Die Leiden des jungen Leiharbeiters

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Als Leiharbeiter ist man Arbeitnehmer zweiter Klasse. Das habe ich am eigenen Leib erfahren. Ständige Verfügbarkeit, eine schwierige Kommunikation und die Aussicht auf baldiges Ausscheiden – zermürbende Erfahrungen, die ein jeder Leiharbeiter macht. Warum ich als solcher vergleichsweise gut dastand, gibt es hier zu lesen.

Jeder kennt es: Nach dem zehnten Durchlaufen des Supermarkts gibt man entnervt auf. Weiß doch ich nicht, wo die den laktosefreien Reis auf Sojabasis jetzt schon wieder hingeräumt haben. Man tut, was jeder tun würde. Dort vorne kniet ein junger Mann vor dem Regal und räumt fleißig das Toilettenpapier ein. Vierlagiges wird dabei von dreilagigem natürlich streng getrennt! Auf den extraordinären Reis angesprochen, druckst der Mitarbeiter zunächst hilflos herum – und lässt dann die Hosen runter. Eigentlich arbeitet er gar nicht für diesen Supermarkt, sondern lediglich in diesem Supermarkt. Er ist von einer Fremdfirma. Der Markt hat sich seine Arbeitskraft nur geliehen.

Leiharbeit – ein Erfolgsrezept?

Man hat das Gefühl, eine solche Praxis ist im Einzelhandel längst zur Regel geworden. Nicht nur die Regalbefüller, sondern längst auch das Kassen- und das Reinigungspersonal arbeiten selten für das Unternehmen, von dem sie so augenscheinlich beschäftigt werden. Oftmals sind diese Leiharbeiter nicht schwer zu erkennen. Viele von ihnen tragen andere Arbeitskleidung als die fest im Markt angestellten Mitarbeiter. Auf ihren Kitteln prangt der Name der Leiharbeitsfirma, für welche sie unfreiwillig Reklame tragen müssen. Der Kunde soll eben von Anfang an wissen, dass dieser Mensch bei der Suche nach der richtigen Konfitüre nicht weiterhelfen kann, wenn er/sie gerade liebevoll die Nudeln einsortiert.

Aber warum überhaupt auf Leiharbeit zurückgreifen? Ursprünglich war die Idee, kurzfristige Auftragsspitzen abzufangen. Im Einzelhandel machte das vor allem während des Weihnachtsgeschäfts Sinn. Auch in der Produktion hat Leiharbeit längst Einzug gehalten. Um die Stammbelegschaft zu entlasten und die Auftragslage trotzdem nicht zu riskieren, wurden auch hier vermehrt Leiharbeiter eingesetzt. Selbst schwer vermittelbare Arbeitslose, wie sie sich im Fachjargon schimpfen, konnten so in Arbeit gebracht werden, zumindest übergangsweise.

Wenig Lohn für gute Arbeit

Klingt doch alles tutti, könnte man meinen. Doch alles hat bekanntlich einen Haken, und der von Leiharbeit ist besonders scharfkantig. So hat sich unter Arbeitgebern sehr schnell herumgesprochen, dass Leiharbeiter die günstigere Alternative zu herkömmlichen Mitarbeitern sind. In aller Regel verdient ein Leiharbeiter nur knapp mehr als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Und der liegt aktuell bei 9,19 Euro. Im Einzelhandel bedeutet das schnell eine Lohndifferenz von 4 Euro pro Stunde.

Kein Wunder also, dass manch ein Arbeitgeber lieber Leiharbeiter in seinem Unternehmen beschäftigt sieht. Gestört daran haben sich vor allem linke Sozialdemokraten (und alle, die sich für solche hielten). Stolz verkündete die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles das reformierte Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Dass dieses allenfalls als weiterer Sargnagel für die Sozen-Partei taugt, dazu später mehr.

