Fortschritt hui, Veränderung pfui

Lesedauer: 8 Minuten

Gestern hat die Regierung zu wenig getan, heute macht sie zu viel. Der Protest auf deutschen Straßen könnte unterschiedlicher nicht sein. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise fürchtete man sich vor einer drohenden Islamisierung Deutschlands. Die Regierung wehre die Flüchtlinge nicht ab, sondern hole sie sogar ins Land. Fünf Jahre später ist es genau andersrum: Die Maßnahmen der Bundesregierung sind übertrieben, die Bedrohung durch das Virus mit einer Grippewelle vergleichbar. Die Akteure sind beide Male jedoch die gleichen. Und beide Male bedeuten die Herausforderungen enorme Veränderungen. Und wer steht schon darauf?

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.

Albert Einstein zugeschrieben
Merkel muss weg

Deutschland im Herbst 2015: Karl W. geht auf eine Demo. Er hat Angst um das Leben wie er es kennt. Er möchte nicht morgens vom Muezzin geweckt werden und er möchte auch nicht, dass seine Frau ihre wunderschönen Haare unter einem Kopftuch verstecken muss. Auf regelmäßiges Beten auf einem kleinen Teppich hat er auch keine Lust. Vor allen Dingen möchte er nicht der nächste sein, der in einem Park hinterrücks als Gotteslästerer erstochen wird. Er hat nicht nur Angst um sich und seine Liebsten – er hat Angst um sein Land. Er möchte weiterhin in einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft leben, in der jeder seine Meinung sagen darf. Er will nicht gleich eingekerkert werden, bloß weil ihm eine kritische Bemerkung zu Allah oder sonstwem über die Lippen kommt.

Seine Angst hat einen Hintergrund. Vor einigen Wochen hat Bundeskanzlerin Merkel einen unkontrollierten Strom von Flüchtlingen, hauptsächlich aus Syrien, ins Land gelassen. Hunderttausende unbegleitete junge Männer haben seither sein Land okkupiert, manche reden gar von Millionen. Karl W. will sich nicht damit abfinden, dass künftig diese Fremden, diese völlig andersartigen Menschen das Sagen haben werden. Er weiß, dass es ein gewaltiges Politikversagen gab. Er schließt sich der wütenden Menge an. Die Konsequenz ist völlig klar: Die Kanzlerin muss zurücktreten. Sie hatte geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Mit den Flüchtlingen hat sie den Schaden sogar ins Land gebracht. Sie hat ihren Amtseid mit Füßen getreten. Dafür darf sie dieses Land nicht mehr regieren.

Merkel muss immer noch weg

Die Jahre ziehen ins Land. Der Flüchtlingsstrom hat längst nachgelassen. Viele Menschen versuchen sich mit der Situation zu arrangieren. Andere Probleme holen sie ein. Dann schlägt sie zu: Die Corona-Pandemie erreicht auch Deutschland. Immer mehr Menschen werden krank. Angela Merkel ist noch immer Bundeskanzlerin. Sie weiß, dass sie handeln muss. Ihr Volk ist in Gefahr. Noch einmal will sie sich nicht als Volksverräterin beschimpfen lassen. Sie ist fest entschlossen, an ihrem Amtseid festzuhalten. Als Naturwissenschaftlerin weiß sie, dass eine Übertragung der Krankheit so schwer wie möglich gemacht werden muss bis ein wirksames Medikament oder ein Impfstoff erfunden wurde. Sie ruft die Bevölkerung dazu auf, zu Hause zu bleiben, verordnet eine Maskenpflicht, schließt Restaurants und Gaststätten. Sie legt dem Virus einen Stein nach dem anderen in den Weg – alles, um ihr Volk zu schützen.

Karl W. geht zu dieser Zeit wieder zu einer Demo. Er ist erzürnt. Nachdem die Kanzlerin vor Jahren mit der Flüchtlingswelle die innere Sicherheit des Landes schwer erschüttert hat, wagt sie es nun ein weiteres Mal, ihren Amtseid zu brechen. Ganz offensichtlich arbeitet diese Frau daran, ihre heißgeliebte DDR wiederzubeleben. Unliebsame Meinungen werden heute ganz banal mit einem Mundschutz unterdrückt. Demos und sonstige Veranstaltungen finden nur nach eingehender Prüfung statt, auf sein Feierabendbier in der Kneipe um die Ecke musste Karl W. wochenlang verzichten. Er hat genug. Er will seine Freiheit zurück. Das angeblich so gefährliche Virus dient der Kanzlerin einzig dazu, ihre Diktatur voranzubringen.

