Posttraumatische Regierungsstörung

Lesedauer: 6 Minuten

Die SPD hat es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt: miserable Wahlergebnisse, unterirdische Umfragewerte und ein Koalitionspartner, der sie an der kurzen Leine hält. All das haben sich die Sozen sicher anders gewünscht. Und eine Zeit lang war diese Option auch zum Greifen nah. Hätten andere nicht in letzter Minute einen Rückzieher gemacht, hätte sich die SPD in der Opposition einrichten können. Dieses Jamaika-Trauma hat die Partei bis heute nicht verkraftet.

Zu früh gefreut

Wir erinnern uns: Nach der Bundestagswahl 2017 schauten mehrere Parteien dumm aus der Wäsche. Die Wahlbeteiligung war zwar leicht gestiegen, aber die Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen dazu genutzt, um die etablierten Parteien abzuwatschen. Besonders heftig traf es dabei die regierungsführende Union und die mitregierende SPD. Letztere fuhr wiederholt ein historisch schlechtes Ergebnis ein. Der damalige Vorsitzende Martin Schulz erklärte noch am Wahlabend, dass die SPD in die Opposition ginge.

Diesen Gefallen machte das Schicksal dem Parteichef allerdings nicht. Nach Wochen zäher Sondierungsgespräche brach die FDP die Verhandlungen schließlich ab. Jamaika war vom Tisch. Und das obwohl Martin Schulz der FDP noch am Wahlabend prophezeit hatte: „Frau Merkel wird Ihnen sehr weit entgegenkommen.“ Anscheinend war FDP-Chef Lindner aber nicht dazu bereit, sich ebenfalls zu bewegen. Eine neue Regierung war wieder in weite Ferne gerückt. Alternative Koalitionsmöglichkeiten waren Mangelware. Kanzlerin Merkel sollte rechtbehalten: Gegen die Union konnte keine Regierung gebildet werden.

Vom Regen in die Traufe

Kurz flammte die Option Minderheitsregierung auf. Aber auch diese Konstellation war nicht realisierbar. Merkel wollte es nicht in Kauf nehmen, eventuell erst im dritten Wahlgang gewählt zu werden. Immerhin hätte das als Zeichen der Schwäche gewertet werden können. Kaum ist die AfD im Bundestag, kommt es zur ersten Minderheitsregierung in der bundesdeutschen Geschichte.

Auch praktisch wäre eine Minderheitsregierung nur schwer zustandegekommen. Das einzige halbwegs realistische Szenario wäre Schwarz-Gelb gewesen. Dazu hätte die SPD ihre Abgeordneten allerdings dazu bringen müssen, sich geschlossen zu enthalten. Die Füße stillhalten, um Union und FDP, den natürlichen Fressfeind von sozialer Politik, ins Amt zu hieven? Sicherlich ausgeschlossen für viele Sozialdemokraten.

Und so stand die SPD vor einer wahrlich schweren Entscheidung. Will sie erneut als Vaterlandsverräter dastehen oder der AfD die Oppositionsführung überlassen? Beides keine sehr verlockenden Aussichten. Die Sozialdemokraten befanden sich in einer äußerst schwierigen Situation. Kaum hatten die Mitglieder das katastrophale Wahlergebnis halbwegs verdaut, da stand schon wieder die GroKo vor der Tür. Dabei war es doch die ständige Kooperation mit der Union, die der SPD dieses niederschmetternde Ergebnis beschert hatte.

Die Handschrift der SPD

Den meisten Sozen muss klargewesen sein: Noch einmal vier Jahre GroKo könnte der Partei noch erheblicher schaden. Trotzdem war die große Koalition der einzige Weg, zu einer stabilen Mehrheitsregierung zu kommen. Und wie würde das Land wohl aussehen, ließe man eine Minderheitsregierung vier Jahre lang rumwurschdeln? Die letztendliche Entscheidung darüber machte sich die SPD nicht leicht. Mit einer Urabstimmung fragte sie alle ihre Mitglieder nach deren Meinung. Knapp ein Viertel der Mitglieder entzog sich dieser wegweisenden Entscheidung. Die Jusos riefen zum Boykott der GroKo durch neue Parteibeitritte auf. Die Zwickmühle der SPD war offensichtlich.

