Aus eigener Erfahrung

Lesedauer: 9 Minuten

Der immer radikalere und absurdere Protest auf deutschen Straßen erscheint vielen wie eine zwangsläufige Entwicklung. Einige der selbsternannten Querdenker und kritischen Geister mögen zwar total versponnen sein, aber an ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung ändert das nichts. Die meisten übersehen dabei, dass die Verschwörungstheoretiker und rechten Hetzer vielen anderen heute nicht mehr als wirr im Kopf gelten. Zügellos hauen sie eine demagogische Aussage nach der nächsten heraus. Immer weniger Menschen wissen währenddessen aus eigener Erfahrung, wie gefährlich dieses Spiel mit dem Feuer ist. Gegen einen immer lauter werdenden Pulk haben sie aber immer weniger Chancen…

In bester Gesellschaft

Auf dem Marktplatz bereitet sich ein Mann auf seinen großen Auftritt vor. Er ist empört. So wie es ist, kann es nicht weitergehen. Er wird seinem Ärger jetzt Luft machen. Aus Paletten und anderen Holzresten hat er sich eine kleine Kanzel gebaut. Ein paar Passanten sind bereits stehengeblieben. Sie sind gespannt darauf, was der gute Mann wohl zu sagen hat.

Dann ist es soweit. Der Mittvierziger schaltet sein Mikro an, damit möglichst viele Menschen ihn hören können. Und dann legt er los. Vor wenigen Wochen hat er aus heiterem Himmel seine Arbeit verloren. Den Job macht jetzt ein junger Mann aus Rumänien. Der spricht gebrochen Deutsch und versteht die Hälfte nicht, wenn man ihm was erklärt. Genau darüber redet der zornige Mann auf dem Marktplatz. Er hat Angst, denn egal, wo er hinsieht, sieht er Fremde. Im Bus und in der Bahn schreien Dunkelhäutige in ihre Handys. An den Straßenecken muss man aufpassen, damit man nicht von einer Meute jugoslawischer Jugendlicher zusammengeschlagen wird.

Der Mann hat sich mittlerweile so in Rage geredet, dass er gar nicht mitbekommt, dass selbst das Ehepaar, das vor einigen Minuten noch halbinteressiert zugehört hat, in der Zwischenzeit kopfschüttelnd das Weite gesucht hat. Niemand hört ihm zu. Diesem wütenden mittelalten weißen Mann im Jahr 2000.

Wäre er nicht vier Jahre später bei einer weiteren Hasstirade gegen Ausländer an einem Herzinfarkt gestorben, der Mann würde sich heute freuen. Würde er zwanzig Jahre später auf seine Kanzel steigen, dann würden ihm tausende begeistert zuhören. Sie würden ihm zujubeln und Transparente in die Luft halten, welche die Botschaft des Mannes unterstrichen. Heute wäre er kein versponnener Einzelgänger mehr. Unter Querdenkern, Rechtspopulisten und anderem Nazigeschmeiß wäre der Herr heute in bester Gesellschaft.

Andere Zeiten

Den Mann aus dieser kleinen Geschichte, gibt es nicht. Also eigentlich gibt es ihn schon, aber für diesen Artikel habe ich ihn erfunden. Ganz bestimmt gibt es in diesem Land aber zig Menschen, die auf diese Beschreibung passen. Unser kleiner antagonistischer Protagonist war bestimmt auch vergangenes Wochenende in Stuttgart dabei. Boshafte Juxfiguren wie ihn findet man inzwischen alle Nase lang. Er protestiert im Schulterschluss mit noch düstereren Gestalten auf den Straßen und fühlt sich dabei wie ein besonders guter Bürger.

Vor zwei Jahrzehnten hätte er mit seinen Hetzereien kaum so eine durchschlagende Wirkung gehabt. Heute sieht das anders aus. Menschen wie er wissen sich heute einer latenten Unterstützung, einer bereitwilligen Empfänglichkeit in der restlichen Bevölkerung sicher. Anders als um die Jahrtausendwende sind heute viel mehr Menschen dazu bereit, solchen Parolen hinterherzulaufen. Einige halten dagegen. Andere schütteln den Kopf. Aber viel zu viele hören zu und nicken.

Nazi-Logik

Vor ungefähr anderthalb Jahren schrieb ich auf diesem Blog von einem alten Mann in der Regionalbahn, der von defekten Zugklos einen kühnen Gedankensprung zu verhätschelten Flüchtlingen machte (https://svendominic.de/eigentlich-war-hitler-ein-versager/). Auch er wurde von vielen nicht ignoriert. Das Gift der selbsternannten Wutbürger ist bereits tief in unsere Gesellschaft vorgedrungen. So tief, dass heute Sprüche salonfähig sind, mit denen man sich noch vor einigen Jahren völlig ins Aus manövriert hätte.

Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD Bernd Baumann nahm am 14. Januar im Bundestag Stellung zur Diskriminierung von Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland. Er wunderte sich laut darüber, warum denn immer mehr solcher Menschen nach Deutschland kämen, wenn es ihnen hier doch angeblich so schlecht ginge. Das ist umgekehrte Nazi-Logik. In den 1940er Jahren propagierten die Nazis, die Juden würden freiwillig das Land verlassen, weil sie in Deutschland keine Perspektive für sich sähen. Schon damals versuchte man, die menschliche Logik mit solch fadenscheinigen Argumenten hinter’s Licht zu führen.