Politisches Aprilwetter

Karl W. ist kein Einzelfall. Er weiß eine gewaltige Menge hinter sich, die genug hat. Die Stimmung im Land ist schlecht. Und das nicht nur wegen der Flüchtlinge oder der Maskenpflicht. Auch die Natur geht sichtlich vor die Hunde. Ein Dürresommer folgt auf den nächsten. Missernten und viel zu niedrige Wasserstände sind die Folge. Gerade ältere Menschen haben schwer mit der Hitze zu kämpfen. Die Menschen wissen, dass sich etwas ändern muss. Sie wollen, dass sich auch ihre Kinder und Enkel an den faszinierenden Wundern der Natur erfreuen können.

Forscher und Experten sind sich einig: Der Klimawandel ist größtenteils menschengemacht. Er kann also auch vom Menschen aufgehalten werden. Die Forscher wissen, dass klimaschädliche Gase einen ganz besonders großen Anteil am beschleunigten Treibhauseffekt haben. Sie zu reduzieren ist das Gebot der Stunde. Die Umsetzung ist Sache der Politik. Die kommt dann mit obskuren und realitätsfernen Forderungen um die Ecke, wie zum Beispiel ein Verbot von Dieselfahrzeugen. Wer sich gestern noch lauthals über das schwer auszuhaltende Wetter beschwert hat, tut das auch heute noch. Ein Verzicht auf das heißgeliebte Auto ist aber nicht drin, selbst dann nicht, wenn der Staat die Anschaffung eines klimafreundlicheren Modells bezuschusst.

Die Politiker wollen dem Volk entgegenkommen. Wenn schon kein neues Auto, dann wenigstens keine übertriebene Raserei mit dem alten. Wer langsamer fährt, stößt schließlich auch weniger schädliche Gase aus. Wieder eine Blockade. Viele Leute wollen es sich nicht nehmen lassen, mit 200 Sachen über die Autobahn zu brettern. Die Forderung aber bleibt bestehen: Es kann so nicht weitergehen, wie es jetzt ist. Veränderung muss her. Aber bitte ohne Anstrengung. Das muss sich auch anders regeln lassen.

Was würde es denn bedeuten, wenn die Dieselfahrer auf alternative Modelle umsteigen würden? Sie müssten ihren bisherigen Lebensstil hinterfragen. Die Konsequenz daraus ist völlig klar: Sie müssten sich verändern, sie müssten etwas leisten. Darauf haben die meisten keine Lust. Sie haben ihre Schuldigkeit bereits getan, als sie auf die Missstände hinwiesen. Beseitigen kann sie jemand anderes. Aber dann bitte möglichst so, dass man selbst am besten keinen Finger krummmachen muss. Die nächste Demo findet sonst bestimmt statt.

Fortschritt ohne Veränderung?

Die meisten sehen tatsächlich nur die Veränderung. Die Aussicht darauf reicht aus, um eine Abwehrhaltung hervorzurufen. Oftmals denken die selbsternannten Querdenker gar nicht weiter. Der drohende Verlust der Komfortzone reicht aus, um sie auf die Barrikaden zu bringen. Dabei gibt es tatsächlich ernstzunehmende sozialpolitische Gründe, um so manche Maßnahme kritisch zu sehen. Doch all diese Argumente interessieren diese Menschen nicht. Es ist viel einfacher, sich von populistischen Rattenfängern vor den Karren spannen zu lassen, anstatt selbst nachzudenken. Dann besteht nämlich das Risiko, die Dimension des Problems zu begreifen und noch mehr unter Zugzwang zu stehen.

Aber vielleicht ist der Verzicht auf das Auto in der heutigen Zeit ja wirklich undenkbar. Immerhin gibt es viele Orte und Gemeinden in Deutschland, die ohne fahrbaren Untersatz schlicht unerreichbar sind. Der letzte Bus wurde hier vor zwanzig Jahren gesehen und die Bahnstrecke wurde schon vor dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt. Natürlich redet man dann nicht gerne über Veränderung. Denn in einem solchen Fall ist sie mit echten Strapazen verbunden.