Doch das Votum der Mitglieder war klar: Fast zwei Drittel stimmten für Koalitionsverhandlungen mit der Union. Man drängte aber auf eine planmäßige Zwischenbilanz nach Ablauf der halben Legislaturperiode. Vielen war außerdem wichtig, dass der Koalitionsvertrag dieses Mal eine klar erkennbare sozialdemokratische Handschrift trüge. Ob die SPD dies wirklich durchsetzen konnte, muss jeder selbst entscheiden. Die Partei lässt aber weiterhin keine Gelegenheit aus, diese sozialdemokratische Zielrichtung des Vertrags zu betonen. Mit plakativen Gesetzestiteln wie dem Gute-KiTta – Gesetz möchten sie ihre Politik einer breiten Öffentlichkeit näherbringen. Fast obsessiv feiern die Sozen jeden noch so kleinen Erfolg, der sich in irgendeiner Weise in ein SPD-Bonbonpapier wickeln lässt.

Voll krass

Um wenigstens einige ihrer Herzensangelegenheiten umsetzen zu können, musste die SPD mehr als eine Kröte schlucken und so manche schmerzhafte Konzession machen. Trotzdem war die SPD bereit dazu, Verantwortung zu übernehmen. Im Endeffekt aber badet die Partei nur die Verfehlungen anderer aus. Dass es überhaupt wieder zu einer großen Koalition kommen musste, verdanken wir nicht zuletzt Union und FDP. Während die einen zu stur waren, einer Minderheitsregierung eine Chance zu geben, waren die anderen zu feige für eine Regierungsbeteiligung.

Die Zeche dafür zahlt die SPD. Hätten andere nicht gekniffen, wäre der ältesten Partei Deutschlands dieses fragwürdige Trauerspiel erspart geblieben. Man kann den Genossinnen und Genossen einiges vorwerfen, aber Drückeberger sind sie nicht. Um Verantwortung für das Land zu übernehmen, nahmen sie sogar die jetzigen Umfragewerte in Kauf – und die sind wirklich mehr als blamabel. Den wirklichen Drückebergern blieb ein solches erspart. Die Grünen profitieren von der Klimabewegung, Corona pushte die Union, die FDP ist aus anderen Gründen im Keller. Nur die SPD leidet weiter am Jamaika-Trauma.

Bei einer Rede am 2. Oktober im Bundestag sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Göring-Eckhart in Richtung der Regierung: „Machen ist wie Wollen, nur krasser.“ Ihre Partei hatte die Chance, diese krasse Erfahrung zu machen. Anderen nun generell Zauderei vorzuwerfen, mutet dann schon eher zynisch an.


Mehr zum Thema:

Von Rassismus und Hypermoral

Mit Wumms in den Abgrund

Wider die Demokratie – Der Fehler GroKo

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Abgeschrieben

Lesedauer: 8 Minuten

Joe Biden hat die US-Wahl gewonnen. An dieser Gewissheit führt kein Weg mehr vorbei. Auch nicht für Donald Trump, der ja schon immer ein ganz spezielles Verhältnis zur Wahrheit hatte. Wahr ist aber auch, dass fast die Hälfte der Amerikanerinnen und Amerikaner überhaupt kein Kreuzchen gemacht haben. Eine neoliberale Politik aus Privatisierung und Marktradikalismus hat sie immer weiter von der Demokratie weggetrieben. Sie fühlen sich nicht mehr vertreten und bleiben im schlimmsten Fall zu Hause. Urplötzlich gibt es zu der demokratischen Option eine extremistische Alternative…

Pest und Cholera

Die Wahlen in den USA waren eine knappe Kiste. Obwohl Biden seinen Vorsprung gegen Trump weiter ausbaut, haben beachtlich viele Menschen für den noch amtierenden Präsidenten gestimmt. Ähnlich wie vor vier Jahren zeigen sich viele entsetzt darüber, wie man einen Mann wie Donald Trump überhaupt wählen kann. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand. Wenn mir einer der beiden Präsidentschaftskandidaten nicht behagt, dann wähle ich den anderen. Oder ich bleibe der Wahl ganz fern, wenn mir auch der Gegenkandidat so gar nicht zusagt.

