Smartphone und Verantwortung in einer Hand

Beitragsbild: iXimus, pixabay.

Lesedauer: 9 Minuten

Gesundheitsminister Jens Spahn ist sich sicher: die Corona-App wird einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten. Fortan werden alle Nutzer gewarnt, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen einem Risikokontakt ausgesetzt waren. Viele kritisierten das Projekt von Anfang an, Datenschützer waren die erbittertsten Opponenten. Kaum waren diese Bedenken ausgeräumt, sprach man die App nahezu heilig. Eines vergessen viele aber nach wie vor: Die neue App legt die Verantwortung sprichwörtlich in die Hand der Nutzer. Der Kampf gegen Corona ist aber keine Einzelaufgabe, es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die App kann dem im Zweifelsfall zuwiderlaufen.

Operation „Beruhigungssauger“

Seit Dienstag ist sie da: die Corona-App. Lange erwartet, häufig kritisiert, endlich fertig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist sichtlich stolz auf diesen Meilenstein im Kampf gegen Corona. Die Corona-App war immer sein Herzensprojekt. Viel Gegenwind musste er gegen seine Pläne aushalten. Gerade Datenschützer gingen auf die Barrikaden, als sie von dem Mammutprojekt hörten. Auch bei vielen Oppositionellen und Bürgern schrillten die Alarmglocken: Eine neue App? Was ist mit dem Datenschutz? Verschwörungstheoretiker machten sich die Pläne des Ministers sogleich zunutze und schürten Ängste, die App sei nur ein weiterer Schritt in Richtung Totalüberwachung der Bevölkerung.

Spahn nahm sich die Kritik tatsächlich zu Herzen. Zu groß war wohl die Sorge, seiner Bewerbungsmappe für das Kanzleramt würde eine wichtige Referenz fehlen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der dezentralen Lösung wurde tatsächlich der Vortritt gelassen. Die Daten werden also nicht auf einem zentralen Server gespeichert, die sogenannte Begegnungsprüfung findet auf den Endgeräten statt. Wie ein Kleinkind, dem man einen Lolli gibt, waren die Datenschützer augenblicklich still. Und die anderen: auch. Als das Thema Datenschutz vom Tisch war, verstummte auch die Kritik an dem Projekt.

Argumente mit notorischem Geltungsdrang

Wieder einmal hat es eine einzige Frage geschafft, die Debatte zu beherrschen. Fragen nach Zielgenauigkeit, Notwendigkeit und Benutzerfreundlichkeit der App mussten den kürzeren ziehen. Die Hauptrolle wurde dem Thema Datenschutz verliehen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage, aber beileibe nicht die einzige, die es zu beantworten gilt.

Das Muster ist bekannt: Bei so vielen anderen Themen der letzten Jahre gab es immer wieder Einzelfragen und Teilaspekte, die die Diskussion dominierten. Beispiel Tempolimit: Das Thema Verkehrssicherheit wurde zwar in die Bewertung der Geschwindigkeitsbegrenzung einbezogen, Knackpunkt war aber immer die klimafreundliche Komponente der Maßnahme. Weniger Motorleistung verursacht weniger klimaschädliche Emissionen, das ist Fakt. Dass eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn aber auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beiträgt, sollte fakter sein.

Immer wieder lenkten andere, teilweise schlicht unwichtigere Nebenfragen von der echten Problematik ab. Dabei gibt es gerade bei der Corona-App so viele andere Fragen, die es dringend zu beantworten gilt. Stattdessen verbeißen sich viele Kritiker beinahe fetischhaft in das Totschlagargument Datensicherheit. Ob auch bei den Bürgern durch den besseren Datenschutz das Vertrauen in die App gewachsen ist, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Man sollte aber dringend aufhören zu meinen, man könne mit der Reduzierung von großen Sachverhalten auf ein einziges Thema die Bürger für dumm verkaufen.