Aber selbst wenn der öffentliche Nahverkehr regelmäßig Hintertupfingen ansteuern würde, könnten sich wahrscheinlich viele einen Verzicht auf das Auto nur schwer vorstellen. Wie sollte es auch anders sein? Selbst etwas so entbehrliches wie Silvesterböller würden viele bereits schmerzlichst vermissen. Jahr für Jahr werden lächerliche Summen für den kurzweiligen Spaß ausgegeben. Jahr für Jahr brennen die Dachstühle. Und Jahr für Jahr die gleichen heuchlerischen Vorsätze: Beim nächsten Mal wird weniger geböllert. Als letztes Neujahr das Affenhaus in Krefeld lichterloh in Flammen stand, da wurde mit Tränen nicht gegeizt. Und trotzdem ist der Trend klar: Auch nächstes Silvester wird das Laienfeuerwerk starten. Veränderung wird wohl niemals im Trend sein.


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Das Heer der Unaufgeklärten

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Schmierentheater

Lesedauer: 7 Minuten

Korrupte Politiker, dubiose Geschäfte und schwarze Kassen: Die Liste an politischen Skandalen der letzten Jahre ist ellenlang. Oftmals lassen sich Politiker für gewisse Gegenleistungen bezahlen, dann wiederum bleiben kriminelle Schiebereien jahrelang unbemerkt. Wie jetzt allerdings zu Tage trat, sind längst nicht alle Eklats so wie sie auf den ersten Blick scheinen. Mehrere überraschende Geständnisse zeigen nun, dass manche Skandale für den eigenen Zweck instrumentalisiert wurden.

Stunde der Wahrheit

Der Fall “Wirecard” ist mit Sicherheit der schwerste Fall von Bilanzbetrug, den Deutschland je gesehen hat. 1,9 Milliarden Euro der Bilanzsumme des Finanzdienstleisters haben in Wahrheit nie existiert. Wirecard hat diese astronomische Summe nur erfunden, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Seitdem schieben sich die Finanzaufsichtsbehörde BaFin, das Finanzamt und das Bundesfinanzministerium den schwarzen Peter munter hin und zurück. Keiner will verantwortlich dafür sein, dass ein Betrug solch gigantischen Ausmaßes so lange Zeit unbemerkt blieb. Nun nahm der Fall aber eine überraschende Wendung.

Ein Pressesprecher von BaFin gab nun im Namen der Aufsichtsbehörde bekannt, dass die BaFin den Skandal um Wirecard selbst inszeniert hatte. Man fälschte dazu belastendes Material gegen den Finanzdienstleister Wirecard. Über das Ausmaß der Intrige ist man von Seiten der BaFin nun aber doch tief erschrocken.

Sensation oder kalter Kaffee?

Der Pressesprecher führte aus, man hätte seit Jahren mit einer extrem dünnen Personaldecke zu kämpfen. Dazu kamen generell schlechte Arbeitsbedingungen, Überstunden seien die Regel. Ein anderer Mitarbeiter der Finanzaufsicht äußerte sich folgendermaßen: „Laut Stundenabrechnung habe ich bereits seit Anfang Juli mein Jahressoll erfüllt. Eigentlich könnte ich den Rest des Jahres die Füße hochlegen und mir meine Überstunden ausbezahlen lassen.“

Die Behörde beklagt sich inzwischen über unhaltbare Arbeitsbedingungen. Man teile sich zu dritt einen Computer, das Internet falle im Halbstundentakt aus, der Kaffee sei kalt. Laut ihrer offiziellen Darstellung habe die BaFin überhaupt keine andere Möglichkeit gehabt als zu solch drastischen Mitteln zu greifen. „Dass wir seit Jahren deutlich unterbesetzt sind und unseren Aufgaben nicht mehr in ausreichendem Umfang nachkommen können, ist seit Jahren bekannt. Wir wollten mit dem inszenierten Skandal auf unsere Probleme aufmerksam machen“, erklärt der Pressesprecher des Unternehmens.