Denn seit Jahrzehnten ist die Wahlbeteiligung in den USA besorgniserregend niedrig. Das hat natürlich mehr als einen Grund. Aber ein ganz entscheidender ist die Alternativlosigkeit, die sich den Menschen in den USA auftut. In dem Land gibt es im wesentlichen zwei Parteien – die Demokraten und die Republikaner. Ein Wechsel zwischen diesen beiden Wahlentscheidungen ist nicht so leicht, wie man ihn sich vielleicht vorstellt. Denn die beiden Parteien, so ähnlich ihre Politik manchmal auch scheinen mag, folgen zwei völlig unterschiedlichen Wertekanons. Jemand, der sonst immer Demokraten gewählt hat, dann immer wieder enttäuscht wurde, wird trotzdem nicht so einfach Republikaner wählen. Da wird einem schon fast ein Charakterwechsel abverlangt. Stattdessen verkriechen sich viele in das Lager der Nichtwähler. Und das umfasst seit mehreren Dekaden fast die Hälfte der wahlberechtigten Amerikaner.

Ein schwerer Kompromiss

In anderen demokratisch verfassten Ländern ist ein Wechsel zu einer anderen Partei schon leichter. In vielen dieser Länder ist die Parteienlandschaft schließlich wesentlich differenzierter. Wem hierzulande die SPD nicht mehr links genug ist, der geht zur Linken. Wer im Handeln der CDU keine konservative Politik mehr erkennt, der wandert zur AfD ab. Wer in den USA allerdings mit übertriebenem Patriotismus, mit einem vollends entfesselten Marktradikalismus und mit der Parole „America first“ nichts anfangen kann, der hat schlicht und ergreifend keine andere Wahl als Joe Biden oder die eigenen vier Wände.

Im Prinzip wird vielen Amerikanern bei der Wahl ein besonders schwerer Kompromiss abverlangt. Nur zähneknirschend werden viele ihre Wahl getroffen haben. Dabei würde sich echter politischer Pluralismus gerade in einem so bevölkerungsreichen Land wie den USA lohnen. Zwei Parteien reichen in einem Land mit mehr als 300 Millionen Einwohnern einfach nicht aus.

Nun hat man in den USA zwei Parteien, die die Interessen aller abdecken sollen. Gut, die beiden Parteien trennen zwei völlig unterschiedliche Weltbilder. Ihre Politik ist sich aber in zu vielen Punkten zu ähnlich. Das haben nicht erst gestern auch viele US-Amerikaner erkannt. Sie haben es mit zwei großen Parteien zu tun, die beide am neoliberalen Kapitalismus festhalten und seit Anbeginn aller Zeiten davon ausgehen, dass der Markt alles regelt. Wohin das geführt hat, haben wir in den letzten vier Jahren zur Genüge gesehen: Donald Trump war Präsident.

motherlode

Die allermeisten Amerikaner leben heute in einem Land, in dem der vielgepriesene amerikanische Traum genau das ist: ein Traum. Kaum jemand steigt in den USA heute noch vom Tellerwäscher zum Millionär auf. Egal wie sehr sie sich abmühen, mit sozialem Aufstieg werden nur ganz, ganz wenige belohnt. Lange vorbei sind die Zeiten, wo man sich vom kleinen Paketezusteller zum Top-Manager eines Konzerns mausern konnte. Dieses Szenario gibt es heute nur noch bei den Sims. Und selbst dort nur mit Cheats.

