafandrohungen für Kinder, sondern Prävention und Empathie. Nur wenn sich die Gesellschaft wieder aufeinander zubewegt, müssen wir solch schrecklichen Taten künftig nicht mehr als „normal“ hinnehmen.

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