Spiel mit dem Feuer

Das Ergebnis der Intrige sieht man bei der BaFin mit gemischten Gefühlen. Einerseits würde tatsächlich über die Zustände bei der Behörde diskutiert, andererseits verlagerte sich die öffentliche Aufmerksamkeit zu schnell auf andere. Dass nun tatsächlich gegen hochrangige Vertreter von Wirecard ermittelt würde, hätte man so nicht gewollt. Eher ging man davon aus, dass sich die allgemeine Entrüstung gegen Wirecard bald legen würde und man sich um eine Sanierung der angeschlagenen Finanzaufsicht kümmern würde. Gerade deshalb hätte man die Betrugssumme auch so hoch angesetzt. „Wir haben es tatsächlich nicht für möglich gehalten, dass eine so grotesk hohe Summe über einen so langen Zeitraum ernstgenommen wird. Heute sehen wir das natürlich anders“, so die Aufsichtsbehörde. Man entschuldige sich in aller Form bei dem Zahlungsdienstleister gegen den weiterhin polizeilich ermittelt würde.

Das plötzliche Einlenken der BaFin löste eine regelrechte Welle an ähnlichen Geständnissen aus. Auch die Polizeigewerkschaft von Berlin ließ nun die Hosen herunter. Es sei die bewusste Entscheidung der Einsatzleitung gewesen, dass bei der hochkontroversen Corona-Demo vom 29. August zeitweise nur drei Beamte das Reichstagsgebäude sicherten. Seit Wochen habe man gewusst, dass die extreme Rechte einen Sturm auf das historische Gebäude plante. Ungeniert tauschten sich Reichsbürger, Neonazis und andere Extremisten in teilweise öffentlich zugänglichen Internetforen über ihre Pläne aus. Von Seiten der Berliner Polizei war man sich vollauf bewusst, welche Bilder entstünden, wenn man nur eine Handvoll Beamte vor dem Reichstag postierte.

Falsche Debatte

Über die nun losgetretene Diskussion sei man allerdings irritiert. Der zuständige Polizeisprecher räumte ein, dass man mit dieser unzureichenden Sicherung ein Zeichen setzen wollte. Die Berliner Polizei wollte zeigen, in welch absurd kläglichem Zustand sich die Behörde aktuell befände. „Bevor die Situation wirklich eskalierte, hat der Einsatzleiter weitere Kräfte an den Bundestag beordert. Die Situation war schnell wieder unter Kontrolle. Es ging uns lediglich um die Bilder.“

Diese Bilder sollten verdeutlichen, dass auch die Polizei unter einem enormen Personal- und Ausstattungsproblem leidet. „Immer wieder ist von Polizeiversagen und Ermittlungspannen die Rede. Das liegt aber vor allem daran, dass wir seit Jahren zu wenig Geld bekommen, um für den Ernstfall ausreichend gerüstet zu sein“, erläutert der Sprecher.

Da die Inszenierung aber nicht den gewünschten Erfolg hatte, beschloss die Berliner Polizeigewerkschaft, die Angelegenheit aufzulösen. Die öffentliche Debatte gehe auch hier in eine völlig falsche Richtung: „Wir wollten nicht, dass jetzt alle wieder nur über die Nazis reden. Wir wollten, dass sich die Leute fragen, warum es so weit kommen konnte; warum nur drei Polizisten vor dem Bundestag standen“, kritisiert der Pressesprecher. Die Berliner Polizei sei erstaunt darüber, wie sehr die Menschen im Land noch über solche Naziaufmärsche erschraken. Spätestens nach dem Lübcke-Mord und den Anschlägen von Halle und Hanau sei das Rechtsextremismusproblem doch mit Händen zu greifen. Anstatt über Bundesverdienstkreuze zu diskutieren, wünscht sich die Berliner Polizei mehr Geld und mehr Personal, um solche Szenen in Zukunft zu vermeiden.