Keine Maßnahme wie die anderen

Es gibt neben Datentransparenz noch einige weitere Fragen, von denen der Erfolg der App abhängen sollte. Es wurde wenig danach gefragt, wie zielgenau die neue Anwendung arbeitet, und wenn, dann nur um einen Datenmissbrauch mit Standortdaten zu verhindern. Noch seltener kam die Frage auf, wie viel Nutzen die App tatsächlich entfalten kann. In der Theorie ist die App eine gute Sache. Neben weiteren Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ist sie eine sinnvolle Ergänzung, um die Menschen zu schützen. Keine der geltenden Maßnahmen kann alleine den Kampf gegen Corona aufnehmen. Masken sind ohne Abstand praktisch Stoffverschwendung. Genau so wird auch die App nur dann den größtmöglichen Erfolg haben, wenn die anderen Maßnahmen eingehalten werden.

Und daran habe ich starke Zweifel. Denn die App reiht sich nahtlos in die Serie von Lockerungen ein, die oftmals das Prädikat „fahrlässig“ verdienen. In erster Linie ist die App nämlich ein Frühwarnsystem, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person hatten. Sie ist deshalb nicht Maßnahmen wie der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot gleichzusetzen. Im Gegensatz zu diesen expliziten Schutzmaßnahmen hemmt sie nicht das Infizierungsrisiko ihrer Nutzer. Sie meldet Erkrankungsfälle im näheren Umfeld, um etwaigen Risikokontakten vorzubeugen.

Unverbindliche Handlungsempfehlung

Wie bereits die Lockerungen vor ihr, macht die App den Infektionsschutz noch mehr zur Privatsache. Immer weniger müssen Bürgerinnen und Bürger lästige Regeln beachten, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Und tatsächlich ist bis auf die Maskenpflicht fast wieder der Normalzustand eingetreten. An Supermarktkassen ist wieder Gruppenkuscheln angesagt. Die Abstandslinien sind von tollwütigen Klopapierkäufern längst weggewetzt worden. Immer mehr Massenaufläufe in Parks, bei Demos und leider auch Corona-Partys entwickeln sich zu neuen Infektionsherden. Nach monatelanger staatsverordneter Flaute müssen manche Gaststätten inzwischen beinahe schon überlegen, wegen Überlastung zu schließen. Gerade dort ist die Handhabung der Verordnungen besonders lax. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Restaurants in Verbindung mit Coronafällen in den Medien.

Die neue App kann leicht zu noch mehr Unvorsicht verleiten. Bereits bei der Maske war sonnenklar, dass manche Menschen schlichtweg unfähig dazu waren, sie richtig aufzusetzen. Mit ihrer Leichtsinnigkeit gefährdeten sie ihre Mitmenschen und leisteten dem Virus erheblichen Vorschub. Es ist zugegeben ziemlich blauäugig zu glauben, diese Menschen ließen sich von einer unverbindlichen Handlungsempfehlung einer App Vorschriften machen. Sobald auf ihren Bildschirmen erscheint, dass sie so und so viele Risikokontakte hatten, werden sie verächtlich abwinken. „Jetzt will mir der Staat auch schon vorschreiben, wann ich zum Arzt zu gehen habe. Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist.“ An dieser Stelle pochen sie auf Selbstbestimmung und Datenschutz, beim nächsten facebook-Post ist ihnen das egal.

Polarisierung reloaded

Schon vor der App hat sich immer mehr gezeigt: Corona spaltet. Wieder einmal haben die Menschen die Wahl, zu welchem Pol sie sich eher hingezogen fühlen. Sind es die Hygienedemonstranten, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in ihren Reihen dulden oder sind es die Übervorsichtigen, die an der Kasse lieber drei Striche Abstand halten? Jede noch so belanglose Äußerung, jede noch so lapidare Handlung kann zu einer unwiderruflichen Einteilung in eines der Lager führen.

Vor einigen Wochen schrieb ich auf diesem Blog noch, dass ich nicht glaube, dass Corona das gleiche Polarisierungspotenzial hätte wie die Flüchtlings- oder die Klimakrise. Ich habe mich geirrt. In Wahrheit birgt die jetzige Krise ein noch größeres Polarisierungsrisiko als die Krisen zuvor.

Konsens und mehr nicht?

Und woran liegt das? Weil es keine Einigkeit gibt. Der Politiker Gregor Gysi meinte jüngst, dass der Zoff erst losging, als die ersten Lockerungen zur Debatte standen. Völlig richtig. Davor waren die getroffenen Maßnahmen ganz besonders streng. Kaum einer hatte die Möglichkeit, ungestraft aus der Reihe zu tanzen.