Trotzdem werden amerikanische Politiker nicht müde, die USA als Land der unendlichen Möglichkeiten über den grünen Klee zu loben. Immer wieder heizen sie ihren Wählerinnen und Wählern ordentlich ein, denn mit ausreichend viel Fleiß und Ehrgeiz kann es doch jeder zu was bringen. Diese verfaulte Karotte binden sie ihrem Volk immer wieder vor das Gesicht und wundern sich, dass inzwischen fast niemand mehr zuschnappt.

Gute Preise, keine Besserung

An den Lebensrealitäten der Amerikaner gehen diese Versprechungen allerdings vorbei. Einer steilen Karriere inklusive Familienglück und dem nötigen Kleingeld werden viele nicht abgeneigt sein. Zu allererst wünschen sich sehr viele Amerikaner aber eine Krankenversicherung, die sie tatsächlich im Krankheitsfall auffängt. Stattdessen wird zu vielen eine angemessene Behandlung verweigert, weil angeblich ihre Leistungsfähigkeit dazu nicht ausreicht. Diese miserablen Zustände in der Gesundheitsversorgung der USA haben eine so katastrophale Ausbreitung des Coronavirus in dem Land erst möglich gemacht.

Und auch die Omnipräsenz von Waffengewalt dürfte vielen Menschen ein Dorn im Auge sein. Fast jeder darf in den USA ganz legal eine Waffe bei sich tragen. Die Waffengesetze variieren zwar von Bundesstaat zu Bundesstaat, doch trotzdem gibt es Bezirke in den USA, bei denen man froh sein muss, ohne Kugel im Kopf wieder rauszukommen. Kein einziger Präsident hat diesem wilden Treiben der Waffenlobby bisher Einhalt geboten. Warum sollten sie auch? Sie verdienen ja genug daran.

Die neue Egalité

Wenn fast die Hälfte der wahlberechtigten Amerikanerinnen und Amerikaner nicht zu einer solch bedeutenden Wahl wie vor zwei Wochen gehen, dann können sie sich in ihrem Land nicht allzu wohl fühlen. Schuld daran ist vor allem das neoliberale Vorbeiregieren am Volk, welches weite Teile immer weiter wegtreibt von der Demokratie. Viele gehen einfach nicht mehr wählen, sie haben sich längst von der Demokratie abgewendet. Das macht sie aber lange nicht zu Extremisten. Ihnen ist es einfach egal, was passiert und wer in den nächsten vier Jahren das Sagen hat.

Genau auf diese Menschen kommt es aber an. Was für ein Wahlergebnis wäre wohl zu erwarten gewesen, hätten doppelt so viele Menschen abgestimmt als es tatsächlich der Fall war? Und in welch katastrophalem Zustand muss eine Demokratie sein, wenn es fast der Hälfte der Wahlberechtigten egal ist, dass ein narzisstisches, frauenverachtendes Trumpeltier noch vier Jahre Präsident sein kann?

Abgeschrieben

In Deutschland liegt die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen zwar deutlich höher, aber gut ein Viertel der Wählerinnen und Wähler haben bei den letzten Wahlen trotzdem auf ihr Votum verzichtet. Das kann unmöglich der Anspruch einer standhaften Demokratie sein. Und auch bei uns in Deutschland wählen die meisten Menschen nicht AfD, weil sie Rechtsextremismus, Diskriminierung und Nationalismus so geil finden, sondern weil ihnen dieser Aspekt der AfD schlicht und ergreifend egal ist. Die AfD ist für viele der letzte Strohhalm, der sie vor dem Nichtwählerlager bewahrt. Ihre fragwürdige Wahl muss doch alle demokratischen Parteien erschüttern: Nehmt uns endlich wieder mit, sonst wählen wir beim nächsten Mal gar nicht mehr.