Alles Lüge

Wie viele weitere Skandale jüngerer Zeit auch inszeniert waren, wird wohl nie ganz zu klären sein. Die Berliner Polizei und die BaFin sind hierzulande die einzigen, die sich nun offiziell zu ihren schmutzigen Kampagnen bekannten. Im Nachbarland Österreich sorgten währenddessen die Sozialdemokraten für Entsetzen. Ein Whistleblower aus den eigenen Reihen lancierte das Gerücht, die SPÖ steckte hinter der Ibiza-Affäre. Er berief sich auf schwer belastendes Material gegen die Parteispitze. Ganz offensichtlich traf er damit ins Schwarze. Bereits nach diesen vagen Drohungen bekannte sich der Parteivorstand zu den Vorwürfen. In einer schriftlichen Presseerklärung räumten die österreichischen Sozialdemokraten ein, alle Beteiligten geschmiert zu haben.

Besonders brisant: Auch die Hauptperson in dem Skandal, Heinz-Christian Strache sei für seinen Auftritt in Ibiza bezahlt worden. Die Rede ist von mehreren Millionen Euro. So habe man den ehemaligen Vizekanzler dazu überredet, seiner eigenen Partei enormen Schaden zuzufügen. Die SPÖ wird an dieser Stelle besonders deutlich: „Das war überhaupt nicht schwer, die Aussicht auf das Geld hat gereicht.“ Die SPÖ war seinerzeit überrascht, dass das Video als authentisch empfunden wurde, obwohl Strache selbst immer wieder in die Kamera schaute.

Auch zu den Motiven hinter der Intrige nahm die Partei Stellung: „Auf herkömmliche Nazi-Skandale wie Antisemitismus und ausländerfeindliche Hetze springt doch heute keiner mehr an. Wir haben die FPÖ dort getroffen, wo sie am verwundbarsten ist: bei ihrer Gier und bei ihrer Ehre.“ Die SPÖ hat dabei ihre eigene Erklärung, warum das Video so hohe Wellen schlug. Ein kommunaler Abgeordneter meint dazu: „Korruption gehört dazu und ist längst nicht so tabu, wie viele glauben. Der Skandal an Ibiza ist, dass man sich dabei erwischen lässt.“

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Ohne Ausgleich

Lesedauer: 9 Minuten

Nach zähen Verhandlungen hat sich die Regierungskoalition vergangene Woche nicht nur auf eine Verlängerung des Kurzarbeitergelds geeinigt. Auch eine Reform des Wahlrechts nimmt die Regierung nun endlich in Angriff. Der Kompromiss von Union und SPD ist allerdings mehr als enttäuschend. Herausgekommen ist eine Lösung, die vor allem die CSU pusht, während die Opposition in die Röhre schaut. Der Ausblick auf eine umfassendere Reform bis 2025 klingt daneben wie ein schlechter Witz.

Das verflixte siebte Jahr

Paukenschlag. Mit dem kürzlich beschlossenen ersten Schritt zu einer Wahlrechtsreform hat die Bundesregierung nun endlich ein Projekt praktisch in Angriff genommen, das bereits seit 2013 theoretisch auf dem Tisch liegt: eine Reform des Wahlrechts. Die ganz Schlauen werden bemerkt haben, dass das exakt die Zeit ist, seit der die GroKo am Drücker ist. Sieben Jahre lang passierte aber so gut wie nichts. Doch selbst die Große Koalition muss nun einsehen, dass 709 Abgeordnete im Bundestag jeglichen Rahmen sprengen und es den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu erklären ist, warum der nächste Bundestag im Zweifelsfall mehr als 800 Abgeordnete beherbergen sollte.

Aus der letzten Wahlperiode hat die Opposition wohl gelernt, dass von der Regierung bei diesem Thema ganz bestimmt kein großer Wurf zu erwarten ist. Deswegen setzten es drei der vier Oppositionsfraktionen in der laufenden Legislaturperiode immer wieder auf die Tagesordnung. Und weil die Opposition nun einmal Opposition ist, werden ihre Vorschläge von der Regierung natürlich abgelehnt.

Doch weil man vor einer Horde von mehr als 700 Abgeordneten nicht mehr die Augen verschließen konnte, stand die Regierung zuletzt unter dringendem Zugzwang. Nachdem es gerade der Unionfraktion gelungen war, das Thema sieben Jahre lang zu verschleppen, kommt die Einigung nun sogar noch später als auf den sprichwörtlich letzten Drücker. Denn bereits im Frühjahr wies die Opposition darauf hin, dass eine Entscheidung allerspätestens bis zur parlamentarischen Sommerpause 2020 vorliegen müsste. Andernfalls wäre eine deutliche Verkleinerung des Parlaments ausgeschlossen. Und genau so wird es jetzt auch kommen. Der von der Regierung beschlossene erste Schritt ist bestenfalls dazu geeignet, eine Vergrößerung des Bundestags bedingt zu verhindern. Deutlich kleiner wird er durch diesen Tippelschritt aber nicht.