Bei Anruf Arbeit

Doch was bedeutet es eigentlich, Leiharbeiter zu sein? Ich selbst habe lange Zeit über eine solche Firma für eine namhafte Warenhauskette gearbeitet. Was mir sogleich ins Auge fiel: Es sind alle Altersklassen und Geschlechter vertreten, Studenten und Menschen jenseits der 50 allerdings verstärkt. Im Prinzip hat sich hier ein regelrechter Parallelarbeitsmarkt aufgetan. Die Anforderungen sind dabei noch höher als sie inzwischen auch auf dem regulären Arbeitsmarkt sind. Man muss praktisch ständig verfügbar sein. Jederzeit kann der Anruf kommen mit der dringenden Bitte, für einen Kollegen einzuspringen. Regelmäßig verdrehte ich die Augen, wenn an meinem eigentlich freien Vormittag der Name meiner Chefin auf dem Handydisplay erschien.

Schuld daran war eine völlige Inkompetenz im Bereich der Personalplanung. In kontinuierlicher Beharrlichkeit wurde der Einsatzplan nur eine Woche im Voraus angefertigt. Nicht selten kam es vor, dass der Plan erst am Samstag eintrudelte und den Terminkalender völlig durcheinanderwirbelte. Als Arbeitnehmer hatte man sich aber natürlich stets an die Fristen für Freizeitwünsche zu halten. Ob persönlich mitgeteilt, telefonisch vereinbart oder per Mail schriftlich darauf hingewiesen – die Verfügbarkeiten wurden oftmals übergangen.

Vieles davon trug ich mit Würde, manches ließ mich schier verzweifeln. Doch ich war privilegiert. Ich konnte jederzeit kündigen. Der nächste Supermarkt hätte mich womöglich mit Kusshand genommen. Andere hatten diesen Luxus nicht. Deshalb machten sie brav Männchen, wenn mal wieder das Telefon klingelte.

Meine Chefin? Ein Phantom.

Kollidiert der Einsatzplan mit wichtigen Terminen oder gibt es Probleme mit der Urlaubsplanung, so ist Abhilfe nicht weit: Steckt er nicht gerade mitten in einer wichtigen Telefonkonferenz, so hat der Chef mit Sicherheit ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte seiner Belegschaft. In einem größeren Unternehmen kann das gerne auch ein Personalverantwortlicher sein. Klopf, klopf. Bla, bla. Problem hoffentlich gelöst.

Bei Leiharbeitern ist das nicht so einfach. Sie sind eben nur geliehen. Der Geschäftsleiter einer Supermarktfiliale hat nur sehr begrenzten Einfluss auf das Wohlbefinden der Leiharbeiterschaft. Sie müssen umständlich Kontakt zu den Personalvermittlern ihrer Firma aufnehmen. Teilweise ist das kaum schaffbar. Ständig wechselndes Personal erschweren diese Aufgabe ebenso wie eine generell schlechte Erreichbarkeit. Mails werden teilweise nicht beantwortet, Anrufe konsequent ignoriert. Meine direkte Vorgesetzte habe ich während meiner Tätigkeit kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.

Die Sache mit den neun Monaten

Das gute an Brücken ist, dass sie Menschen voranbringen. Das schlechte an ihnen ist, dass man auf ihnen auch zurücklaufen kann. Genau so verhält es sich mit dem System Leiharbeit. Früher pries man es an als die goldene Brücke in den Arbeitsmarkt. Wer sich als Leiharbeiter anstrengte, schaffte es bestimmt in die Mitte der Stammbelegschaft. Diese dreiste Lüge wurde von der Realität längst widerlegt.