Und jede verschenkte Stimme stärkt auch das Stimmgewicht für extremistische Parteien. Wenn sich zu viele Menschen von der Demokratie abwenden, dann haben gerade die Extremisten leichtes Spiel. Sie ködern die Leute, die abgehängt wurden und geben ihnen gleichzeitig das Gefühl, ganz besonders gute Demokraten zu sein. Und ganz plötzlich, und für alle völlig unerwartet, sind Szenarien wie Macron gegen Le Pen oder Trump gegen Biden möglich.

Besonders fatal an dem ganzen Schlamassel: Die Nichtwähler werden viel zu häufig ausgeblendet. Der Erfolg Bidens wird zu einem Sieg der echten Demokratie stilisiert, obwohl nur die Hälfte des Volks abgestimmt hat. Seit Jahren gibt es nur noch die einzig wahren Verfechter der Demokratie auf der einen Seite und das extremistische Gesocks auf der anderen. Unpolitisch zu sein, wird nicht mehr geduldet. Zu allem wird eine politische Haltung abverlangt. Ständig muss man aufpassen, nicht etwas zu sagen, mit dem man anderen auf die Füße tritt oder mit dem man ein politisches Statement abgibt. Auch das treibt viele weg von der Demokratie. Da hilft es auch nicht, das Stimmpotenzial dieser Menschen zu ignorieren. Gebt euch keine Mühe, sie abzuschreiben – sie sind es längst.


Mehr zum Thema:

Dafür oder dagegen

Gefühlte Demokratie

Radikalisierung als Selbstzweck

Das Extrem ist bequem

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Falsche Prioritäten

Lesedauer: 9 Minuten

Querdenker, Trump-Wähler und Wutbürger – seit Jahren verzweifeln gestandene Politikerinnen und Politiker an deren Aufmärschen, ihren Demonstrationen und ihrem Geschrei. Die einen kritisieren lauthals die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die anderen kommen aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Deutlicher kann die gegenseitige Entfremdung kaum werden. Ein tiefer Graben trennt ein Lager vom anderen. Politik aus dem Elfenbeinturm hat solche Verhältnisse erst möglich gemacht.

And the winner is…

Joe Biden ist der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Jubel bricht aus, nicht nur in den USA. Die deutschen Medien berichten von tausenden Menschen, die in den USA auf die Straße gehen. Die einen, um die Abwahl von Donald Trump zu feiern, die anderen, um gegen die Wahl Joe Bidens zu protestieren. Ein tief gespaltenes Land, könnte man meinen. Wie tief der Riss wirklich geht, wird aber oft verschwiegen. Denn die USA kommen auf eine Einwohnerzahl von über 300 Millionen Menschen. Etwa 250 Millionen davon sind wahlberechtigt. Nur einen Bruchteil davon sieht man auf den Straßen Amerikas. Viele andere haben längst resigniert. Sie haben begriffen, dass es für ihre Leben kaum einen Unterschied macht, ob der Präsident nun Joe Biden oder Donald Trump heißt.

Die Medien suggerieren allerdings allgemeine Freudenstimmung auf der ganzen Welt. Selbstgefällig feiert man wie vor vier Jahren den Sieg des eigenen Kandidaten. Knapp der Hälfte der wahlberechtigten Amerikaner wird zwischen den Zeilen gesagt: Es ist gut, dass ihr verloren habt. Friedensstiftend sind solche Gesten nicht. Und welchen Nutzen kann die Mehrheit der US-Amerikaner nun aus dieser Wahl ziehen? Die Probleme des Staatenbunds haben sich durch die Wahl Joe Bidens gerade angesichts der Coronakrise sicher nicht in Luft aufgelöst. Aber über genau diese Probleme spricht derzeit kaum jemand.

Schulgipfel oder Autogipfel?

Die Spaltung der Menschen in den USA ist also kein Wunder. Aber nicht nur im weit entfernten Amerika haben Populisten und Spalter großen Zulauf. Auch in mehreren europäischen Ländern ist die Demokratie in Gefahr, darunter Deutschland. Viele Menschen fühlen sich von der Politik weder angesprochen noch mitgenommen. Viel zu häufig haben sie das Gefühl, es wird an ihnen vorbeiregiert.