Die Maßnahmen erreichten dabei beinahe die Qualität von Strafgesetzen. Und im Prinzip haben sie auch so funktioniert. Die Strafandrohung war zwar nicht so hoch wie bei Strafgesetzen, aber der Druck war trotzdem da. Würde man heute oder morgen die Strafen aus dem Gesetzbuch streichen, so gäbe es weiterhin einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass man andere Menschen nicht misshandelt, sie nicht umbringt und auch niemandem etwas wegnimmt. Dieser recht lockere Konsens würde aber immer mehr aufgeweicht werden. Viele würden dann zwar die Nase rümpfen, wenn jemand im Laden klaut, passieren würde aber nichts. Genau das gleiche lässt sich seit den Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen beobachten.

Die Lockerungen übertragen nämlich immer mehr Verantwortung auf den Einzelnen. Als die Maßnahmen streng waren, waren die meisten von dieser Verantwortung befreit. Sie mussten sich schlicht an Regeln halten. Durch die Lockerungen können die Menschen nun mehr und mehr selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachten und an welche sie sich halten wollen. Sie können sich ihre eigene Meinung machen. Das ist prinzipiell gut. Es liegt allerdings in der Natur unterschiedlicher Meinungen, miteinander zu konkurrieren. Kommt dann noch die akute Krisenkomponente dazu, ist die Polarisierung vorprogrammiert. So gut die Idee einer Corona-App auch sein mag, sie wird dem enormen Polarisierungspotenzial der Krise nicht beikommen können.


Mehr zum Thema:

Kein Rückgrat

Gefühlte Demokratie

Das Heer der Unaufgeklärten

Auf Umwegen durch die Krise

Die Stunde der Volksparteien

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Feminismus ohne Quote?

Lesedauer: 7 Minuten

Gewalt an Frauen ist ein weltweites Problem. Viel zu oft erleben Frauen nur deshalb Gewalt, weil sie Frauen sind. Die Täter leiten daraus einen Überlegenheitsanspruch für sich ab. Auch in Deutschland sind viel zu viele Frauen Opfer von psychischer und physischer Gewalt. Tatsächlich gibt es auch im Jahr 2020 noch Strukturen, die Gewalt an Frauen begünstigen. Wer also wirklich etwas gegen Gewalt an Frauen tun möchte, der muss zuerst die Wurzel des Übels beseitigen. Dazu gehört auch, dass Frauen in Arbeitswelt wie Politik viel zu wenig vertreten sind.

Faires Drittel?

Es ist schon leicht widersinnig: Mit ganzer Kraft kämpfen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Bundestags dagegen an, dass die Reichstagskuppel nach der nächsten Bundestagswahl aus allen Nähten platzt. Zumindest einige von ihnen tun das. Andererseits sinkt der Anteil der Frauen, die in deutschen Parlamenten sitzen kontinuierlich. Nach der Bundestagswahl 2013 erreichte der Frauenanteil im deutschen Bundesparlament seinen traurigen Höchststand. Traurig deswegen, weil damals gerade einmal knapp über 36 Prozent der Abgeordneten Frauen waren. Seitdem sinkt der Anteil der Frauen wieder – aktuell auf kaum 31 Prozent.

Nicht einmal ganz ein Drittel der Mandatsträger ist also weiblich. Der Begriff „Volksvertreter“ mutet in diesem Zusammenhang schon recht anmaßend an. Immerhin besteht die Weltbevölkerung, und repräsentativ dafür auch die deutsche Bevölkerung, aus annähernd so vielen Frauen wie Männern. Natürlich ist das nicht die einzige Bevölkerungsgruppe, die im Bundestag unterrepräsentiert ist. Auch bestimmte Berufsgruppen finden sich wenig bis gar nicht unter den Parlamentariern. Eine ausgewogene Politik wird dadurch mindestens erschwert.