Verweigerung mit Ankündigung

Der Kompromiss der Regierungskoalition sieht vor, dass eine bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht mehr ausgeglichen wird. Diese Entscheidung nimmt also nur Einfluss auf die Stimmauszählung im September 2021, nicht aber auf die generelle Richtgröße des Bundestags. Sie ist also bloße Symptombekämpfung und wenig nachhaltig. Erst im zweiten Schritt zur Bundestagswahl 2025 soll ein Konzept folgen, das die Anzahl an Abgeordneten wieder auf ein erträgliches Maß senken soll. Die Bundesregierung hat also erneut vier Jahre lang Zeit, das Problem zu verschleppen und am Ende wieder nicht zu lösen. Vielleicht werden dann bei der Wahl 2025 noch mehr Überhangmandate nicht ausgeglichen.

Der Koalitionsausschuss beriet in der gleichen Sitzung übrigens auch über die Verlängerung einiger Corona-bedingten Maßnahmen. Das prominenteste Ergebnis ist bestimmt die Verlängerung des Kurzarbeitergelds. Gerade weil mit Union und SPD zwei im Prinzip grundverschiedene Fraktionen in der Regierung sitzen, waren zähe Verhandlungen vorprogrammiert. Es ist allerdings schon ziemlich bedenklich, dass die Parteien diese Diskussion schneller abgefrühstückt haben als die Wahlrechtsreform. An diesem Punkt saßen sie in der Sitzung nämlich wesentlich länger.

Die Koalition muss über ein an und für sich so untergeordnetes Thema also länger diskutieren als über einschneidende arbeits- und wirtschaftspolitische Maßnahmen. Denn die Wahlrechtsreform ist doch nur deshalb so dringend, weil sie seit Jahren verschleppt wurde. Selbst FDP, Linke und Grüne sind einvernehmlich – und vor allem schneller – zu einem Kompromiss gekommen. Ganz offensichtlich ist selbst diese unübliche Konstellation inzwischen handlungsfähiger als die Bundesregierung.

Ungleiche Wahl

Aber natürlich ist das Thema Wahlrechtsreform für den gemeinen Parlamentarier existenzbedrohender als die Weiterzahlung von Kurzarbeitergeld. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Entscheidungsträger von Kurzarbeitergeld abhängig sein wird, ist verschwindend gering. Die nächste Bundestagswahl aber kommt bestimmt. Und da will man natürlich das beste für sich rausholen. Alles eine Frage der Motivation.

Geht es nach der Bundesregierung, sollen bei der kommenden Wahl im nächsten Jahr drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Die Nachteile dieser Überlegung liegen auf der Hand. Vor allem die Unionsfraktion profitiert von der großen Anzahl an Überhangmandaten. Würden diese nicht mehr ausgeglichen werden, stünde diese Fraktion besser da als die übrigen Fraktionen. Das ist mit dem Gleichheitsprinzip der Wahl nicht vereinbar. Denn zwangläufig würden Stimmen für die jetzige Opposition dadurch entwertet werden. Wer für AfD, FDP, Linke oder Grüne stimmte, der hätte bei der Wahl 2021 weniger Einfluss als solche Wähler, die CDU, CSU oder SPD wählten.

Gegen den Wählerwillen

Die Zahl 3 klingt dabei harmloser als sie letztendlich ist. Denn drei nicht auszugleichende Überhangmandate heißen nicht automatisch, dass es nur drei Sitze weniger gibt. Ein einzelnes Überhangmandat kann zu mehreren Ausgleichsmandaten führen. Es ist also zu erwarten, dass bei dem jetzt vorgeschlagenen Konzept alle Oppositionsfraktionen den schwarzen Peter ziehen werden. Denn eine Kappung der Ausgleichsmandate verzerrt das Zweitstimmenergebnis immer.