Es bleibt nicht nur beim Gefühl der Menschen. In vielen Fällen haben sie mit ihrer Einschätzung leider recht. Die Corona-Pandemie hat die Welt in den vergangenen Monaten vor große Probleme gestellt. Lange war man sich einig, dass sich ein Lockdown wie im Frühjahr nicht wiederholen dürfte. Als die ersten wirtschaftlichen Folgen absehbar waren, berief die Bundesregierung sogleich einen Autogipfel ein. Angeblich ging es darum, Arbeitsplätze zu sichern. Dass die Regierung dazu nicht in der Lage ist, haben wir bei Lufthansa gesehen. Das Kabinett spendierte dem Konzern mehrere Milliarden Euro, ohne daran den Erhalt eines einzigen Arbeitsplatzes zu knüpfen. Anstatt nun in wirtschaftshöriger Manier sogleich einen Autogipfel zu veranstalten, hätte die Regierung gut daran getan, mit ähnlichem Enthusiasmus einen Schulgipfel zu wuppen. Dort hätte man sich gleich überlegen können, wie in den Schulen auch in den Wintermonaten effektiv gelüftet werden kann und wie eine angemessene digitale Ausstattung aller Bildungseinrichtungen finanziert werden kann.

Anscheinend haben die Bereiche Schule, öffentlicher Dienst und Pflege für die Regierung allerdings nur untergeordnete Priorität. Da muss schon ein wohlfeiler Applaus einmal im Jahr ausreichen. Denn was juckt es die Kassiererin, wenn der Staat mit 3 Milliarden bei Lufthansa einsteigt, sie selbst mit ihren knapp 10 Euro Stundenlohn aber kaum über die Runden kommt? Was kümmert den kleinen Timmy ein Milliardengeschenk an Daimler & Co., wenn er neben dem geöffneten Fenster friert und sich den Tod holt? Geld wird hier dringend benötigt. Doch das füllt währenddessen die Kassen der Waffen- und Rüstungsschmieden, übrigens auch in treuer amerikanischer Gefolgschaft unter Trump und Biden. Staaten wie China und Russland geben übrigens gemeinsam nur etwa 40 Prozent der Ausgaben von USA und Deutschland in diesem Bereich aus.

Gendersternchen statt Pfandflaschen

Immer stärker wird das Gefühl, dass sich die Politik für die Bedürfnisse der ganz normalen Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht mehr interessiert. Sehr deutlich wurde das auch beim Abgasskandal um VW und viele andere. Für die Regierung war die logische Konsequenz aus dem Betrug, dass unverzüglich Fahrverbote zu verhängen seien. Schließlich kommt das auch dem Klima zugute. Das mag so sein. Aber was ist das denn für eine verquere Umkehrung von Schuld und Verantwortung? Als ob der betrogene Autofahrer absichtlich mehr klimaschädliche Gase emittiert hätte. Zum Sexappeal dieser klimapolitisch sinnvollen Entscheidung trägt dieses Vorgehen definitiv nicht bei.

Und selbst wenn die Parteien versuchen, gute Politik für das Volk zu machen, bleibt dabei oft ein bitterer Beigeschmack. Klar, allen kann man es sowieso nie rechtmachen. Aber viel zu oft signalisiert die Politik in diesem Land, dass sie die Lebensrealitäten der ganz normalen Leute weder anerkannt noch versteht. Die Einführung des Gendersternchens kratzt die Rentnerin, die regelmäßig Pfandflaschen sammeln muss, herzlich wenig. Natürlich ist auch eine gendergerechte Sprache ein wichtiges Thema. Die Überdosierung mancher Themen führt aber häufig dazu, dass sich die Menschen eher abwenden als sich damit auseinanderzusetzen.