Einige der im Bundestag vertretenen Parteien besetzen ihre Wahllisten daher ausschließlich paritätisch. Dadurch wollen sie erreichen, dass ihre Fraktionen im Idealfall zu gleichen Teilen aus Männern wie aus Frauen bestehen. Eine Garantie für eine 1:1 – Verteilung ist das allerdings nicht. Für Wählerinnen und Wähler spielt auch die Qualifikation der aufgestellten Kandidatinnen und Kandidaten eine Rolle. Eine paritätisch geführte Wahlliste hat bei der Grünen-Fraktion sogar dazu geführt, dass der Frauenanteil den der Männer übersteigt.

Kandidatur ohne Sinn

Gerade weil das Geschlecht eines Menschen nichts über seine persönlichen Qualitäten aussagt, ist eine Vorauswahl im Sinne der Parität mit Vorsicht zu genießen. Paritätische Wahllisten und paritätische Stellenbesetzungen in Unternehmen sind ein besonders wirkungsvolles Instrument, um gegen den chronisch geringen Frauenanteil in besagten Positionen anzugehen. Solche Paritäten ändern allerdings wenig an den Ursachen des Problems, wenn nicht gleichzeitig andere Weichen gestellt werden.

Denn gerade linke Parteien stehen den Zielen und Idealen der Frauenbewegung recht nahe. Es ist daher wenig verwunderlich, dass gerade solche Parteien von jeher über einen höheren Frauenanteil in ihren Reihen verfügen. Doch was würde eine Frauenquote für konservativere Parteien bedeuten? Nehmen wir als Beispiel die CDU: Für diese Partei wurden nicht deshalb so wenig Frauen in den Bundestag gewählt, weil sie alle so grottig performt haben, sondern weil sie von Anfang an in der Unterzahl waren. Viel zu wenige Frauen entschieden sich dazu, für diese Partei in den Wahlkampf zu ziehen. Eine Quote würde an dieser freien Entscheidung wenig ändern.

Die Frage ist doch, warum sich so wenig Frauen für Parteien wie CDU, FDP oder auch AfD engagieren. Doch nicht nur deswegen, weil diese Parteien keine paritätischen Wahllisten vorschreiben. Die meisten Frauen erkennen einfach, dass sie überhaupt keinen Mehrwert davon haben, wenn sie für diese Parteien ins Feld ziehen. Von abgehobener Gleichgültigkeit gegenüber der Benachteiligung von Frauen bis hin zu offenem Chauvinismus ist in diesem Spektrum doch alles vertreten. Paritätische Wahllisten können nur der erste Schritt sein. Für einige Parteien gilt viel mehr: nicht nur Personalwechsel, auch Kursänderung!

Festgefahrene Strukturen

Bei einigen wenigen Fragen herrscht Einmütigkeit in der Politik. Zum Beispiel sind sich die allermeisten Politiker einig, dass schleunigst etwas gegen Gewalt an Frauen unternommen werden muss. Die Frauenhäuser waren schon vor Corona proppenvoll. Die Pandemie und die damit einhergehenden Beschränkungen machen es betroffenen Frauen umso schwerer, aus den Spiralen von Gewalt und Erniedrigung auszubrechen. So einig sich die meisten Parteien in dem Ziel sind, Frauen vor Gewalt von Männern zu schützen, so verbissen verweigern sich einige Parteien, Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn zu zahlen wie ihn die männlichen Kollegen erhalten.

Zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe könnte man nun sagen. Beide Paare stehen allerdings im selben Schuhschrank. Denn man kann nicht gegen Gewalt an Frauen sein und ihnen gleichzeitig eine faire Entlohnung verweigern. Wenn eine Frau von ihrem Partner geschlagen wird, dann weiß sie immer, dass das Unrecht ist. Viele gestehen es sich nicht ein, suchen die Schuld womöglich bei sich selbst. Aber sie haben die Möglichkeit zu gehen. Sie haben die Möglichkeit, rechtlich gegen ihren Partner vorzugehen. Bei Lohndiskriminierung geht das nicht. Diese Form der institutionalisierten Benachteiligung impft den Frauen vom ersten Arbeitstag an ein, dass ihre Arbeit weniger wert ist. Und die Botschaft kommt auch bei den Männern an. Während Frauen möglichst an der kurzen Leine gehalten werden, bekommen die Männer stets vor Augen geführt, wie viel wichtiger sie doch sind. In der allerschlimmsten Konsequenz führt das dann dazu, dass sie sich gegen die Frauen erheben.