Das könnte weitreichende Folgen für die kommende Wahl haben, aber auch für die Demokratie an sich. Wer mit der jetzigen Regierung nicht einverstanden ist, der wählt natürlich Opposition. Aber warum sollte er das tun, wenn seine Stimme im Zweifel weniger wiegt als eine Stimme für das Weiter so? Die jetzt getroffene Lösung geht an dem bestehenden Problem also blindlinks vorbei und schafft zudem ein weiteres: Sie ist ein Anreiz zum Nichtwählen.

Denn ein Wechsel auf der Regierungsbank wird durch den Kompromiss von Union und SPD unwahrscheinlicher. Die gefühlt ewig regierende Union würde so noch weiter künstlich an der Macht gehalten werden. Mit einer repräsentativen Demokratie hat das dann nur noch wenig zu tun. Der Volkswille würde nämlich nicht mehr 1:1 abgebildet werden. Es gäbe mehr Direktmandate als Listenmandate. Bisher wird jedes direkte Überhangmandat mit einem Ausgleichsmandat von den Landeslisten aufgewogen. Mit der neuen Regelung wäre das nicht mehr so.

Wider die Verfassung

Auch hier sorgt die Union allerdings für einen Klopfer. Überschüssige Direktmandate sollen künftig mit Listenmandaten der gleichen Fraktion aus anderen Bundesländern verrechnet werden. Selbst innerhalb der Unionsfraktion ist die CSU also klar im Vorteil. Denn gerade diese bayrische Provinzpartei erzielt traditionell die meisten Überhangmandate. Jetzt kann sie der Schwesterpartei ungehindert Listenmandate aus anderen Bundesländern absaugen. Das führt nicht nur zu einer ungerechten Bevorteilung der CSU, sondern zu einer noch tiefergreifenden Benachteiligung aller Listenmandate insgesamt.

Der Vorschlag von Union und SPD zeigt außerdem deutlich, dass die Parteien überhaupt nicht verstanden haben, wo das Problem liegt. Okay, der Bundestag schwillt seit Jahren immer weiter an. Das liegt hauptsächlich an den außer Kontrolle geratenden Überhangmandaten. Anstatt dann den Ausgleichsmandaten an den Kragen zu gehen, sollte man sich zu allererst fragen, woher diese Flut an Überhangmandaten überhaupt kommt. Aus Bayern, könnte man jetzt flapsig sagen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei mehr Direktmandate erzielt als ihr laut Zweitstimmenergebnis zusteht. Warum war das früher kein Problem?

In den Nachkriegsjahrzehnten saßen sehr lange nur drei Fraktionen im Bundestag: die Union, die SPD und die FDP. Andere Parteien hatten selten eine Aussicht darauf, ins Parlament gewählt zu werden. Auch aus diesem Grund haben die Wählerinnen und Wähler seltener für sie gestimmt. Dann kamen die Grünen als vierte Kraft mit Turnschuhen in den Bundestag gelatscht. Nach dem Mauerfall gesellte sich die PDS dazu und seit einigen Jahren erweitert die AfD das Parteienspektrum im Bundestag. Die Wählerinnen und Wähler haben also eine größere Auswahl an Parteien, die den Einzug wahrscheinlich schaffen werden. Umso größer ist auch die Bereitschaft, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben. Auf diese Weise kann das Erststimmenergebnis erheblich vom Ergebnis der Zweitstimmen abweichen. Überhangmandate entstehen.

Letztendlich gibt es nur eine Möglichkeit, diese Überhangmandate demokratisch in Grenzen zu halten: durch eine Neuzuschneidung der Wahlkreise. Die Zahl der Wahlkreise muss deutlich verringert werden. Damit sinkt auch die Richtgröße des Bundestags. Überhangmandate entstehen trotzdem, aber nicht mehr in so großer Zahl, schließlich gibt es ja weniger Wahlkreise. Außerdem kann der Anspruch an eine Wahlrechtsreform nicht sein, möglichst viele Überhangmandate zu verhindern. Die Entscheidung, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben, ist ein Ausdruck lebendiger Demokratie und des freien Wählerwillens. Der aktuellste Vorstoß beschneidet den Einfluss der Wählerinnen und Wähler allerdings. Er ist nicht gerecht; er ist nicht demokratisch. Er ist verfassungswidrig.

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