Für euch soll’s heut‘ Konfetti regnen

Anderes Beispiel: Nachdem im Juni 2017 der Bundestag kurz vor knapp mehrheitlich für die Einführung der Ehe für Alle stimmte, da sprangen die Abgeordneten des rot-rot-grünen Lagers enthusiastisch auf. Die Fraktion der Grünen ließ sogar Konfetti regnen. Eine solche Sause hätte man sich von diesen Parteien auch erhofft, hätten sie ihre Mehrheit für einen gescheiten Mindestlohn, eine armutsfeste Rente und eine wirksame Eindämmung der Leiharbeit genutzt. Nichts von alledem wurde umgesetzt.

Stattdessen wunderte man sich eher, dass gerade diese drei Parteien bei der Bundestagswahl 2017 eher bescheiden abschnitten. Dabei war doch offensichtlich, dass die Einführung der Ehe für Alle reine Wahlkampftaktik war. Das erhoffte Lob und der nötige Erfolg blieben allerdings aus.

Denn das linksliberale Spektrum hat bis heute nicht begriffen, dass die Aufsummierung von Minderheitenthemen keine gute Politik für die Mehrheit bedeutet. Eine sprachliche Erweiterung, die alle mitnimmt, kommt einer verschwindend geringen Zahl an Menschen zugute. Das sagt nichts über die Qualität dieser Forderung aus. Aber über ihre Priorität. Eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung von Sprache kann ein sinnvolles Teilthema vieler verschiedenen Themen sein. Es zum Überthema zu machen und es anderen wichtigen gesellschafts- und auch sozialpolitischen Themen voranzustellen, ist eher kontraproduktiv.

Wenn Minderheitsthemen derartig in den Vordergrund rücken und zugleich moralisch und emotional aufgeladen werden, dann wirken sie leicht bevormundend. Menschen könnten sich gegängelt fühlen, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr alles sagen zu dürfen, während wichtige andere Themen ausgeblendet werden. Sie verlieren den Bezug zu der Politik, die vorgibt, für ihre Interessen einzutreten. Sie vertrauen sich anderen an, die sie in ihrem Glauben bestärken, ihre Meinungsfreiheit werde eingeschränkt.

Die Politik der Rücklichter

Und was machen ein Großteil der Politiker und leider auch weite Teile der Gesellschaft? Sie geißeln diese Menschen als Nazis. Sie verdrehen dabei gekonnt Ursache und Wirkung. Sie scheinen zu glauben, die AfD habe die Menschen erst zu Wutbürgern gemacht und den Frust in ihnen gesät. Andersrum wird allerdings ein Schuh daraus. Die Unzufriedenheit der Menschen hat erst dazu geführt, dass eine Partei wie die AfD überhaupt möglich war. Denn in einer Demokratie machen die Menschen die Parteien, und nicht andersrum.

Viel zu lange haben die regierenden Parteien auf die falschen Themen gesetzt. Sie haben die Bodenhaftung verloren – den Politikern rannte das Volk davon. Schon vor langer Zeit haben sie die Türen zugemacht und viele am Straßenrand stehenlassen. Sie haben sie einfach nicht mitgenommen. Die Politik hat sich einer Zukunftsideologie verschrieben, die tatsächlich erstrebenswert ist, aber ohne die Bürgerinnen und Bürger niemals erreicht werden kann. Man ist die Probleme von morgen angegangen, ohne zuvor die von gestern zu lösen. Die Welt dreht sich schneller, zu schnell für manche.

Die Menschen haben keine Lust auf die Globalisierung, wenn in ihren eigenen Ländern zuvor nicht aufgeräumt wurde. Sie fühlen sich unvorbereitet, abgehängt und im Stich gelassen. Viele sehnen sich nach einfachen Lösungen, weil die komplexen Fragen sie überfordern. Da kommt ihnen eine Partei nur recht, die verspricht, den „geordneten“ Nationalstaat wiederherzustellen. Das ist in Deutschland so und das ist in den USA so. Der Sieg von Joe Biden oder von Angela Merkel bei welcher Wahl auch immer ändert daran nichts. Sie sind eher Teil des Problems.


Mehr zum Thema:

Von Rassismus und Hypermoral

Protest aus der Komfortzone

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!