Nicht nur auf dem Arbeitsmarkt werden Frauen Opfer dieser psychischen Gewalt. Auch auf dem Wohnungsmarkt haben sie oftmals mit Benachteiligung zu kämpfen. Wenn sie diese institutionalisierte Benachteiligung immer und immer wieder zu spüren bekommen, stehen sie auch seltener dagegen auf, wenn die Gewalt eine gewisse Grenze überschreitet. Frauen werden auch im 21. Jahrhundert viel zu häufig in die Opferrolle gezwängt. Die Folge ist nicht nur Gewalt von Männern, sondern auch, dass sich Frauen weitaus weniger ins öffentliche und politische Leben einbringen.

Männer machen Feminismus

Es muss also in erster Linie viel mehr gute Politik für Frauen gemacht werden. Dabei sind übrigens gerade auch die Männer gefragt. Gute Politik für Frauen bedeutet nämlich nicht schlechte Politik für Männer. Wer das wirklich glaubt, der outet sich eindeutig als Chauvinist.

Fragt sich nur, was zuerst kommen muss: Politik für Frauen oder Politik mit Frauen? Ganz bestimmt geht das eine nicht ohne das andere. Bereits jetzt schwindet die Zahl der Frauen in deutschen Parlamenten. Es wird höchste Zeit, diesem Trend durch eine fortschrittliche Politik Einhalt zu gebieten. Das geht nur, wenn der Teufelskreis aus institutionalisierter Benachteiligung endlich durchbrochen wird und Frauen nicht immer wieder eingeredet wird, ihr Wort zählte weniger. Eine Frau an der Spitze der Regierung ist schön und gut, doch darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass weiterhin vieles versäumt wird. Auch die Männer müssen sich beim Feminismus mehr zutrauen. Erst wenn die institutionalisierte Gewalt gegen Frauen abgeschafft ist, kann der Kampf gegen individuelle Gewalt an Frauen volle Fahrt aufnehmen.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Klare Kante gegen rechts?

Lesedauer: 7 Minuten

Von der Flüchtlingskrise hat keine andere Partei so sehr profitiert wie die AfD. Auch die Debatte um die Klimakrise konnte die nationalistische Partei nutzen, um sich über Wasser zu halten. Seit Corona schwächelt die Partei zwar, es gibt aber weiterhin eine beträchtliche Zahl an Menschen, die ihr die Stimme geben würde. Viele sind entsetzt darüber, dass eine inzwischen so offen rechtsextreme Partei so viele potentielle Wähler anzieht und sich gleichzeitig bürgerlich nennt. Die Reaktion der wirklich bürgerlichen Parteien ist verhalten bis destruktiv. Anstatt klare Kante gegen rechts zu zeigen, verbrüderten sich Union und FDP in Thüringen mit der AfD. Gemeinsamer Feind ist Rot-Rot-Grün. Immer offener treten Ähnlichkeiten zwischen den drei Parteien auf, die über eine Ablehnung des progressiven Lagers hinausgehen.

Nach der skandalösen Wahl des FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 bezeichnete AfD-Chef Alexander Gauland seine Partei als eine bürgerliche Partei. Er wird seitdem nicht müde, diese Behauptung immer wieder zu wiederholen. Auch als die Personalie Bernd Höcke in den vergangenen Monaten wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rückte, bezeichnete er den offiziellen Faschisten als die Mitte der Partei, auch wenn er sich damit oftmals missverstanden fühlte. Der leidenschaftliche Hundekrawattenträger schwadronierte und träumte von einer in seinen Augen bürgerlichen Mehrheit, die den verhassten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu Fall bringen würde. Nun wissen wir alle in der Zwischenzeit, dass Gaulands feuchte Träume nicht ganz aufgingen: Ramelow ist weiter Ministerpräsident, wenn auch nur auf Abruf, und Höckes Flügel musste sich zumindest pro forma auflösen.

Eine bürgerliche Partei?