Sein Fraktionskollege Markus Frohnmaier steht Baumann dabei in nichts nach. Zu seinen besten Zeiten kündigte er an, seine Partei würde bald aufräumen und nur noch Politik für das Volk machen. Auch er bediente sich eindeutig der Rhetorik der Nazis. Bereits 1940 erklärte der überzeugte Nationalsozialist Hans Frank stolz, der Führer habe die Juden mit einem eisernen Besen aus dem Lande gefegt (https://www.youtube.com/watch?v=gm6qgMeOkJA).

Diese Menschen konstruieren sich selbst einen schlaff anliegenden Maulkorb, von dem sie sich nach Jahren der Unterdrückung endlich befreien. Es ist richtig, dass solche Parolen sehr lange kein Forum hatten. Es stimmt aber nicht, dass diese Menschen in irgendeiner Art und Weise unterdrückt wurden. Man hörte ihnen einfach nicht zu.

Die Erinnerung verblasst

Besonders in Zeiten, in denen von Mahnmalen der Schande die Rede ist, ist eine Erinnerungskultur wichtiger denn je. Die Menschen dürfen nicht vergessen, welch unendliches Leid sie einst verursacht haben – und jederzeit wieder verursachen können. Aktives und kollektives Erinnern gelingt am besten, wenn es Menschen gibt, die die Erinnerung aus eigener Erfahrung wachhalten. Fast 80 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches sind aber nicht mehr viele Zeitzeugen von damals übriggeblieben. Die allermeisten von ihnen sind in der Zwischenzeit gestorben.

Was bleibt, sind die vielen Denk- und Mahnmale, die Einträge in Geschichtsbüchern sowie die Überlieferungen von Zeitzeugen. Je länger der Schrecken allerdings her ist, desto weniger Menschen gibt es, die uns glaubhaft vor den Gefahren warnen können. Es gibt immer weniger Menschen, die darauf achten, dass sich das Geschehene nicht wiederholt.

Direkter Zusammenhang

Die Zeitzeugen, die Vertriebenen und die Holocaust-Überlebenden waren im wahrsten Sinne des Wortes der Impfstoff, der uns vor den düstersten Ideologien gefeit hat. Doch im Laufe der Jahre hat der Impfschutz nachgelassen, die Viruslast steigt. Immer weniger mahnende Zeigefinger halten Verschwörungstheoretiker und Rechtspopulisten davon ab, ihre kruden Theorien zum besten zu geben. Die wenigen noch lebenden Zeitzeugen machen einen immer geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung aus. Die Identifizierung mit dieser Gruppe schwindet. Viele fühlen sich mit diesen Menschen nicht mehr verbunden.

Und das hat nur bedingt mit steigenden Flüchtlingszahlen zu tun. Der Flüchtlingsstrom aus Syrien und anderen Kriegsgebieten dient den rechten Rattenfängern lediglich als Vorwand, um ihre unmenschlichen Ansichten zu begründen. Für viele waren die eigenen Lebensumstände bereits vor fünfzehn oder zwanzig Jahren prekär. Viele waren bereits vor so langer Zeit frustriert und wütend. Dass sie sich in den letzten Jahren aber sehr viel stärker der politischen Rechten zuwandten, hängt mit dem Sterben von Holocaust-Überlebenden direkt zusammen.

Ungünstiges Zusammenspiel

Der Wiederaufstieg der extremen Rechten ist nämlich kein Selbstläufer. Das Wegsterben von Zeitzeugen reicht nicht aus, damit sich das braune Gedankenschlecht breitmachen kann. Hinzu kommen noch teilweise fatale politische Weichenstellungen, die in den vergangenen Jahren eingeleitet wurden. Es ist die Politik der Missverhältnisse, die die Menschen auf die Barrikaden brachte. Jahrelang haben sie sich in sich hineingeärgert. Sie hatten immer weniger Möglichkeiten, sich politisch auszudrücken und auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Bewegungen wie Pegida und später die AfD boten ihnen endlich wieder ein Forum. Dass sie dafür rechte Ressentiments schlucken mussten, nahmen sie billigend in Kauf.

So entwickelte sich schnell eine Spirale, aus der es inzwischen kaum noch einen Ausweg zu geben scheint. Immer schneller und immer weiter entfernen sich viele von einem Wertekanon, bei dem die Würde aller Menschen im Mittelpunkt stand. Die meisten von ihnen bemerken nicht einmal, dass sie die wunderbare Idee der Demokratie gerade in die Tonne klopfen.

Kommen dazu noch unkontrollierbare äußere Einflüsse wie die Coronapandemie, ist das Desaster komplett. Keine Regierung auf der Welt kann etwas dafür, dass uns dieses Virus seit mehr als einem Jahr heimsucht. Kompetente Regierungen hingegen hätten schnell und besonnen reagiert. Sie hätten womöglich auch Fehler gemacht, aber die grundsätzliche Stoßrichtung hätte gestimmt. Versemmelt die Regierung allerdings einen Schlag gegen das Virus nach dem anderen, so ist das natürlich Wasser auf die Mühlen der politischen Ränder.


Derzeit erleben wir ein wahrlich unglückliches Zusammenspiel von ungünstigen Faktoren. Die Regierung regiert seit vielen Jahren faktisch am Volk vorbei, während uns die Coronapandemie zusätzlich vor schwere Herausforderungen stellt. In einer Zeit, in der die extreme Rechte paradiesische Zustände vorfindet und ordentlich zulegt, gibt es dazu immer weniger Menschen, die aus eigener Erfahrung wissen, wie fatal diese Kombination ist. Wir sollten ihnen zuhören, solange wir können und ihre Worte niemals vergessen.


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