Andrea Nahles war sich 2017 sicher: Das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz würde eine ungeheure Verbesserung für Leiharbeiter mit sich bringen. Liebe Frau Nahles, bitte lassen Sie es mich so sagen: Regen, der tiefer fällt, bleibt trotzdem nass. Eingeführt wurde unter anderem der sogenannte Equal-Pay – Anspruch. Leiharbeitern steht demnach nach neun Monaten der gleiche Lohn zu, wie ihn die Stammbelegschaft erhält. Hurra, möchte man da instinktiv aufschreien. Doch der Satz geht noch weiter: Pausiert der Leiharbeiter für mehr als drei Monate, so kann er zu den anfänglichen Konditionen erneut entliehen werden, wiederum für neun Monate.

In vielen Betrieben und Unternehmen kommt es dadurch beinahe zwangsläufig zu einem Drehtüreffekt. Leiharbeiter werden nach einem Dreivierteljahr durch neue ersetzt. Die alten können nach drei Monaten (und einem Tag!) gerne wieder eingestellt werden. Gesetzt den Fall, dass sie in diesen paar Wochen nicht die Stelle für’s Leben entdeckt haben. Selten so gelacht.

Anstatt einen Anspruch auf Equal Pay durchzusetzen, der diesen Namen verdient, machte man die ohnehin schwierige Situation von Leiharbeitern noch prekärer. Arbeiteten Leiharbeiter bisher unbefristet zu miesen Konditionen, müssen sie dieses Trauerspiel künftig nur noch neun Monate ertragen. Und dann…egal.

Zwei Belegschaften

Was viele dabei aus dem Blick lassen: Nicht nur Leiharbeiter haben bei einem solchen Vorgehen das Nachsehen. Seit Jahren ist die Leiharbeit auch ein probates Mittel, um die Stammbelegschaft zu disziplinieren. Ständig hat man vor Augen, dass der eigene Job auch von einem Leiharbeiter gemacht werden kann, für weniger Geld. Viele überlegen es sich bei einem solchen Damoklesschwert dreimal, ob sie für mehr Lohn eintreten. Da gibt man sich doch lieber mit etwas weniger zufrieden.

Die Leiharbeit manipuliert also ganz erheblich das Lohngefüge. Sie hemmt die Lohnentwicklung und hält die Lohnkosten im Keller. Ständig einen Leiharbeiter neben sich zu wissen, erhöht außerdem die objektive Leistungsbereitschaft von Arbeitnehmern. Viel eher ist man unter solchen Bedingungen zu Überstunden und sonstigen Tätigkeiten bereit. Viele gehen krank zur Arbeit. Ein gutes Betriebsklima ist so nur selten möglich. Hier werden zwei Belegschaften gegeneinander ausgespielt.

Das geht sogar so weit, dass der legitime Arbeitskampf unterlaufen wird. Kommt es zum Streik, erledigt ein Leiharbeiter die Aufgaben des streikenden. Leiharbeiter dürfen nämlich nicht streiken. Sie dürfen allerdings auch nicht zu Streikbrechertätigkeiten verpflichtet werden. Ein höherer Lohn und eine harmlos scheinende Unterschrift macht vielen Leiharbeitern das „freiwillige“ Weiterarbeiten allerdings schmackhaft. Die meisten von ihnen kennen ihre Rechte in einem solchen Fall überhaupt nicht. Der höhere Lohn macht für sie aufgrund des Streikfalls zwar durchaus Sinn. Dass sie aber mit rechtlich dubiosen Methoden vor den Karren gespannt werden, um einen unliebsamen Streik abzufedern, ist den meisten nicht bewusst.


Ich bin schon lange kein Leiharbeiter mehr. Ich wurde tatsächlich übernommen. Warum? Weil ich jung bin. Und dynamisch. Ich kann viele verschiedene Tätigkeiten ausführen, ohne jedes Mal an meine Bandscheibe denken zu müssen. Viele andere können das nicht von sich behaupten. Sie sind auf dem Arbeitsmarkt weniger wert. Und wenn sie dank Leiharbeit trotzdem einmal die Brücke in den Arbeitsmarkt beschreiten, sind sie dennoch Arbeiter zweiter Klasse. Aber zum Glück nur für neun Monate…

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