Gaulands Behauptung, die AfD sei eine bürgerliche Partei, ist natürlich vollkommener Schwachsinn. Wenn die AfD tatsächlich eine bürgerliche Partei ist, steppe ich nackt durch die Straße und singe Loblieder auf den Kapitalismus. Beide Szenarien sollten uns besser erspart bleiben. Aber Klartext: Die AfD ist eine nationalistische, rückwärtsgewandte und zum Teil offen rechtsextreme Partei. Das hindert die Rechtsaußen-Partei allerdings nicht daran, sich das Gewand des Bürgertums überzuziehen und auch immer mehr Wähler aus diesem Spektrum zu gewinnen.

Denn von manchen inhaltlichen Ansichten her ist die AfD tatsächlich nicht so anders als die Parteien, die ihnen bei der Sitzverteilung in den Parlamenten am nächsten sind. Gerade im bürgerlichen und wirtschaftsliberalen Lager kann die AfD immer mehr punkten. Nicht nur die FDP spinnt fleißig die Legende vom faulen Hartz-IV – Empfänger, der den wahren Leistungsträgern der Gesellschaft auf der Tasche liegt. Sie sehen das Problem weniger im System des Arbeitslosengelds II, sondern viel mehr in dessen Empfängern. Bei der AfD kommt meistens noch die Komponente des Migrationshintergrunds dazu, wenn sie den Begriff Hartz-IV in den Mund nimmt.

Herrenüberschuss und Kinderfeinde

Ähnliches gilt für das Frauenbild, welches in allen Parteien rechts der Grünen vorherrscht. Union und FDP halten sich mit antifeministischen Äußerungen zurück, doch es sind gerade die drei Parteien aus Gaulands bürgerlichem Lager, welche an einem chronischen Mangel an Frauen leiden. So kommen Union und FDP auf nur etwas mehr als 20 Prozent Anteil von Frauen in den Bundestagsfraktionen. Bei der AfD sind es gerade einmal kümmerliche 11 Prozent. Wie kann auch nur eine dieser Parteien es wagen, sich als Volkspartei zu bezeichnen, wenn Frauen, immerhin die Mehrheit in der Bevölkerung, nur so unzureichend vertreten sind?

Auch auf die Fridays-for-Future – Demos im letzten Jahr fanden die drei angeblich bürgerlichen Parteien sehr ähnliche Antworten. Der Kanon des rechten Teils des Parlaments war stets der Vorwurf, es handle sich durch die Reihe um notorische Schulschwänzer. Mit ihren wenigen Jahren an Lebenserfahrung könnten die Kiddies bei dieser hochkomplizierten Debatte überhaupt nicht mitreden, das sei eine Sache für Experten. Man zweifelte außerdem die Ernsthaftigkeit der Bewegung an, weil sich ja angeblich kein einziger dieser Schüler in seiner Freizeit für dieses Thema einsetzte. Beinahe einstimmig kamen Union, FDP und AfD zu dem Ergebnis, die FFF-Demos seien ein Ergebnis einer linksrotgrün-versifften Jugend, die nur so großmaulig auf die Straße ging, weil sie in ihrem Leben noch keinen Cent an Steuern gezahlt hatte. Manche konnten diese Meinung diplomatisch ausdrücken, manche nicht.

Beleidigte Leberwürste

All diese Beispiele zeigen, dass Gauland mit einer Behauptung recht hatte: Die AfD steht Union und FDP tatsächlich näher als dem rot-rot-grünen Lager. Und auch nur so ist zu erklären, warum die Thüringer CDU und FDP so offen mit der Höcke-AfD kooperierte. Denn anders als SPD, Linke und Grüne sind Union und FDP nicht entsetzt über den Aufstieg der AfD – sie sind neidisch.

Apropos Neid: Kürzlich brachte die FDP-Fraktion im Bundestag einen Antrag ein, in dem sie für virtuelle Gerichtsverhandlungen warb. Sie hatte dabei alle anderen Fraktionen gegen sich, keine andere Fraktion konnte dem Antrag etwas abgewinnen. Anscheinend ging der Neid der FDP sogar so weit, dass sie wenigstens einmal anstelle der AfD erleben wollte, wie alle anderen Fraktionen gegen sie sind.

Angebot und Nachfrage

Trotzdem ist die AfD viel mehr als nur abgewanderte Wähler, denen die anderen Parteien nicht mehr bürgerlich genug sind. Die Wählerschaft der AfD ist nicht so homogen wie das bei anderen Parteien der Fall ist. Dennoch lassen sich im groben zwei Gruppen an Wählern ausmachen, welche der AfD ihre Stimmen geben. Da sind zum einen solche Wähler, denen FDP und vor allem die Union nicht mehr konservativ und wirtschaftsliberal genug ist. Wie unzufriedene Kunden haben sie sich ein neues Geschäft gesucht, weil die Qualität im alten nicht mehr gestimmt hat.

Und dann sind da noch solche Wähler, die immer wieder als die „Abgehängten“ von sich reden machen. Das sind die Menschen, die schon lange nicht mehr im Blickwinkel der Politik stehen. Teilweise schuften sie schwer und haben am Ende des Monats trotzdem nicht genug Geld in der Tasche, um sich einen gewissen Lebensstandard zu sichern. Es wird oft über sie gesprochen, wenn sie Glück haben auch zu ihnen, aber seit langem schon nicht mehr mit ihnen. Sie sind wie Kunden, die zigmal in ein Geschäft gingen und dann feststellten, dass das Regal mit ihren Waren stets leer war. Natürlich wandern sie dann zur Konkurrenz ab.

Genau dieser Wählergruppe gilt es ein Angebot zu machen. Wenn man deren Sorge und Nöte, ihre Lebensrealitäten mit allen Widrigkeiten endlich wieder ernstnähme, dann hätten sie auch keinen Grund mehr, einer Partei hinterherzulaufen, die Faschisten und Chauvinisten beherbergt. Ja, es sind Wähler abgewandert, weil die Union nicht mehr konservativ genug ist. Die AfD suggeriert das oft genug als den Schlüssel zu ihrem Erfolg. Das ist er aber nicht. Die AfD lebt davon, abgehängte Wählerschichten ein Angebot zu machen und für sich einzunehmen. Gewinnt man diese Wähler zurück, so haben die wenigsten der Konservativen noch einen Grund, der AfD die Treue zu halten. Mit einer Partei, die mit Müh‘ und Not dann vielleicht noch über die Fünf-Prozent – Hürde käme, könnten diese Wähler nichts mehr reißen.

Ein Bollwerk aus Enttäuschten

Es bringt also nichts, die AfD zu kopieren und eine härtere Gangart im Umgang mit Flüchtlingen anzukündigen. Wäre das der Fall, wäre die Rechtsaußen-Partei längst passé. Viel zu leicht lassen sich andere Parteien einreden, der große Fehler wäre fehlender Konservatismus und eine Abkehr vom Nationalstaat. Diese falschen Ansichten ermöglichen es den wirtschaftsliberalen Kräften in der AfD, die Protestwähler wie ein Bollwerk vor sich herzutreiben. Die neoliberalen Fantasien lassen sich am besten umsetzen, wenn die Partei von möglichst vielen gewählt wird, egal ob sie im Endeffekt von einer Entfesselung des Markts profitieren oder nicht. Würde man die wenigen ernsthaften sozialpolitischen Forderungen der AfD umsetzen, würde das definitiv zulasten derer gehen, die sich von der Politik der letzten Jahre im Stich gelassen fühlen. Solange sie das nicht durchschauen, wird sich an ihrer Situation nichts grundlegendes ändern. Und auch nicht an ihrem Grund, AfD zu wählen.

Jede Partei folgt einer Ideologie. Leider heiligt dabei viel zu oft der Zweck die Mittel. Wähler werden über vieles im unklaren gelassen, nur damit sie einer Partei ihre Stimme geben. Das ist grundsätzlich falsch. Bestimmt gibt es auch bei der Union eine ganze Reihe an Punkten, die einem Großteil der Bevölkerung zugutekommen. Doch gerade markthörige Parteien wie Union und FDP hatten es oftmals schwerer, alle Karten auf den Tisch zu legen, ohne Wähler zu vergraulen. Die AfD kann das besser. Und daher kommt der Neid.


Mehr zum Thema:

Radikalisierung als Selbstzweck

Die Dritten werden die Ersten sein

Rechte Strippenzieher

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!